Mutproben (eBook)
224 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-31175-4 (ISBN)
Thomas Hitzlsperger, geb. 1982 in München ist ehemaliger deutscher Fußballspieler. Gewinn der Deutschen Meisterschaft mit dem VfB Stuttgart in der Bundesliga-Saison 2006/07, dritter Platz mit der deutschen Nationalmannschaft bei der WM 2006 und Vizeeuropameister 2008. Heute arbeitet er als Vereinsfunktionär beim VfB Stuttgart und als Sportjournalist (ZDF, ZEIT). Darüber hinaus engagiert er sich gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit.
Thomas Hitzlsperger, geb. 1982 in München ist ehemaliger deutscher Fußballspieler. Gewinn der Deutschen Meisterschaft mit dem VfB Stuttgart in der Bundesliga-Saison 2006/07, dritter Platz mit der deutschen Nationalmannschaft bei der WM 2006 und Vizeeuropameister 2008. Heute arbeitet er als Vereinsfunktionär beim VfB Stuttgart und als Sportjournalist (ZDF, ZEIT). Darüber hinaus engagiert er sich gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit. Holger Gertz, geb. 1968, Studium der Sozialwissenschaft und Kommunikationswissenschaft in Bremen und München. Reporter bei der Süddeutschen Zeitung. Ausgezeichnet u.a. mit dem Axel-Springer-Preis 1998, Reporter des Jahres (Medium Magazin) 2010, Sportjournalist des Jahres 2021 und 2023.
Ein Tag im Leben
Eigentlich hätte der 9. Januar 2014 der Tag der Tage sein sollen, ein Donnerstag. Donnerstags erscheint die Zeit. Aber wenn etwas Weltbewegendes drinsteht, was nicht länger zurückgehalten werden kann oder soll, bringen sie schon am Tag vorher eine Meldung. Und wenn die Meldung erst mal draußen ist, ist die Geschichte auch draußen, wenigstens das Thema der Geschichte ist dann in der Welt. Und das Thema dieser Geschichte war ich. So wurde der Tag der Tage um einen Tag vorgezogen, auf Mittwoch, den 8. Januar 2014.
Ich saß in meiner Wohnung in München-Haidhausen, Wörthstraße, und wenn ich heute noch mal das Gefühl von damals in mir wecke, fällt mir die Spannung des Augenblicks ein, die Neugier auf das, was passieren würde. Da war Unterschiedliches, auch Gegensätzliches – so ist es, wenn man sich auf einen point of no return zubewegt. Ein Moment der Extreme: Maximale Anspannung einerseits, aber andererseits auch maximale Erleichterung, dass ich so weit gekommen war. Es war ein langer Weg bis hierhin gewesen, ich war zwischendurch gestrauchelt, ich hatte mich verlaufen. Ich war verletzt gewesen, angeschlagen, nicht nur körperlich. Ich war manchmal nicht richtig weitergekommen. Ich hätte aufgeben können. Ich hätte mich verirren können, auch die Gefahr hatte immer wieder bestanden, in den Jahren davor.
Ein Tag im Leben. So lange hatte ich ihn gedanklich umkreist, zeitweise hatte ich ihn gefürchtet, irgendwann hatte ich ihn dann herbeigesehnt, um mich endlich vom Druck der Erwartung zu befreien. Ich musste sprechen. Keine Ahnung, ob die Leute da draußen mich überhaupt hören wollten – die standen noch komplett unter dem Eindruck des Unfalls von Michael Schumacher, der eine Woche zuvor beim Skifahren so schwer verunglückt war, seitdem lag er im Koma. Keine Ahnung, ob meine Geschichte wirklich so weltbewegend sein und die Vorabmeldung in der Zeit rechtfertigen würde.
Aber ich wollte jetzt sprechen. Und ich konnte jetzt sprechen.
Ich hatte – auch das gehört zur Geschichte dieses Tages – gelernt, dass ich vorbereitet sein muss, damit die Wucht der Ereignisse mich nicht überrollt. Mich nicht und meine Familie nicht. Meine Familie – nicht alle wussten schon länger Bescheid – hatte ich ein paar Wochen vorher informiert, sodass keiner mehr kalt erwischt werden konnte. Ich sagte ihnen, dass ich ein Interview geplant hätte, dass das bald erscheinen würde und dass ich nicht vorhersehen könnte, was danach passiert.
