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Studienbuch Sprachheilpädagogik -

Studienbuch Sprachheilpädagogik (eBook)

eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
406 Seiten
Kohlhammer Verlag
978-3-17-041867-7 (ISBN)
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Dieses Lehrbuch konzipiert die Sprachheilpädagogik als polyintegrative Handlungswissenschaft, die die Erkenntnisse unterschiedlicher Bezugswissenschaften adaptiert und unter dem Dach der Pädagogik als Leitwissenschaft integriert, um die komplexen Handlungsfelder im Kontext von Sprach-, Sprech-, Kommunikations-, Redefluss-, Stimm- und Schluckstörungen umfassend bearbeiten und die schulische sowie therapeutische Versorgung betroffener Menschen optimieren zu können. Den Herausgebern ist es gelungen, führende VertreterInnen der Sprachheilpädagogik und der Sprachtherapie für Beiträge zu gewinnen. Der Band bietet einen aktuellen Überblick über das Fachgebiet Sprachheilpädagogik, dessen Handlungsfelder und Bezugswissenschaften sowie den Spracherwerb und die häufigsten Störungsbilder im Kindes- und Jugendalter. Das Buch wendet sich an Studierende der Sprachheilpädagogik und Sprachtherapie, an DozentInnen sowie interessierte PädagogInnen und TherapeutInnen aus der Praxis.

Prof. Dr. Andreas Mayer hat den Lehrstuhl für Sprachheilpädagogik an der Fakultät für Psychologie und Pädagogik der LMU München. Dr. Tanja Ulrich ist Professorin für Pädagogik und Didaktik im Förderschwerpunkt Sprache an der Universität Duisburg-Essen.

Prof. Dr. Andreas Mayer hat den Lehrstuhl für Sprachheilpädagogik an der Fakultät für Psychologie und Pädagogik der LMU München. Dr. Tanja Ulrich ist Professorin für Pädagogik und Didaktik im Förderschwerpunkt Sprache an der Universität Duisburg-Essen.

1 Sprachheilpädagogik als Wissenschaftsdisziplin


Andreas Mayer

1.1 Wissenschaft – begriffliche Klärung


Für das in diesem Buch im Mittelpunkt stehende Fachgebiet existieren im deutschsprachigen Raum unterschiedliche Bezeichnungen. Neben den primär therapeutisch ausgerichteten Disziplinen der Sprachtherapie, der Logopädie, der klinischen Linguistik und der Patholinguistik fokussieren die Begriffe Pädagogik bei Beeinträchtigungen der Sprache und der Kommunikation (Lüdtke & Stitzinger, 2015), Sprachbehindertenpädagogik und Sprachheilpädagogik die pädagogische Ausrichtung des Fachs. Der diesem Buch zugrunde gelegte Begriff der Sprachheilpädagogik soll also zum einen die pädagogische Perspektive der Disziplin auf Beeinträchtigungen der Sprache und der Kommunikation deutlich machen, zum anderen verweist der Bestandteil »heil« (gr. holos = ganz) auf die Zielsetzung sprachheilpädagogischen Handelns in der schulischen und therapeutischen Praxis. Dabei darf das »Ganzmachen« aber nicht in einem ausschließlich technologischen Sinn des »Heilens« oder »Reparierens« der sprachlichen Symptomatik verstanden werden, sondern soll zum Ausdruck bringen, dass eine (sprach-)‌heilpädagogische Unterstützung auf eine möglichst umfassende personale und soziale Integration und damit auf ein möglichst gutes gesundheitliches Wohlbefinden, eine stabile Emotionalität, ein tragfähiges Selbstkonzept, schulische und berufliche Teilhabe sowie kulturelle Partizipation abzielt (Speck, 1991).

Da die Sprachheilpädagogik eine wissenschaftliche Fachdisziplin ist, erscheint es sinnvoll, sich zu Beginn dieses Studienbuchs mit dem Wissenschaftsbegriff auseinanderzusetzen und dessen Bestimmungsmerkmale auf die Sprachheilpädagogik zu übertragen, um Aufgaben, Ziele sowie geeignete Arbeitsweisen und Forschungsmethoden des Fachs ableiten zu können, aber auch um die Relevanz generierter wissenschaftlicher Erkenntnisse kritisch reflektieren zu können.

