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Armut hat System (eBook)

Warum wir in Deutschland eine soziale Zeitenwende brauchen | Ein Plädoyer der Tafel-Geschäftsführerin gegen soziale Ungleichheit
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
256 Seiten
Verlagsgruppe Droemer Knaur
978-3-426-44697-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Armut hat System -  Sirkka Jendis
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»Armut hat System«: Warum wir in Deutschland eine soziale Zeitenwende brauchen - ein Appell der Tafel Deutschland-Geschäftsführerin Sirkka Jendis - Geschäftsführerin der Tafel Deutschland - fordert eine soziale Zeitenwende. Wie kann es sein, dass in einem der reichsten Länder der Welt so viele Bürgerinnen und Bürger auf Unterstützung durch vielfältiges ehrenamtliches Engagement angewiesen sind? Können wir es uns leisten, Teile der Bevölkerung auszugrenzen? Können wir einen Bruch mit dem Gesellschaftsvertrag begehen, der soziale Teilhabe und Chancengerechtigkeit für alle Menschen unabhängig von ihrer Herkunft verspricht? Und welche Konsequenzen hat die wachsende soziale Ungleichheit für unsere Demokratie? Als Geschäftsführerin von Tafel Deutschland schildert Sirkka Jendis in ihrem Sachbuch eindrücklich, was Armut im Alltag für Betroffene bedeutet. Sie analysiert verschiedene Dimensionen von Armut und stellt konkrete Forderungen an die Politik. Sirkka Jendis verbindet ihr persönliches Engagement mit gesellschaftspolitischer Schärfe. So entsteht ein eindrückliches Plädoyer für ein neues Menschenbild und eine wirksame Armutsbekämpfung. Radikales Umdenken ist nötig, wenn es um soziale Gerechtigkeit geht - in der Bildung, zwischen den Geschlechtern und zwischen den Generationen. In Deutschland sind 14,2 Millionen Menschen von Armut betroffen, das sind 16,8 % Prozent der Einwohner Deutschlands. (Quelle: Paritätischer Armutsbericht 2024). Die Tafeln unterstützen zwischen 1,6 und 2 Millionen Menschen mit geretteten und gespendeten Lebensmitteln. Mit 60 000 Helferinnen und Helfern sind die über 970 Tafeln eine der größten sozial-ökologischen Bewegungen in Deutschland.  Sirkka Jendis will mit ihrem Sachbuch erzählen, wie Armut ausgrenzt, einschränkt, stigmatisiert und beschämt. Armut ist nicht selbstverschuldet - wir alle können plötzlich betroffen sein. Vom Staat fordert Jendis echte Armutsbekämpfung, eine mutige Zivilgesellschaft und eine neue Solidarität für armutsbetroffene Menschen.

Sirkka Jendis ist Geschäftsführerin der Tafel Deutschland, dem Dachverband von über 970 Tafeln in Deutschland. Zuvor war die studierte Kommunikationswissenschaftlerin Vorständin des Deutschen Evangelischen Kirchentages, Dozentin und in leitender Funktion in der ZEIT-Verlagsgruppe tätig. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren drei Kindern in Berlin.

Sirkka Jendis ist Geschäftsführerin der Tafel Deutschland, dem Dachverband von über 970 Tafeln in Deutschland. Zuvor war die studierte Kommunikationswissenschaftlerin Vorständin des Deutschen Evangelischen Kirchentages, Dozentin und in leitender Funktion in der ZEIT-Verlagsgruppe tätig. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren drei Kindern in Berlin.

Einleitung

Die Tragödie der Armut


Oft sind es die großen Katastrophen, die sich in unser Gedächtnis einschreiben, seien es Naturkatastrophen wie das Erdbeben in der Türkei 2023, das Hochwasser im Ahrtal im Sommer 2022 oder die Unwetterkatastrophen im Frühsommer 2024, Unglücksfälle wie die Kernschmelzen von Tschernobyl oder Fukushima oder Akte des Terrors. Wer sich an die Anschläge vom 11. September 2001 zurückerinnert, weiß noch genau, wo und wie er davon erfahren hat. Manchmal bleibt sogar die Nachricht an sich beziehungsweise der Moment, in dem sie einen erreichte, am stärksten in Erinnerung, obwohl sie vielleicht nur der Vorbote einer Tragödie war. Für viele Menschen war das der Morgen des 9. November 2016, als die Nachricht von Donald Trumps Wahlsieg bekannt wurde. Zu diesem Zeitpunkt konnte noch kein Mensch ahnen, welche langfristigen und weltweiten Konsequenzen diese Wahl haben würde, es ging einfach nur eine böse Vorahnung damit einher.

Gleichzeitig stellte sich ein Gefühl der Ohnmacht ein und der Wunsch nach genaueren Informationen sowie der unbedingte Drang, etwas tun zu wollen.