Ich habe dann auch noch den Bundestrainer Joachim Löw angerufen, Teammanager Oliver Bierhoff. Und ich habe eine Kommunikationsberatungs-Agentur aus Köln engagiert, die sich speziell mit Krisen-PR auskennt. Ich wusste: Das muss jetzt alles klug und seriös gemanagt werden. Aber ich wollte mir nichts mehr ausreden lassen, von den Beratern nicht und von niemandem sonst, ich habe ihnen gesagt: Das hier ist mein Plan. Und zu meinem Plan gehörte, dass ich nach dem Tag der Tage abhauen würde. Wenn es raus ist, wollte ich weg sein. Und zwar so weit wie möglich.
Noch saß ich aber in meiner Wohnung in München-Haidhausen. Mich umgab dieses in größter Spannung auch wieder beruhigende Gefühl, an alles gedacht zu haben. Wie ein Pilot, der vorm Start noch mal die Instrumente gecheckt hat. Alles okay. Ich wollte daheim sein, in der Sicherheit meiner Wohnung, ich war darauf eingestellt, die Ereignisse an mir vorbeiziehen zu sehen. Der Tag würde wie ein Film sein, den ich anschaue, in dem ich aber auch selbst mitspiele. Ich mailte und telefonierte ein paarmal mit dem Zeit-Redakteur Moritz Müller-Wirth. Gemeinsam mit der Publizistin Carolin Emcke hatte er mich die vergangenen Jahre fürsorglich begleitet, die beiden waren zu Vertrauenspersonen geworden, ihnen hatte ich auch das Interview gegeben, um das es ging.
8. Januar, gegen Mittag, die Zeit wurde gedruckt, damit wussten jetzt schon Leute in der Druckerei Bescheid. Das ist im Nachrichtengeschäft ein entscheidender Moment, hatte ich gelernt: Die Neuigkeit war also, wenn auch noch im geschützten Raum einer Druckerei, in der Öffentlichkeit. Es gab kein Zurück mehr.
Und Moritz sagte am Telefon: Jetzt müssen wir raus!
Um 11:49 Uhr veröffentliche Zeit online die Meldung, Überschrift: »Thomas Hitzlsperger bekennt sich zu seiner Homosexualität«. Dazu ein Porträtfoto von mir, der Jahreszeit angemessen. Grauer Mantel, hochgeschlagener Kragen. Ein Schutz gegen die Kälte des Januars. Gegen das, was jetzt auf mich einstürmen könnte, hätte der Mantel nicht geholfen, Klamotten sind keine Rüstung. »Als erster prominenter homosexueller Fußballer begründet Hitzlsperger im Zeit-Interview sein langes Schweigen«, stand in der Meldung.
Jetzt waren wir draußen.
Und dann?
Die Meldung war gerade veröffentlicht, da brachen bei der Zeit sämtliche Server wegen Überlastung zusammen.
Die Frage, ob das von Interesse war, was ich zu sagen hatte, war also schnell geklärt. Mein Handy begann zu vibrieren und hörte den Tag über nicht mehr auf. Hey cool. Glückwunsch, super gemacht. Das E-Mail-Postfach lief über, Interview-Anfragen ohne Ende. Aber wir hatten mit der Kommunikationsberatung die Strategie für den Tag ausgearbeitet, wir hatten für alle, die Interviews wollten, Videobotschaften aufgezeichnet, die online gestellt wurden, auf Deutsch und Englisch. Auf der Zeit-Homepage konnte man mich anklicken und sagen hören: »Es ist für meine Familie und für mein Umfeld unwichtig, dass ich über meine Homosexualität spreche. Wichtig ist es nur für die Leute, die homophob sind, andere ausgrenzen aufgrund ihrer Sexualität. Die sollen wissen: Sie haben jetzt einen Gegner mehr.« Das klang fast wie eine Kampfansage, und es sollte auch genauso klingen. Wir hatten darauf geachtet, dass sich bei allem, was ich sage, kein larmoyanter Beiklang untermischt, kein übertriebener Stolz. Nichts Weinerliches, nichts Wichtigtuerisches. Gewappnet sein, darum ging es. Sich nicht treiben lassen. Aber auch keine Heldenrolle annehmen, keine Pose. Stattdessen: sachlich bleiben. Die Entwicklungen unter Kontrolle halten. Ich hatte mich geoutet, ich war nicht geoutet worden, das ist ein gewaltiger Unterschied. Beim Guardian gab es mein Statement auf Englisch, ich habe lange in England gespielt, die Fans und Journalisten nannten mich in England »Der Hammer«, und ich konnte jetzt lesen, wie die Redakteure beim Guardian versuchten, den Fußballer Hitzlsperger mit seinen altbekannten Qualitäten und die Person Hitzlsperger mit ihren neu entdeckten Facetten gedanklich miteinander in Beziehung zu bringen. Sie holten ein wenig weiter aus und probierten es mit einer umfassenderen Überschrift: »Der Hammer hatte nie vor einer Herausforderung Angst«. Und wenn man das eine mit dem anderen verbinden will, dann passte das zu meinem Profil als Spieler und als Mensch.
