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Das Jahrhundert der Toleranz (eBook)

Spiegel-Bestseller
Plädoyer für eine wertegeleitete Außenpolitik
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
288 Seiten
Goldmann (Verlag)
978-3-641-27186-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Das Jahrhundert der Toleranz -  Richard David Precht
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Der Essay von Richard David Precht zur neuen Weltordnung
Die Welt befindet sich im Umbruch. Von einer von den USA dominierten zu einer multipolaren Weltordnung mit China und Indien als neuen Machtzentren. Das schleichende Ende der Pax Americana stellt die Europäer vor eine enorme Herausforderung: Wie gehen wir mit dem Aufstieg dieser Länder um? Die Gefahr wächst, dass wir es nicht schaffen, auf globaler Ebene auf neue Feindbilder zu verzichten. Auf die Schablonen »Christen gegen Heiden«, »Zivilisierte gegen Wilde«, »Freiheit gegen Kommunismus«, »Christlich-abendländische Kultur gegen den Islam« folgt nun »Demokratien gegen Autokratien«.

• Wer hat dieses Narrativ in die Welt gesetzt?

• Welche Interessen stehen dahinter?

• Warum ist es erfolgreich?

Dieser Essay möchte zeigen, dass die vermeintliche »systemische Rivalität« zu China und anderen Staaten zwar eine Rivalität ist, aber keine systemische. Die Aufgabe unseres Jahrhunderts besteht darin, aus diesen althergebrachten Freund-Feindmustern auszubrechen und unterschiedliche Entwicklungswege und kulturelle Eigenheiten zuzulassen. Denn die Menschenrechte, die keine »westlichen« Werte sind, werden wir nur dann schützen und bewahren, wenn wir ihnen voll und ganz entsprechen. Toleranz, Diversität und Offenheit lassen sich einfordern, wenn wir sie im Umgang mit anderen selbst praktizieren. Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit versammelt das 21. Jahrhundert im Zeichen der globalen ökologischen Katastrophe alle im selben Boot. Meistern können wir sie nur, wenn wir auf das schauen, was alle Länder und Kulturen eint, nicht auf das, was sie trennt. Es wird kein Jahrhundert des »Entweder-oder« nach dem Zuschnitt einer Hegemonialmacht mehr sein, wie die vergangenen - sondern, will sich die menschliche Zivilisation nicht selbst vernichten: das Jahrhundert der Toleranz.

Richard David Precht, geboren 1964, ist Philosoph, Publizist und Autor und einer der profiliertesten Intellektuellen im deutschsprachigen Raum. Er ist Honorarprofessor für Philosophie und Ästhetik an der Hochschule für Musik Hanns Eisler in Berlin. Seit seinem sensationellen Erfolg mit »Wer bin ich - und wenn ja, wie viele?« waren alle seine Bücher zu philosophischen oder gesellschaftspolitischen Themen große Bestseller und wurden in mehr als 40 Sprachen übersetzt. Seit 2012 moderiert er die Philosophiesendung »Precht« im ZDF und diskutiert zusammen mit Markus Lanz im Nr.1-Podcast »LANZ & PRECHT« im wöchentlichen Rhythmus gesellschaftliche, politische und philosophische Entwicklungen.

III. 
Warum die Geschichte
nicht zu Ende ist


Francis Fukuyama ist ein charmanter und sympathischer Mensch. Und die These, die ihn berühmt machte, hat er schon oft widerrufen, nicht zuletzt in einem Fernsehgespräch, das wir beide führten.8 Es ist jene Rede vom »Ende der Geschichte«, mit der der US-amerikanische Politologe Anfang der Neunzigerjahre nahezu schlagartig berühmt wurde. So hatte Fukuyama 1992 gemeint, dass »die liberale Demokratie möglicherweise ›den Endpunkt der ideologischen Evolution der Menschheit‹ und die ›endgültige menschliche Regierungsform‹ darstellt. Sie wäre demnach ›das Ende der Geschichte‹. Während frühere Regierungsformen schwere Mängel und irrationale Züge aufwiesen, die schließlich zu ihrem Zusammenbruch führten, ist die liberale Demokratie bemerkenswert frei von solchen fundamentalen inneren Widersprüchen«.9

Keiner dieser Sätze geht Fukuyama – und mit ihm den meisten, die sich mit der Frage beschäftigen – heute noch glatt über die Lippen. Weisen Demokratien keine Mängel und keine irrationalen Züge auf? Man denke hier stellvertretend an Donald Trump und an die gewaltige Renaissance rechter Kräfte in Europa. Man denke an die anschwellende Kritik an den liberalen Demokratien in Westeuropa durch eine gegenwärtig stark anwachsende Zahl von Bürgern. Man denke an die Rolle der etablierten Massenmedien, die unter dem Druck der Direktmedien Abweichungen von der als solche ausgegebenen gesellschaftlichen Mitte oft heftig brandmarken und anprangern und vielfach vom Journalismus zum Aktivismus übergehen. Und man denke an den damit einhergehenden von ungezählten Meinungsforschungsinstituten diagnostizierten Vertrauensverlust sowohl in die Politik als auch in die Leitmedien mit gefährlichen Folgen für die Stabilität und den Zusammenhalt der Gesellschaften. Die Zahl der Menschen wächst, die sich die Frage stellen: Wie weit darf Freiheit durch informelle Verengung des zulässigen Meinungsspektrums verengt werden?

