Im Zeitalter der Identität (eBook)
512 Seiten
Klett-Cotta (Verlag)
978-3-608-12209-1 (ISBN)
Yascha Mounk, 1982 in München geboren, ist Politikwissenschaftler und lehrt an der Johns Hopkins Universität in Baltimore. Darüber hinaus hat er die einflussreiche Zeitschrift Persuasion gegründet und schreibt u.a. für die New York Times, den Atlantic und DIE ZEIT. Seit April 2023 gehört er auch zum Herausgeberrat der ZEIT.
Yascha Mounk, 1982 in München geboren, ist Politikwissenschaftler und lehrt an der Johns Hopkins Universität in Baltimore. Darüber hinaus hat er die einflussreiche Zeitschrift Persuasion gegründet und schreibt u.a. für die New York Times, den Atlantic und DIE ZEIT. Seit April 2023 gehört er auch zum Herausgeberrat der ZEIT.
Vorwort zur deutschen Ausgabe
In den ersten Wochen nach Erscheinen der amerikanischen Fassung dieses Buches wurde mir in Interviews immer wieder die gleiche Frage gestellt: »Rechtspopulisten stellen aktuell doch, wie Sie selbst in vielen Büchern und Artikeln geschrieben haben, die wirkliche Gefahr dar. Warum haben Sie sich ausgerechnet zu so einer Zeit entschieden, ein Buch über die Verfehlungen einer neuen Ideologie innerhalb der Linken zu schreiben?«
Die Frage hat mich nicht überrascht. Ich hatte sie mir, als ich darüber nachdachte, dieses Buch zu schreiben, selbst gestellt. Aber ich habe Im Zeitalter der Identität geschrieben, weil ich eine klare Antwort auf sie habe: Ja, ich mache mir weiterhin starke Sorgen über Viktor Orbán und Narendra Modi, über Marine Le Pen und die Alternative für Deutschland (AfD). Aber wenn ein Politiker wie Donald Trump mittlerweile seit fast zehn Jahren auf der politischen Bühne steht, seine Versprechen immer wieder gebrochen hat, in der Bevölkerung höchst unbeliebt ist und in aktuellen Umfragen für die im Herbst anstehenden Präsidentschaftswahlen trotzdem vor Joe Biden liegt …, dann müssen wir vielleicht mal in den Spiegel blicken. Warum haben die Wähler zu den wichtigsten Institutionen, Politikern und Medien in den USA so wenig Vertrauen?
Etwas Ähnliches gilt auch für Deutschland. Die AfD ist eine der radikalsten rechtspopulistischen Parteien in Europa. Sie macht neben extremistischen Slogans auch immer wieder mit internen Querelen von sich reden. Warum also genießt sie gerade einen Höhenflug, der in der Geschichte der Bundesrepublik seinesgleichen sucht – und könnte, wenn man den aktuellen Umfragen traut, dieses Jahr zum ersten Mal an einer Landesregierung beteiligt sein?
Die Antwort auf diese Fragen, so meine Überzeugung, liegt zumindest zum Teil im wachsenden Einfluss neuer Ideen von der Rolle der Identität, mit denen dieses Buch sich auseinandersetzt. Wie ich darstelle, haben wir in den letzten Jahren nichts weniger als die Geburt einer neuen Ideologie erlebt – einer Ideologie, die weithin als »woke« bekannt ist, obwohl ich den Begriff der »Identitätssynthese« für trefflicher halte. Die Identitätssynthese wendete sich, wie die spannende Geschichte ihres Ursprungs belegt, von Anfang an ausdrücklich gegen die Werte unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Sie peilt eine Gesellschaft an, in der Kategorien wie das Geschlecht, die Hautfarbe oder die sexuelle Orientierung nicht etwa an Bedeutung verlieren – sondern stets bestimmen, wie wir einander wahrnehmen und behandeln. Das Problem an ihr ist also nicht, dass sie zu radikal oder kompromisslos für hehre Anliegen wie den Kampf gegen den Rassismus einstünde. Im Gegenteil: Das Problem an ihr besteht in ihrer Unfähigkeit, eine Gesellschaft zu inspirieren, in der wir friedlich zusammenleben, uns wirklich ebenbürtig fühlen und einander als wahre Mitbürger erkennen.