Wissenschaft verfolgt das Ziel, durch Forschung überprüfbare Fragestellungen zu beantworten und dadurch begründetes, nachvollziehbares Wissen zu generieren, zu systematisieren, zu dokumentieren und weiterzugeben, von dem zu einer bestimmten Zeit angenommen wird, dass es der Realität entspricht, das aber dennoch stets hinterfragt werden soll. Auf diese Weise sollen die von einer Fachdisziplin erforschten Phänomene beschrieben, erklärt, verstanden und optimiert werden.

Der Begriff der Wissenschaft referiert demzufolge zum einen auf die Forschungsaktivität des Wissenschaftlers, zum anderen auf das Produkt dieser Tätigkeit, also das systematisierte, theoretisch begründete, überprüfte, zu einem bestimmten Zeitpunkt als wahr beurteilte, nachvollziehbare Wissen über die Natur, die Gesellschaft und den Menschen sowie die Dokumentation und Weitergabe dieses Wissens einschließlich seiner Grundlagen z. B. in universitären Lehrveranstaltungen, auf Tagungen und Kongressen.

Das durch Forschung generierte Wissen bezieht sich in den einzelnen Wissenschaftsdisziplinen auf einen bestimmten Realitätsausschnitt, dessen Phänomene beschrieben, erklärt, verstanden und optimiert werden sollen. Dabei darf der in diesem Zusammenhang verwendete Begriff der Realität aber nicht auf materielle, quantifizierbare Fakten reduziert werden. Vielmehr handelt es sich auch bei Phänomenen des subjektiven Erlebens, der subjektiven Wahrnehmung, bei Emotionen, Einstellungen, Haltungen und Werten, die durch Befragungen und Beobachtungen in Erfahrung gebracht und v. a. qualitativ interpretiert werden, um reale überprüfbare Tatsaschen innerhalb des Objektbereichs einer Disziplin.

Um wissenschaftliche Fragestellungen beantworten und Wissen generieren zu können, orientieren sich die jeweiligen Fachdisziplinen an unterschiedlichen grundlegenden Forschungsparadigmen. In Abhängigkeit vom jeweiligen Gegenstandsbereich und der grundlegenden Ausrichtung eines Fachs kommen dabei unterschiedliche wissenschaftliche Methoden zum Einsatz. Traditionell werden in diesem Zusammenhang Natur-‍, Ingenieurswissenschaften, Geistes- und Sozialwissenschaften unterschieden, die sich aufgrund ihrer spezifischen Untersuchungsgegenstände und der damit verbundenen unterschiedlichen Fragestellungen und Zielsetzungen durch unterschiedliche forschungsmethodische Herangehensweisen charakterisieren lassen. Während sich naturwissenschaftliche Fächer (z. B. Physik, Biologie, Chemie) und Ingenieurswissenschaften (z. B. Maschinenbau, Elektrotechnik) einem quantitativ-erklärenden Forschungsparadigma verpflichtet fühlen und ihre Fragestellungen durch empirische Untersuchungen beantworten, steht in geisteswissenschaftlichen Disziplinen (z. B. Theologie, Geschichtswissenschaften, Jura, Literaturwissenschaften) das qualitativ-verstehende Paradigma im Vordergrund.

Das quantitativ-erklärende Paradigma zielt darauf ab, ausgehend von einer Hypothese durch die z. B. mittels Beobachtung, Versuch oder Experiment gewonnenen Daten sowie deren statistischer Aufbereitung und quantitativer Auswertung von Einzelfällen zu abstrahieren, allgemeingültige Gesetze zu formulieren und auf diese Weise die Natur zu erklären (Stein & Müller, 2016). Durch eine Zerlegung der komplexen Realität sowie die Identifizierung und Isolierung immer kleinerer Funktionseinheiten und Variablen sollen naturwissenschaftliche Phänomene beschrieben sowie Zusammenhänge identifiziert und wechselseitige Einflüsse erklärt werden. Im Gegensatz dazu fokussiert das qualitativ-verstehende Paradigma der Geisteswissenschaften mentale Objekte (wie z. B. historische Prozesse, Emotionen) und lenkt den Blick auf die Komplexität der Realität. Insbesondere geht es dabei auch darum, die subjektive Sinnhaftigkeit des Handelns einzelner Menschen oder sozialer Gruppen, die subjektiven Beweggründe, Haltungen, Werte, Einstellungen der Handelnden herauszuarbeiten und zu verstehen. Das bedeutet, dass geisteswissenschaftlich orientierte Disziplinen ihre Erkenntnisbemühungen auf das Besondere und Einmalige in spezifischen sozialen Kontexten ausrichten, dass sie insbesondere die von einzelnen Menschen oder sozialen Gruppen subjektiv erlebte konkrete Wirklichkeit im Blick haben (Schad, 2014).

