Gewalt in der häuslichen Pflege (eBook)
118 Seiten
Kohlhammer Verlag
978-3-17-042829-4 (ISBN)
Barbara Baumeister ist Gerontopsychologin und Projektleiterin sowie Dozentin am Departement Soziale Arbeit der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW).
Barbara Baumeister ist Gerontopsychologin und Projektleiterin sowie Dozentin am Departement Soziale Arbeit der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW).
1 Gewalt im Alter: Eine gesellschaftliche Herausforderung
T Überblick
Gewalt an alten Menschen in der häuslichen Betreuung und Pflege wird heute international als eine gesellschaftliche Herausforderung anerkannt. Bis vor etwa 30 Jahren wurde Gewalt im Alter noch kaum beachtet, sie fand im privaten familiären Bereich oder in Alters- und Pflegeheimen statt und Informationen drangen nur zögerlich in das gesellschaftliche Bewusstsein. Tatsächlich jedoch kommen Misshandlung und Vernachlässigung von älteren Menschen, ebenso wie häusliche Gewalt an Kindern oder Frauen, nicht selten vor, insbesondere bei hilfebedürftigen abhängigen Menschen im Alter. Menschen im Alter sind in besonderem Maße eine vulnerable Gruppe in unserer Gesellschaft (▸ Kap. 1.1).
Um Studien über Misshandlung und Vernachlässigung im Alter vergleichbar zu machen, ist es notwendig, in diesem Kontext einen gemeinsamen Gewaltbegriff zu verwenden. Neben der Begriffsklärung wird im folgenden Kapitel auf das Ausmaß an Gewalt in häuslichen Betreuungssettings eingegangen (▸ Kap. 1.2). Untersuchungen zeigen, dass in Beziehungen, die von massiver Abhängigkeit geprägt sind, häufiger ein Gewaltzyklus entsteht als in egalitären Beziehungen. Die geschützte familiäre Privatsphäre erhöht das Risiko zusätzlich. Ursachen und Risikofaktoren sowie die Auswirkungen von Misshandlung und Vernachlässigung auf alle Betroffenen werden in diesem Kapitel ausgeführt (▸ Kap. 1.3).
1.1 Vulnerabilität älterer Menschen
Menschen im Alter (60 Jahre und mehr) sind nach Görgen et al. (2012a, 21) kriminologisch insgesamt weniger von Gewalt betroffen als Menschen in jüngerem Alter, da sie sich weniger im öffentlichen Raum bewegen. Das Risiko, Opfer von Gewalt zu werden, steigt jedoch mit dem Grad der Pflegebedürftigkeit und einer zunehmenden Abhängigkeit und Verletzlichkeit im höheren Alter (Mahler 2020, 35; DIMR 2017, 19; Görgen et al. 2012a).
Die Lebenssituation und -perspektiven von älteren Menschen unterscheiden sich von denen jüngerer Menschen in vielerlei Hinsicht. Mit zunehmendem Alter werden körperliche und psychische Veränderungen wirksamer, auch wenn Altern primär ein individueller Prozess ist. Um auch im Alter trotz gesundheitlicher Einschränkungen in der gewohnten Umgebung verbleiben zu können, werden Hilfestellungen notwendig, die mehrheitlich durch Angehörige geleistet werden.
Zum Selbstverständnis der meisten Menschen gehört es, Aktivitäten des täglichen Lebens selbstbestimmt und selbständig auszuführen. Ist diese Fähigkeit jedoch beeinträchtigt und wird Unterstützung notwendig, entsteht ein Gefühl von Abhängigkeit, was Einfluss auf die persönliche Verletzlichkeit hat. Das plötzliche Eintreten von Betreuungsbedarf und der Beginn der Übernahme von Betreuungs- und Pflegeaufgaben durch Angehörige stellen für alle Beteiligten ein kritisches Lebensereignis dar. Verringerte Widerstandskraft und krankheitsbedingte Einschränkungen machen ältere Menschen in besonderem Maße zu einer vulnerablen Gruppe in unserer Gesellschaft. Mit Betreuungs- und Pflegebedürftigkeit verbunden ist das Angewiesensein auf Dritte und damit auch eine Verletzbarkeit durch die pflegende oder betreuende Person oder durch weitere Personen aus dem Umfeld. Ergebnisse aus der Studie »Kriminalität und Gewalt im Leben alter Menschen« (Görgen 2010, zit. nach Görgen et al. 2012a, 4) zeigen, dass Misshandlung und Vernachlässigung in der häuslichen Pflege eine hohe Prävalenz aufweisen und dass es sich zudem um ein spezifisches Problemfeld handelt, das sich von anderen Feldern der Gewaltkriminalität deutlich unterscheidet. Deswegen ist es notwendig, das Phänomen gesondert zu betrachten.
Die Aktivitäten des täglichen Lebens von Menschen setzen vielfältige Selbstversorgungskompetenzen voraus. Die Betreuung und Unterstützung durch Angehörige beginnt häufig bereits vor den amtlich anerkannten Pflegeleistungen (Nowossadeck, Engstler & Klaus 2016). Angehörige helfen bspw. bei einfachen Haushaltsarbeiten, erledigen Einkäufe, unterstützen bei administrativen Arbeiten, leisten allgemein Beziehungs- und Emotionsarbeit. Für eine gute Betreuungsarbeit müssen die individuellen Bedürfnisse, Vorlieben und Wünsche der betreuungsbedürftigen Person berücksichtigt werden. Betreuungsleistungen lassen sich nicht auf eine bestimmte (ökonomisierbare) Zeitdauer festlegen. »Nicht die – aus fachlicher Perspektive – nötige normierte Leistung, sondern die Bedürfnisse der zu betreuenden Person stehen im Mittelpunkt« (Pardini 2018, 53).