Ich saß daheim und habe verfolgt, was geschah. Nachrichten gelesen und beantwortet, jede Menge Anrufe, es überschlug und überlagerte sich alles. Später bin ich dann noch zu Freunden gefahren, die im Dreimühlenviertel wohnten.
In der Tagesschau um zwanzig Uhr war die Spitzenmeldung: Sozialmissbrauch von Zuwanderern. Dann der Bundeswehr-Einsatz im Mittelmeer, dann: Griechenland übernimmt die EU-Ratspräsidentschaft. Ich war Nachricht Nummer vier. »Der ehemalige Nationalspieler Thomas Hitzlsperger hat heute ein Zeichen gesetzt«, las die Sprecherin Susanne Daubner. »Er machte seine Homosexualität öffentlich, als erster prominenter Fußballer.« Der Regierungssprecher Steffen Seibert wurde gezeigt, das Thema hing tatsächlich viel höher, als ich gedacht hatte, denn Seibert sprach offenbar in der Bundespressekonferenz: »Wir leben im Großen und Ganzen glücklicherweise im Respekt voreinander. Unabhängig davon, ob der Mitmensch Männer liebt oder Frauen liebt.« Und die Kulturwissenschaftlerin Tatjana Eggeling glaubte, mein Beispiel könne »viele Leute im Fußball ermutigen zu sagen: Ja ich mache es genauso. Ich sag auch, dass ich lesbisch oder schwul bin.« Wenn wir jetzt, ziemlich genau eine Dekade danach, genau hinschauen, stellen wir fest: Diese Hoffnung der Kulturwissenschaftlerin hat sich für den Frauenfußball erfüllt. Für den Männerfußball weniger.
Aber ich hatte diese Hoffnung damals auch. Drei Tage nach dem Coming-out saß ich zum Interview bei Jochen Breyer vom ZDF. Ich sah etwas übernächtigt aus, aber sonst eigentlich wie immer. Die Leute, die mich gesehen haben, haben das jedenfalls gesagt: ich hätte ruhig gewirkt, sehr bei mir. Wenn das so war, dann lag das sicher auch an den Vorbereitungen, die ich getroffen hatte. Und, vor allem, an der Entwicklung, die ich genommen hatte. Das Coming-out war für die Leute vielleicht überraschend, sie sahen nur, wie einer über eine Ziellinie rennt, sie wussten nicht, wo der losgelaufen war. Ich wusste es. Ich kannte meinen Weg.
Bei Jochen Breyer habe ich gesagt: »Das sollte das Ziel sein: Dass ein Spieler in Zukunft in der Kabine genauso über seinen Freund sprechen kann, wie andere über ihre Ehefrauen und Freundinnen sprechen können.« Wenn wir jetzt, zehn Jahre danach, zurückschauen, müssen wir uns fragen: Ist das Ziel erreicht?
Ein paar Tage danach bin ich wirklich erst mal verschwunden. San Francisco, Hawaii, Vancouver. Ich wollte weg sein. Aber ich habe gelernt, dass man so einen Tag und die Bedeutung so eines Tages nicht einfach hinter sich lassen kann. Das innere Bewegtsein reist schließlich immer mit. Was habe ich also gemacht in Hawaii? Mich bei Twitter angemeldet,...
Erscheint lt. Verlag | 7.3.2024 |
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Verlagsort | Köln |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | Aston Villa • Bayern München • Coming out • Das letzte Tabu • Dokumentation Homosexualität Sport • Fußballbuch • Fußball EM • Fußball EM 2024 • fußballer autobiografie • Fußball Europameisterschaft • Fußballstar • Hitzelsberger • Hitzelsperger • Homophobie • Homosexualität • Homosexuelle Fußballer • Lazio Rom • Lebensgeschichte • Mutprobe • Nationalspieler • schwule Fußballer • Sportjournalist • SZ-Reporter • Toleranz • VfB Stuttgart • Vielfalt |
ISBN-10 | 3-462-31175-1 / 3462311751 |
ISBN-13 | 978-3-462-31175-4 / 9783462311754 |
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