Da es sich dabei um Forschungsgegenstände und Phänomene handelt, die nur eingeschränkt quantifiziert werden können, wissenschaftliches Arbeiten im Kontext dieses Paradigmas v. a. auf das Verstehen der Objektgegenstände abzielt, werden in den Geisteswissenschaften insbesondere Methoden der qualitativen Interpretation, z. B. der Hermeneutik favorisiert, mit Hilfe derer Ereignisse, Situationen, Lebens- und Sinnzusammenhänge interpretiert und verstanden werden sollen. Traditionell kommt eine hermeneutische Vorgehensweise z. B. bei der Auslegung von juristischen, theologischen, philosophischen und literarischen Texten zum Einsatz.

Die den Natur- und Geisteswissenschaften zugrunde gelegten Paradigmen und die daraus resultierenden unterschiedlichen Forschungsmethoden sind notwendige Konsequenzen der unterschiedlichen Objektbereiche und Fragestellungen. »Die Bestimmung des Objektbereichs ist unmittelbar gekoppelt an die Methoden seiner Erforschung« (Schad, 2014). Während Naturwissenschaften auf die Erklärung der Natur abzielen, versuchen Geisteswissenschaften das Seelenleben zu verstehen (Stein & Müller, 2016).

In enger Verbindung mit diesen beiden grundlegenden wissenschaftstheoretischen Paradigmen (quantitativ-erklärend vs. qualitativ-verstehend) stehen bei der Generierung wissenschaftlicher Erkenntnisse die beiden prinzipiell unterschiedlichen, aber sich nicht gegenseitig ausschließenden forschungsmethodischen Vorgehensweisen der Deduktion und der Induktion. Während die am qualitativen Forschungsparadigma orientierten geisteswissenschaftlichen Disziplinen eher eine induktive Methodik favorisieren, ist die Deduktion kennzeichnend für das quantitative Forschungsparadigma.

Bei einer deduktiven Herangehensweise bildet eine auf der Grundlage des aktuellen Forschungsstandes entwickelte Theorie über ein Phänomen des von der Disziplin beforschten Realitätsausschnitts den Ausgangspunkt des Forschungsprozesses. Das Ziel besteht darin, diese vorab formulierte Theorie durch die Überprüfungen ihrer zentralen Vorhersagen (Forschungshypothesen) zu bestätigen, zu widerlegen oder zu modifizieren. Zu diesem Zweck werden mittels Beobachtungen, Experimenten oder Tests Daten erhoben, die nach einer statistischen Analyse und Interpretation eine Aussage ermöglichen sollen, ob es sich um theoriekonforme oder theoriekonträre Ergebnisse handelt. Die deduktive Vorgehensweise ist demzufolge eine theoriebestätigende (hypothesenprüfende) Vorgehensweise.

Theorie: Schwierigkeiten mit dem Leseverständnis liegen lexikalische Defizite zugrunde.
Hypothese: Kinder mit lexikalischen Defiziten schneiden bei...

Erscheint lt. Verlag 31.10.2023
Verlagsort Stuttgart
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Pädagogik Sonder-, Heil- und Förderpädagogik
Schlagworte Sonderpädagogik • Sonderpädagogische Didaktik • Sprachtherapeutischer Unterricht • Sprachtherapie
ISBN-10 3-17-041867-X / 317041867X
ISBN-13 978-3-17-041867-7 / 9783170418677
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