Trotz dieser Makel hat die Identitätssynthese in den letzten zehn Jahren im Rekordtempo an Einfluss gewonnen. Sie hat viele für die Gesellschaft wichtige Institutionen – von Universitäten bis zu öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten – stark verändert. Und sie bestimmt auch hierzulande immer mehr, was es bedeutet, links zu sein.
Ich wurde 1982 in München geboren. Während meiner Kindheit war es die Linke, die sich für universalistische Werte stark machte. Als Kind jüdischer Einwanderer aus Polen, für das Bundeskanzlerhelmutkohl bis zum Alter von 16 Jahren ein einziges Wort zu sein schien, sehnte ich mich nach einem weltoffeneren Deutschland: nach einer Republik, in der die deutsche Abstammung und die christliche Religion nicht mehr die Eintrittskarte für die volle Mitgliedschaft in der Gesellschaft sein würden.
Mit 13 Jahren trat ich der SPD bei, weil ich davon überzeugt war, dass linke Parteien diesen Humanismus am besten verkörperten: Sie waren es, die erkannten, dass Deutschland mittlerweile von Menschen aus vielen verschiedenen Ländern geprägt war. Sie pochten darauf, dass wir einander verstehen könnten, auch wenn wir aus verschiedenen Teilen der Welt stammten. Sie freuten sich über den gegenseitigen kulturellen Austausch, der natürlicher Teil einer vielfältigen Gesellschaft ist.
Heute jedoch beäugen Teile der Linken diese scheinbar unkontroversen Aussagen kritisch. Denn laut der neuen Ideologie, die gerade inmitten unserer Gesellschaft um Einfluss ringt, sind wir im Kern von unserer Identität geprägt. Die ethnische, kulturelle oder sexuelle Gruppe, in die wir geboren wurden, bestimmt unabdingbar, wie wir die Welt wahrnehmen. Wenn Sie an einer anderen Schnittstelle von Identitäten stehen als ich, denn werde ich Sie, so die oft und lautstark wiederholte Behauptung, niemals wirklich verstehen. Und wenn Mitglieder einer privilegierten Gruppe sich von der Kultur einer marginalisierten Gruppe inspirieren lassen, dann gilt dies nicht etwa als Anzeichen, dass das heutige Deutschland endlich weltoffener geworden ist, als es in meiner Kindheit war – sondern stellt eine problematische Form der »kulturellen Aneignung« dar, vor deren Sündhaftigkeit sich jeder brave Progressive in Acht nehmen sollte.
Der Rechtspopulismus gedeiht vor allem dann, wenn die Menschen den wichtigsten Institutionen ihres Landes nicht mehr trauen. Und dieser Verlust an Vertrauen schreitet nicht nur in Indien oder in Brasilien, in Großbritannien oder den USA voran, sondern eben auch in der Bundesrepublik Deutschland. Um das Land langfristig gegen die verantwortungslosen Scharfmacher von rechts außen zu verteidigen, müssen Politiker und kulturelle Einrichtungen, Universitäten und öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten das Vertrauen der Bevölkerung wiedergewinnen. Und um dieses Vertrauen wiederzugewinnen, müssen wir alle uns aus der Falle einer identitären Ideologie befreien, die in den letzten Jahren ohne ernste Diskussion enorm an Macht und Einfluss dazugewonnen hat.
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Soweit meine Antwort auf die Frage, die mir in den ersten Wochen nach Erscheinen dieses Buches immer wieder gestellt wurde. Doch dann kam der 7. Oktober 2023, und diese Frage wurde mir fast nicht mehr gestellt. Das liegt an den furchtbaren Ereignissen jenes Tages – vor allem aber an der schockierenden Reaktion auf diese Ereignisse in Teilen der Linken.
An diesem Tag fielen Terroristen der Hamas auf der Suche nach Juden, die sie foltern und töten könnten, in den Süden Israels ein. Sie enthaupteten einen Israeli mit einem Küchenmesser. Sie ermordeten Besucher eines Musikfestivals, die sich vergeblich in einer Mobiltoilette zu verstecken versuchten. Sie töteten Dutzende Kinder, deren blutverschmierte Körper sie zum Teil so verstümmelten, dass ihre eigenen Familienmitglieder sie nicht identifizieren konnten.
