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Machtsensibilität in der Sozialen Arbeit -  Melanie Misamer

Machtsensibilität in der Sozialen Arbeit (eBook)

Grundwissen für reflektiertes Handeln
eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
181 Seiten
Kohlhammer Verlag
978-3-17-042187-5 (ISBN)
Systemvoraussetzungen
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Fachkräfte der Sozialen Arbeit haben eine Machtposition gegenüber besonders vulnerablen Personen. Eine Sensibilisierung für diesen Machtstatus - möglichst bereits im Studium - ist deshalb unabdingbar für die professionelle Praxis. Denn die Gefahr eines Machtmissbrauchs besteht für Sozialarbeitende in jedem Moment ihres beruflichen Alltags, und das nicht nur - wie man vermuten könnte - bei Interventionen unter Zwang wie der Inobhutnahme von Kindern. Mit Macht geht also eine besondere Verantwortung einher. Das Buch beschreibt das Handlungskonzept Machtsensibilität als eine konstitutive Empfindsamkeit gegenüber der Machtanwendung. Dabei vermittelt es u.a., wie wichtig dafür ein Wissen um den eigenen Status ist, welche Korrumpierungsmechanismen existieren, welches Eigenwirkpotenzial Macht hat und wie unterschiedlich Machtanwendung wahrgenommen wird.

Dr. Melanie Misamer ist Professorin für Methoden und Konzepte Sozialer Arbeit in der Gesundheitsförderung an der Hochschule für angewandte Wissenschaften und Kunst Hildesheim/Holzminden/Göttingen.

Dr. Melanie Misamer ist Professorin für Methoden und Konzepte Sozialer Arbeit in der Gesundheitsförderung an der Hochschule für angewandte Wissenschaften und Kunst Hildesheim/Holzminden/Göttingen.

1 Um was geht es bei Macht?


Bezüglich des bisherigen Wissens über Macht und ihre Mechanismen wird stark von Bezugswissenschaften profitiert, z. B. von der Sozial- oder Organisationspsychologie oder von interdisziplinärem Wissen, bei dem sich verschiedene Disziplinen zusammengetan und sich Macht und Machtdynamiken angeschaut haben. Es gibt – weniger, aber auch – aus der Sozialen Arbeit disziplinär eruiertes Wissen zum Thema Macht. Dieses Wissen kann entweder schlüssig theoretisch hergeleitet oder aber (besser noch) empirisch eruiert sein. Wir verfügen also insgesamt über einen guten Fundus an theoretischen und empirischen Informationen aus verschiedenen Bereichen. Weil Macht ein universelles Thema ist (siehe die Universalität der Macht nach Russell, 1947 oder Keltner, 2016)1 und die Grundmechanismen in verschiedenen Bereichen komparabel sind (sie zeigen sich in ihren Ausführungen je Bereich nur etwas unterschiedlich), können sowohl disziplinäre als auch interdisziplinäre und bezugswissenschaftliche Informationen zur Macht genutzt werden, um einen Überblick über das Thema zu bekommen.