Nein, frei von inneren Widersprüchen sind die zu Anfang des 21. Jahrhunderts schwer unter Druck geratenen liberalen Demokratien gewiss nicht. Dem kurzen berauschenden Frühling der liberalen Demokratie nach dem Zusammenbruch des sich als Kommunismus selbst missverstehenden Staatskapitalismus in Osteuropa war die gefährliche Dürre des Neoliberalismus gefolgt; ein politischer Klimawandel mit weitreichenden Folgen. Denn stehen wir nicht heute innenpolitisch vor einem Herbst der Unwetter und Wirbelstürme? Was vor einem Jahrzehnt noch unverrückbar und stabil erschien, scheint heute nicht mehr auf Ewigkeit feststehend zu sein. Und der von Fukuyama festgelegte Endpunkt der Evolution könnte möglicherweise nur ein Zwischenstadium sein. Die klimatischen Voraussetzungen, die liberale Demokratien blühen lassen, sind hoch anspruchsvoll, und ein weltpolitischer Klimawandel bringt sie viel leichter ins Trudeln, als sie sich das ihrem Selbstverständnis nach bislang hatten träumen lassen. Kein Wunder, dass auch Fukuyama im Februar 2017 einräumen musste: »Vor 25 Jahren hatte ich weder ein Gespür dafür noch eine Theorie davon, wie Demokratien sich rückwärts entwickeln können. Und ich denke, dass sie das ganz klar können.«10

Und doch ist es nicht in erster Linie die innenpolitische Entwicklung der liberalen Demokratien, die Fukuyamas Rede vom Ende der Geschichte heute so anachronistisch erscheinen lässt. Gemeint war ja nicht nur, dass liberale Demokratien, dort, wo sie existieren, der Endpunkt der geschichtlichen Entwicklung der Menschheit seien; sondern dass sie über kurz oder lang zur überzeugenden Blaupause für jeden Staat auf der Erde werden würden. Das stärkste Argument dafür war ihre Wirtschaftskraft. Die Implosion der politischen und wirtschaftlichen Systemarchitektur in Osteuropa nach dem Mauerfall in der DDR schien eine unmissverständliche Botschaft in sich zu tragen: Das kapitalistische Wirtschaften, allen voran sein Update als freie und soziale Marktwirtschaft, ist jedem anderen Wirtschaftssystem haushoch überlegen. Planwirtschaft dagegen ist nicht nur ineffizient, sondern der menschlichen Natur widersprechend. Nur der Kapitalismus entfaltet die kreative Energie des Menschen und führt zu hocheffektivem Wirtschaften. Und nur kapitalistische Wirtschaftssysteme mit freien Märkten ermöglichen die sofortige Fehlerkorrektur durch Anpassung an den Markt, deren Mangel Planwirtschaften ins Leere laufen lässt. Ein solches liberales Wirtschaften aber sei einzig und allein in parlamentarischen Demokratien möglich, in Staaten, die die Wirtschaft zwar sanft moderieren, sie aber nicht leiten und lenken; in Staaten zugleich, die ein hohes Maß an Presse- und Meinungsfreiheit zulassen und deren Rechtsstaat die Rechte jedes einzelnen Bürgers bestmöglich schützt.

Für einen Wimpernschlag der Geschichte schien damit bewiesen, was in den Zeiten des Kalten Krieges zuvor nur rhetorisches Selbstverständnis, mithin eine plausible Vermutung gewesen war: Liberale Demokratien sind die erfolgreichste Staats- und Wirtschaftsform der Geschichte. Unter den Tisch fiel dabei, dass das römische Imperium viele Hundert Jahre in Blüte stand, ohne eine liberale Demokratie gewesen zu sein, nicht anders als das chinesische Kaiserreich von seinen Anfängen bis zur Ming-Dynastie. Verglichen damit ist die Herrschaft liberaler Demokratien eine bislang recht kurze Episode. Aber hätte sie nicht gleichwohl das versöhnliche Ende der gesellschaftlichen Evolution sein können?