Auch wenn die Situationen nicht vergleichbar sind, überkam mich am 24. Februar 2022 ein ähnliches Gefühl. Und waren diese drei Empfindungen wieder da. Mit dem Überfall der russischen Armee auf die Ukraine ließ der russische Präsident Wladimir Putin einen bereits seit 2014 schwelenden Konflikt eskalieren. Ohne Genaueres vorhersehen zu können, war uns in der Geschäftsstelle der Tafel Deutschland in Berlin – und sicher ebenso in den Tafeln vor Ort – sofort klar, dass dieser Angriffskrieg auf einen souveränen europäischen Staat, der direkt an unser Nachbarland Polen und weitere EU-Mitglieder wie die Slowakei, Ungarn und Rumänien grenzt, auch uns sehr schnell betreffen würde. Wir wussten nicht, wann genau, wir wussten nicht, wie, wir wussten nur, dass wir helfen wollten, so gut es ging.

Ich selbst war zu diesem Zeitpunkt eigentlich noch in der Kennenlernphase, hatte ich meine Stelle als Geschäftsführerin der Tafel Deutschland doch erst einige Wochen zuvor angetreten, dreizehn, um genau zu sein. Seit Dezember 2021 bilde ich zusammen mit Marco Koppe unter dem Vorstand die Doppelspitze des Tafel-Dachverbands in Berlin, von wo aus wir nicht nur Ansprechpartner*innen für unsere Landesverbände und die deutschlandweit 975 Tafeln mit ihren rund 2000 Ausgabestellen und 60000 Helfer*innen sind, sondern eben auch mit unserem europäischen Netzwerk, mit Fach- und Interessenverbänden sowie mit Politiker*innen auf kommunaler, Landes- und Bundesebene kommunizieren, Förderprogramme für die Tafeln und Landesverbände kreieren und umsetzen, Geld- und Sachspenden akquirieren, Großspenden verteilen und digitale Portale für eine optimierte Lebensmittelverteilung entwickeln, Seminare für Tafel-Aktive organisieren und kommunikativ die Themen Armut, soziale Teilhabe, Lebensmittelverschwendung und Ehrenamt in die Öffentlichkeit rücken.

Erinnern wir uns zurück: Februar 2022; vorläufiges Ende des zweiten Corona-Winters. Anders als noch in den ersten Lockdowns 2020 waren die Tafeln auf Abstand und die Verteilung von Masken an ihre Kund*innen eingestellt, und dass einzelne Ausgabestellen coronabedingt schließen mussten, kam nur noch in wenigen Ausnahmefällen vor. Doch zwei Jahre Pandemie hatten Spuren hinterlassen, viele Ehren- und Hauptamtliche waren an ihrer Belastungsgrenze, etliche auch darüber hinweg. In dieser erschöpften Lage zeichnete sich in einer atemberaubenden Geschwindigkeit eine Fluchtbewegung aus der Ukraine ab, die nach Schätzungen der Vereinten Nationen zur weltweit größten seit dem Zweiten Weltkrieg anwachsen sollte.

Die Tafeln wuchsen über sich hinaus und versuchten, den Geflüchteten schnell und unbürokratisch zu helfen. Aber die Menge der Geflüchteten, die die Hilfe der Tafeln brauchten, wurde einfach zu groß. Der Moment, den ich auch rückblickend als auslaugend und bitter in Erinnerung habe, war, als in unserer Taskforce, die wir bereits wenige Tage nach Beginn des Krieges gegründet hatten, davon berichtet wurde, dass die ersten Ausgabestellen aufgrund des großen Andrangs Menschen abweisen beziehungsweise einen Aufnahmestopp verkünden mussten. Nicht nur wegen der geflüchteten Menschen aus der Ukraine, sondern auch wegen der massiven Preissteigerungen, die auch in Deutschland diejenigen am heftigsten trafen, die schon zu wenig haben. Nichts ist deprimierender und psychisch belastender für Ehrenamtliche, die helfen wollen, als vor einer akuten Anforderung kapitulieren zu müssen, und sei es auch nur kurzfristig. Und noch schlimmer ist es natürlich für all die Menschen, die aus den unterschiedlichsten Gründen auf Unterstützung angewiesen sind. Jede dritte Tafel verhängte 2022 und 2023 zwischenzeitlich Aufnahmestopps oder führte lange Wartelisten, weil die Nachfrage schlicht zu groß wurde.

Im Verlauf des Buches werde ich noch detaillierter auf diese konkrete Situation eingehen, die in den letzten zweieinhalb Jahren prägend für die Tafel, aber auch für mich persönlich war. An dieser Stelle möchte ich aber zunächst einmal mit zwei Vorstellungen aufräumen, denen ich in Gesprächen (auf den unterschiedlichsten Ebenen übrigens) immer wieder begegne und die unter Menschen, die weder selbst armutsbetroffen sind noch den Tafel-Alltag kennen, weit verbreitet sind. Zum einen haben viele Menschen ein Bild von der Tafel, in dem viel Wahres steckt, das die Situation aber auch romantisiert.