Eine weit verbreitete Unterscheidung der Selbstversorgungskompetenzen bieten die ADL (Aktivitäten des täglichen Lebens) respektive die IADL (instrumentelle Aktivitäten des täglichen Lebens) (Lawton & Brody 1969), die im Folgenden erläutert werden. IADL beziehen sich auf Aktivitäten, die das tägliche Leben unterstützen und wichtige Bestandteile des häuslichen und gemeinschaftlichen Lebens sind. Diese können jedoch auch leicht an andere Personen delegiert werden. Für die Einstufung der IADL sind folgende Aktivitäten ausschlaggebend.
Instrumentelle Aktivitäten des täglichen Lebens (IADL)
- ·
selbständig Essen zubereiten
- ·
selbständig telefonieren
- ·
selbständig einkaufen
- ·
selbständig Wäsche waschen
- ·
selbständig Hausarbeit erledigen
- ·
sich selbständig um Finanzen kümmern
- ·
selbständig öffentliche Verkehrsmittel benutzen
Demgegenüber sind basale ADL Aufgaben, die sich auf die Pflege des eigenen Körpers beziehen und für das Überleben und Wohlbefinden notwendig sind. Der Begriff hilft betreuenden Personen zu definieren, wie viel Unterstützung eine Person benötigt respektive wie sich ihre Einschränkungen auf den Alltag auswirken. In Studien zum Ausmaß des Hilfebedarfs respektive zum Belastungserleben pflegender Angehöriger wird oftmals zwischen ADL und IADL unterschieden (vgl. Kaschowitz, 2021).
Aktivitäten des täglichen Lebens (ADL)
- ·
selbständig essen und trinken
- ·
selbständig ins oder aus dem Bett steigen oder von einem Sessel aufstehen
- ·
sich selbständig an- und ausziehen
- ·
selbständig zur Toilette gehen
- ·
selbständig baden oder duschen
Alle Menschen sind im Verlauf ihres Lebens mehrmals Situationen oder Phasen ausgesetzt, in denen sie eine erhöhte Verletzlichkeit haben. Der Begriff Vulnerabilität bezeichnet die Verwundbarkeit eines Menschen gegenüber negativen Einflüssen. Diese kann sowohl genetisch als auch kulturell oder biografisch erworben sein. Resilienz bezeichnet das Gegenteil von Vulnerabilität. Resilienz ist die Fähigkeit, gegenüber Gefährdung Widerstand zu leisten (Schelling 2015). Das Risiko für Vulnerabilität verstärkt sich im Alter und insbesondere im hohen Alter und einer damit verbundenen Multimorbidität. In der Medizin wird in diesem Zusammenhang auch von Gebrechlichkeit (Frailty) gesprochen. In der Psychologie wird Vulnerabilität als eine herabgesetzte Widerstandsfähigkeit gegenüber Belastungen in der Person-Umwelt-Beziehung bezeichnet. Diese führt dazu, dass das Auftreten einer Störung oder Krankheit begünstigt wird, wenn eine Person bestimmten Reizen ausgesetzt ist (Schelling 2015).
Nach Schröder-Butterfill und Maranti (2006) setzt sich Vulnerabilität aus verschiedenen Risiken zusammen: dem Risiko, einer Gefahr ausgesetzt zu sein, dem Risiko, dass diese Gefahr eintritt, und dem Risiko, sich gegen die Gefahr nicht verteidigen zu können. Als Gefahr können für das Alter typische Umstände angesehen werden wie biologische, kognitive Veränderungen, die die Leistungsfähigkeit herabsetzen, oder auch der Verlust von Sozialpartner*innen. Es können auch Gefahren sein, denen gegenüber sich die Widerstandskraft im Alter vermindert wie bspw. Gewalterfahrungen. Die Möglichkeiten, mit Gefahren umzugehen, sind insbesondere von den individuellen Ressourcen wie ökonomische, Bildungs-, soziale Ressourcen, Leistungsfähigkeit und Gesundheit sowie den individuellen Anpassungsstrategien abhängig.
Die Beeinträchtigungen, die zu Pflegebedürftigkeit führen, sind unterschiedlich und fordern auch hinsichtlich der Unterstützung verschiedene Aufgaben der betreuenden Person. Wilz und Pfeiffer (2019, 4) unterscheiden vier Formen der Beeinträchtigung bei älteren pflegebedürftigen Menschen:
- ·
Beeinträchtigungen der kognitiven...
Erscheint lt. Verlag | 11.10.2023 |
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Mitarbeit |
Herausgeber (Serie): Rudolf Bieker, Heike Niemeyer |
Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sozialwissenschaften ► Pädagogik ► Sozialpädagogik |
Schlagworte | Alter • Beratung • Konflikt |
ISBN-10 | 3-17-042829-2 / 3170428292 |
ISBN-13 | 978-3-17-042829-4 / 9783170428294 |
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