Aber selbst als diese grausigen Details allmählich ans Licht kamen, rangierten die Reaktionen auf den schlimmsten Mord an Juden seit dem Holocaust in vielen Kreisen zwischen seltsam gedämpft und offen jubilierend. Auf einer Einladung zu einer Solidaritätskundgebung mit Palästina, die der Chicagoer Zweig von Black Lives Matter ein paar Tage nach dem 7. Oktober verschickte, war ein verherrlichendes Bild jener Hamas-Paragleiter, die Dutzende Zivilisten ermordet hatten, zu sehen. Hunderte prominente Künstler, Schriftsteller und Wissenschaftler unterzeichneten offene Briefe, die Israel verdammten, ohne die Hamas mit einem Wort zu erwähnen oder die Freilassung der Geiseln zu fordern, die sich weiterhin in der Gewalt der Terrororganisation befanden.
Auch in Deutschland gab – und gibt – es solche Stimmen. So waren in den letzten Wochen antisemitische Vorfälle an Hochschulen von Frankfurt am Main bis Lübeck zu verzeichnen. Und in den Straßen Berlins skandierten Hunderte von Studenten Slogans wie »From the River to the Sea, Palestine must be Free« und – bezeichnend solipsistisch – »Free Palestine from German guilt«.
Die mangelnde Empathie für jüdische Opfer ist umso bemerkenswerter, da sie in so markantem Gegensatz zu den Parolen steht, die große Teile der Linken im Laufe des letzten Jahrzehnts intoniert haben. Sie behaupteten, dass ein Stillschweigen gegenüber Ungerechtigkeiten der Gewalt gleichkäme, und warnten vor den furchtbaren Folgen vage definierter »Mikroaggressionen«. Wenn es aber um den sadistischen Mordrausch der Hamas geht, scheint es, als sei »silence« nicht mehr »violence« – und als könnten Traktate über die Gefahr von Mikroaggressionen nahtlos in Jubelreden über Makroaggressionen münden. Was kann diese bemerkenswerte Gleichgültigkeit gegenüber den von der Hamas begangenen Grauen erklären?
Schlichter Antisemitismus wird wohl etwas damit zu tun haben. Ebenso eine seltsame Unfähigkeit, die moralisch klare Tatsache anzuerkennen, dass die Hamas allein für ihr grausames Pogrom verantwortlich ist, weil andere Tatsachen – wie der breitere Konflikt, der Israelis und Palästinenser seit über einem Jahrhundert gegeneinander ausspielt – moralisch kompliziert sind. Aber besonders in intellektuellen Milieus wurzelt der wichtigste Grund in der neuen Ideologie, die darauf besteht, die ganze Welt durch das Prisma simplistischer Identitätskategorien zu erfassen.
Vier von der Identitätssynthese inspirierte Thesen erklären, warum viele Linke so unwillig sind, das Leiden israelischer Zivilisten anzuerkennen. Erstens glauben viele linke Aktivisten heute, dass die Welt in zwei klare Kategorien aufgeteilt werden kann: Weiße und People of Color. Weiße seien historisch für alles Übel in der Welt verantwortlich. People of Color hingegen müssten stets als Opfer dieser Ungerechtigkeiten verstanden werden. Obwohl sie von einem halben...
Erscheint lt. Verlag | 17.2.2024 |
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Übersetzer | Helmut Dierlamm, Sabine Reinhardus |
Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | Alice Hasters • Althusser • Black lives matter • Buch • Bücher • cancel culture • critical race theory • Das große Experiment • Debatte • Debattenbuch • Demokratie • Denunziation • Der Zerfall der Demokratie • DIE ZEIT • diverse Demokratie • diverse Gesellschaft • Donald Trump • du bist Jude? • Echt • Europapolitik • Francis Fukuyama • Freiheit • Freiheitsrechte • Gesellschaft • Humanismus • Identitäre • Identität • Identitäten. Die Fiktionen der Zugehörigkeit • Identitätsdebatte • Identitätspolitik • Identity trap • Intellektueller • Jean- Paul Sartre • Kulturelle Aneignung • Kwame Anthony Appiah • Linke Politik • Menschenrechte • Michel Foucault • Mündigkeit • Neuerscheinung • Neuerscheinungen 2024 • Neuerscheinung Sachbuch • Postkoloniale Theorie • Postmoderne • Rassentrennung • Sachbuch • Segregation • Totalitarismus • USA • Wer bin ich? • woke • Woke-Bewegung • Wokeness |
ISBN-10 | 3-608-12209-5 / 3608122095 |
ISBN-13 | 978-3-608-12209-1 / 9783608122091 |
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Größe: 3,8 MB
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