Bertrand Russell sprach davon, dass jeder Mensch mehr oder weniger stark nach Macht strebt. Er sagt, dass Tiere aufhören zu jagen, wenn sie satt sind. Wenn der Lebensunterhalt von Menschen gesichert ist, hören sie deshalb noch nicht auf, tätig zu sein. Dieser Zug »mehr zu wollen«, findet sich also bei jedem Menschen mehr oder weniger stark ausgeprägt. Machtstreben kann damit als ein menschlicher Wesenszug interpretiert werden (Russell, 1947). Macht ist zudem annähernd überall zu finden, im Beruf, in Partnerschaften, unter Freundinnen/Freunden oder in der Kindererziehung. Laut Nöllke (2015) gehört der Umgang mit Macht zu den grundlegendsten Erfahrungen des Menschseins. Denn wer Macht hat, bestimmt, was geschieht. Jeder Mensch hat in irgendeiner Weise einmal Macht ausgeübt. Und jeder Mensch hat an irgendeiner Stelle einmal erfahren, wie es ist, wenn Macht auf ihn/sie ausgeübt wird. Dementsprechend hat das Streben nach Macht und ihre ungefilterte Anwendung nach Nöllke (2015) auch immer etwas Anmaßendes (ebd.). Denn der Begriff »Macht« ist in unserem Denken eher negativ konnotiert und wird meist in Verbindung mit Zwang, Unterdrückung (Schmalt & Heckhausen, 2010) oder Machtmissbrauch (Knauer & Hansen, 2010) in Verbindung gebracht. Innerhalb sozialer Beziehungen zeigen sich bei den miteinander interagierenden Personen unterschiedliche Chancen und Möglichkeiten, eigene Bedürfnisse und Ziele durchzusetzen. So sind soziale Beziehung häufig asymmetrisch (Scherr, 2016), eine Person ist »schwächer« (auf die potenziell Macht ausgeübt wird) und eine Person ist »stärker« (sie übt potenziell Macht auf andere aus, s. z. B. Schubert & Klein, 2020). Diese negative und machiavellistische Auffassung des Machtbegriffs ist insbesondere im deutschen Raum, stark durch geschichtliche Ereignisse geprägt (Scholl, 2012). Im Alltagssprachgebrauch wird Macht daher oft mit Destruktivität gleichgesetzt. Sie wird, so Schmid (1996), auch in Studien mehrheitlich negativ konnotiert und damit eindimensional dargestellt. Im angloamerikanischen Raum gibt es dagegen die Unterscheidung ›force‹ (negative Konnotation) im Vergleich zu ›power‹ (neutrale Konnotation, ebd.).

Wichtige Information

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Die Beziehung zwischen Sozialarbeitenden und Adressierten ist in den allermeisten Fällen ebenfalls asymmetrisch. Macht haben Sozialarbeitende durch ihren legitimen Status in der spezifischen Interaktionssituation (Dilthey & Drescher, 2006). Z. B. könnten sie in der Jugendhilfe mit den Jugendlichen im Einvernehmen beschließen, dass Teile des Taschengelds der Jugendlichen für durch sie entstandene Schadensregulierungen verwandt werden kann, sollte das nötig werden. Das ist nach aktuellem rechtlichen Stand innerhalb des Verfügungsrechts des jungen Menschen über sein Taschengeld eine mögliche Absprache, die getroffen werden kann.

Der Status von Sozialarbeitenden wird in der Regel allseits akzeptiert (ebd.). Sie verfügen über verschiedenste Machtmittel. Im obigen Beispiel wäre das die (vorher einvernehmlich abgesprochene) Möglichkeit, den Jugendlichen ihr Taschengeld vollständig oder bei durch sie entstandenen Schäden — um diese anteilig zu bezahlen — nur teilweise auszuzahlen. Diese Maßnahme kann natürlich fachlich diskutiert werden und es gäbe auch alternative Vorgehensweisen. Es kann hierbei schlussendlich jedoch nicht von dem oben genannten negativen Machtverständnis ausgegangen werden, das Adressierte zu etwas zwingt oder sie unterdrückt. Macht kann — und muss professionell und verantwortlich — zum Nutzen Adressierter genutzt werden. Das heißt für dieses Beispiel, dass Jugendliche durch die obige Absprache Mechanismen lernen, die für ihre spätere eigenständige Lebensführung wichtig sind — hier im Fokus steht das Einstehen für Schaden und das Verantwortungsgefühl für dessen Wiedergutmachung.

1.1 Was ist Macht und wie funktioniert sie?


Macht wird hier verstanden als die Fähigkeit »auf das Verhalten anderer Einfluss zu nehmen« (Argyle, 1990, S. 248).

Macht findet sich also in allen Lebensbereichen und sozialen Beziehungen (Mitchell, Hopper & Daniels, 1998). Das betrifft die Eltern-Kind-Beziehung genauso wie Freundschaften, Partnerschaften, auch im Kollegium und die Arbeit mit Adressierten. Alle diese Parteien wirken gegenseitig aufeinander ein – auf die eine oder andere Weise. Es ist ihnen nur oft nicht bewusst, weil Machtnutzung vorwiegend mit größeren politischen Situationen, Gewalt oder Krieg in Zusammenhang gebracht wird und weniger mit alltäglichen Interaktionen. Die Grundlage von Macht ist eine Abhängigkeit von den Ressourcen anderer. Ressourcen anderer können materielle Mittel, aber auch Immaterielles wie Zuwendung, Aufmerksamkeit oder Informationen sein. Das bewirkt eine Asymmetrie zwischen den Personen, auf die Macht ausgeübt wird, und den Personen, die die Macht ausüben (Keltner, 2016). Macht hängt zudem von der Situation und den gegebenen Möglichkeiten ab (Buschmeier, 1995).