Richtig ist: In den Ausgabestellen treffen hilfsbereite Menschen, die wertvolle Lebensmittel vor der sinnlosen Verschwendung retten, auf Menschen, die dankbar sind für diese Unterstützung in ihrem Alltag. Es geht dabei um sehr viel mehr als einen vollen Teller, es geht um soziale Teilhabe, um ein Gesehen- und Wahrgenommen-Werden. Es werden persönliche Worte getauscht, zum Teil kennen sich die Menschen seit Jahren, und nicht selten wird auch gemeinsam gelacht. Trotzdem ist der Tafel-Alltag nicht immer harmonisch und konfliktfrei. Unsere Kund*innen plagen Sorgen, sie sind häufig erschöpft, krank und gestresst. Sie führen ein Leben, das sie sich in dieser Form nicht ausgesucht haben. Scham und Einsamkeit belasten viele, es kommt zu Missverständnissen, falschen oder nicht erfüllbaren Hoffnungen und Erwartungen, und es fallen in der Anspannung auch einmal harte Worte. Es ist nicht richtig, sich ein Leben in Armut – darum geht es hier im Kern – dank der Tafeln oder anderer gemeinnütziger Organisationen in irgendeiner Weise als leicht und sorgenfrei vorzustellen (»Es muss bei uns ja niemand hungern«) oder es gar mit einer sozialen Hängematte, in der es sich die Menschen bequem machen können, zu assoziieren. Dies ist realitätsfern und fast schon zynisch angesichts der Anstrengungen, die in den Ausgabestellen in allen Teilen Deutschlands jeden Tag in den Gesichtern der Betroffenen zu lesen sind.

Zum anderen existiert noch eine zweite Vorstellung, die sich hartnäckig hält und daher immer wieder richtiggestellt werden muss: Nichtregierungsorganisationen (NGOs) wie die Tafeln sind keine Grundversorger. Wir gehören, genauso wie Charityläden oder Sozialkaufhäuser, nicht zu den staatlichen Versorgungseinrichtungen. Wir sind eine gemeinnützige, spendenfinanzierte Ehrenamtsorganisation, ein eingetragener Verein. Wir sind der größte soziale Lebensmittelretter Deutschlands und genießen einen flächendeckenden Bekanntheitsgrad.

Gerade deshalb ist jedoch vielen Menschen nicht bewusst, dass es keinen rechtlichen Anspruch auf Hilfe durch die Tafeln gibt. Für die Grundversorgung seiner Bürger*innen ist der Staat zuständig, nicht wir. Die Tafeln sind nicht Teil des deutschen Sozialsystems.

Das ist gerade für Menschen, die vor Krieg und Elend geflohen sind, oft zunächst nicht verständlich. Zumal Geflüchtete aus der Ukraine von teilweise komplett überforderten Behörden an uns Tafeln verwiesen wurden, wodurch der Eindruck entstand, dass wir eben doch eine staatliche Einrichtung wären, deren Unterstützung einforderbar ist. Um es mit den Worten der Gründerin der Tafeln in Deutschland Sabine Werth zu sagen: Wir können nur das verteilen, was wir zuvor bekommen. Und doch unterscheiden wir uns von den meisten Foodbanks in Europa, die in der Regel Lebensmittel einsammeln und an bestehende soziale Organisationen und nicht in eigenen Ausgabestellen verteilen. Selbst innerhalb Deutschlands gibt es aber große Unterschiede zwischen den einzelnen Tafeln. So sind zum Beispiel vorrangig in Baden-Württemberg viele Tafeln als Läden organisiert, in denen Kund*innen teilweise täglich einkaufen können, während es im Rest des Landes mehrheitlich Ausgabestellen sind, die einmal oder auch mehrmals in der Woche vorgepackte Lebensmittelkisten beziehungsweise -tüten gegen einen kleinen Betrag verteilen.

Und die Tafelarbeit wird immer professioneller – nicht im Sinne eines kommerziellen Unternehmens, denn das sind wir genauso wenig wie eine staatliche Einrichtung, sondern hinsichtlich unserer Organisation, unserer Abläufe und auch unseres Angebots. Und das geht vielerorts weit über die reine Ausgabe geretteter Lebensmittel hinaus. Manchen Tafeln ist eine Kleiderstube angegliedert, andere bieten zusätzlich Nachhilfe oder Kochkurse an. Deshalb gibt es auch Menschen wie mich, die hauptamtlich für die Tafel arbeiten, um das Ehrenamt zu stärken. Und dennoch bleibt unser Grundsatz gleich: Wir sammeln Lebensmittel, unterstützen Menschen, die es brauchen, und versuchen, ihnen den oft so anstrengenden...

Erscheint lt. Verlag 2.9.2024
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
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ISBN-10 3-426-44697-9 / 3426446979
ISBN-13 978-3-426-44697-3 / 9783426446973
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