Tatsächlich kennt die Evolution, die biologische wie die kulturelle, keinen Endpunkt – weder in der Naturgeschichte noch in der Menschheitsgeschichte. Den Menschen als Endpunkt zu sehen, ist schlechte Metaphysik. Man erfindet ein Fundament und allgemeine Strukturen, Gesetze und Zwecksetzungen, die beweisen sollen, dass das, was nicht notwendig ist, zwangsläufig, und was flüchtig ist, von Ewigkeit umhaucht sein soll. Nicht anders dürfte es um die liberalen Demokratien als vermeintlichen Endpunkt bestellt sein. Sie mögen aus der Sicht vieler, die in ihnen leben, mit sehr überzeugenden Argumenten wünschens- und erhaltenswert sein. Doch kein evolutionäres Telos und kein Engel der Geschichte garantieren ihren Ewigkeitswert. Und so gilt auch für Fukuyama, was Siegfried Kracauer in den Sechzigerjahren über jede Interpretation der Geschichte sagte: »Wann immer in Mikro-Analyse gewonnene Details in die Makro-Dimension transportiert werden, kommen sie dort oben leicht beschädigt an.«11

Nicht anders war es bereits Georg Wilhelm Friedrich Hegel ergangen, von dem die Formel vom »Ende der Geschichte« stammt. Für Hegel war die Geschichte zu Ende gegangen, indem er sie zu Ende schrieb. Der sanft aufgeklärte preußische Obrigkeitsstaat Friedrich Wilhelms III. sollte für den schwäbischen Philosophen an der Berliner Universität das sein, was die liberalen Demokratien für Fukuyama sein sollten: die beste und damit letztendliche Version dessen, wie Menschen auf staatlicher Ebene organisiert sein können, und zwar sowohl politisch als auch ökonomisch und moralisch. Und wie Fukuyama, so hatte auch Hegel noch zu Lebzeiten erfahren müssen, wie die Geschichte den Ewigkeitswert seiner Behauptung zerzauste. Politik, Ökonomie und Moral verfügen über Eigengesetzlichkeiten, die sich nur über kurze Zeit in vergleichsweiser Harmonie zueinander befinden. Schon die geringsten Erschütterungen lassen sie auseinanderstäuben wie erschrockene Pferde. Die Rösser am Seelenwagen des Staates, um dieses berühmte Bild Platons ins Politische zu übertragen, können augenscheinlich nicht auf Ewigkeit im Gleichschritt gezügelt und gebändigt werden. Die kleinste Unebenheit auf dem politischen Terrain lässt den Wagen holpern, und Affekt und Begehren schaukeln ihn hin und her.

Diese Unebenheiten, die die von ehemals ruhiger Hand gelenkten Pferde aufbäumen lassen, sind heute der relative Abstieg und der zunehmende Bedeutungsverlust der westlichen Industriestaaten auf dem Globus. Die Selbstgewissheit des Exklusivbesitzes an der optimalen Bauanleitung politisch und wirtschaftlich erfolgreichen Handelns ist einer Verstörung gewichen. Die geopolitische Plattentektonik verschiebt sich gegenwärtig in historisch atemberaubend kurzer Zeit. Die asiatische Platte gewinnt wirtschaftlich an Gewicht, die europäische und die US-amerikanische verlieren relativ dazu in gleichem Maße. Verstörend für die politischen und wirtschaftlichen Hegemonialmächte von einst, fordert die Mehrheit der Menschen auf dem Globus nicht nur ihr Recht auf die auf der Erdkugel verfügbaren Ressourcen des Wohlstands, sondern immer stärker auch ihre Beteiligung an weltpolitischen Entscheidungen.

Das wirtschaftlich mit Abstand stärkste Land Asiens aber ist leider keine liberale Demokratie. Und doch hat kein anderer Staat in den letzten Jahrzehnten ein in der Summe so beeindruckendes Wirtschaftswachstum erlebt wie China. Dass autoritär gelenkte Staaten keinen dauerhaften wirtschaftlichen Erfolg haben können, ist damit weithin sichtbar widerlegt. Für das eurozentrische Selbstverständnis, dem Fukuyama noch weit mehr geschmeichelt hatte als jenem der USA, ist dieser Befund nicht nichts. Für den US-Politologen waren es gerade die Europäer, in deren politischen Systemen die Werte der Aufklärung bestmöglich zu ihrem Recht gekommen waren: »Der Versuch der EU, Staatssouveränität und traditionelle Machtpolitik in transnationale Rechtsstaatlichkeit zu transzendieren, entspricht weit mehr einer ›post-historischen‹ Welt als der fortbestehende Glaube der US-Amerikaner an Gott, nationale Souveränität und ihr...

Erscheint lt. Verlag 30.5.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte 2024 • 21. Jahrhundert • Außenpolitik • Autokraten • Bestseller • China • Davos • Debattenbuch • Demokratie • eBooks • Essays • Globalisierung • Indien • Internationale Beziehungen • Kapitalismus • Kommunismus • Krieg • Lanz • Neuerscheinung • Ost-West-Konflikt • Politik • Russland • Spiegelbestseller aktuell • spiegel-bestseller autor • USA • Weltordnung • Weltwirtschaftsforum • Westen • Wirtschaftssysteme
ISBN-10 3-641-27186-X / 364127186X
ISBN-13 978-3-641-27186-2 / 9783641271862
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