Beispiel: Macht ist situationsabhängig

Beispielsweise hat die Firmenleitung Macht in der Firma, während sie privat im Tennisclub nur eine Nebenrolle spielt, weil andere hier talentierter sind. So ist Macht grundsätzlich nicht an Personen, sondern an den Status (als Sozialarbeitende) oder die Situation (Interaktion mit Adressierten im Arbeitskontext) geknüpft.

Es gibt keinen allgemeinen Konsens, wie »Macht« zu definieren ist. Klassische negativ konnotierte Machtdefinitionen liefern z. B. Weber oder Schmalt.

Nach Weber ist Macht die Chance »innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstrebungen durchzusetzen« (Weber, 1922; 2005, S. 38). Machtverhältnisse bestehen, so Schubert und Klein (2020), aus wechselseitigen Beziehungen, in denen eine Seite mehr Macht besitzt, sodass sie Einfluss nehmen kann. Die andere Seite wiederum muss dies akzeptieren, was sich beispielsweise durch fehlenden Widerspruch, Zwang zur Duldung oder Befolgung zeigt (▸ Abb. 2). Eigene Ziele können also durchgesetzt werden. Dabei bedarf es keiner Zustimmung des Gegenübers und kann auch gegen den Willen des Gegenübers und trotz Widerstandes geschehen, weil Abhängigkeits- oder Überlegenheitsverhältnisse das bedingen (ebd.).

Solche durch Dominanz und Submission geprägte Definitionen finden sich interdisziplinär im Vergleich zu eher neutralen Definitionen (z. B. Argyle, 1990; Russell, 1947; Scholl, 1991) häufiger. Das Thema Dominanz und Submission wird in Kapitel 2 bei der Behandlung des Themas Ohnmacht tiefergehend thematisiert (▸ Kap. 2).

Macht als einseitige Kontrolle auch gegen den Willen des Gegenübers

Durch einseitige Kontrolle, auch gegen den Willen des Gegenübers, entsteht ein verhältnismäßig stabiles System von Dominanz und Submission, das die Herausbildung von Rangordnungen ermöglicht.

Was ist Macht in dieser Lesart?

Das Vermögen, bei anderen — auch gegen deren Widerstand (also gegen deren Willen) — Handlungen zu erzwingen.

Wie funktioniert diese Form von Macht?

Einseitige Kontrolle (Dominanz und Submission): Machtanwendung mit dem Ziel, das Erleben und Verhalten anderer auch gegen deren Willen zu verändern.

Abb. 2:Die klassische Sicht von Macht: Destruktive Macht und Ohnmacht

Schmalt und Heckhausen (2006) resümieren Machtdefinitionen und kommen zu dem Schluss, dass »[v]‌on Macht [...] offenbar immer dann zu sprechen [ist], wenn es darum geht, dass jemand in der Lage ist, einen anderen zu veranlassen, etwas zu tun, was er sonst nicht tun würde« (S. 213). Es wird in den vorhandenen Machtdefinitionen meist jedoch nicht unterschieden zwischen einem freiwilligen Verhalten, das durch Machtanwendung angestoßen wird, und erzwungenem, also nicht freiwilligem Verhalten. Es gibt allerdings viele gerade solcher Beispiele...

Erscheint lt. Verlag 11.10.2023
Verlagsort Stuttgart
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Pädagogik Sozialpädagogik
Schlagworte Diversität • Gerechtigkeit • Partizipation • Selbstreflexion • Teilhabe • Vertrauen
ISBN-10 3-17-042187-5 / 3170421875
ISBN-13 978-3-17-042187-5 / 9783170421875
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