Empirische Sozialforschung (eBook)
784 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-40015-3 (ISBN)
Andreas Diekmann, Prof. Dr. rer. pol., geb. 1951 in Lübeck; Studium der Soziologie, Psychologie und Methodenlehre an den Universitäten Hamburg und Wien. Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Hamburg (bis 1980), 1980-84 Assistent am Institut für Höhere Studien in Wien, 1984-87 Akademischer Rat am Institut für Soziologie der Universität München. Habilitation 1987 an der Universität München, Wissenschaftlicher Leiter am 'Zentrum für Umfragen, Methoden und Analysen' (ZUMA) in Mannheim (1987-89). Professor für Statistik und Sozialwissenschaftliche Methodenlehre an der Universität Mannheim (1989-90). Direktor des Instituts für Soziologie an der Universität Bern und Professor für Empirische Sozialforschung und Sozialstatistik (1990-2003). Seit 2003 Professor für Soziologie an der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) Zürich.
Andreas Diekmann, Prof. Dr. rer. pol., geb. 1951 in Lübeck; Studium der Soziologie, Psychologie und Methodenlehre an den Universitäten Hamburg und Wien. Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Hamburg (bis 1980), 1980-84 Assistent am Institut für Höhere Studien in Wien, 1984-87 Akademischer Rat am Institut für Soziologie der Universität München. Habilitation 1987 an der Universität München, Wissenschaftlicher Leiter am "Zentrum für Umfragen, Methoden und Analysen" (ZUMA) in Mannheim (1987-89). Professor für Statistik und Sozialwissenschaftliche Methodenlehre an der Universität Mannheim (1989-90). Direktor des Instituts für Soziologie an der Universität Bern und Professor für Empirische Sozialforschung und Sozialstatistik (1990-2003). Seit 2003 Professor für Soziologie an der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) Zürich.
A. GRUNDLAGEN
I. EINFÜHRUNG: ZIELE UND ANWENDUNGEN
1. Methodenvielfalt
Naturwissenschaftler verwenden je nach Disziplin und Fragestellung unterschiedlichste Methoden zur Erhebung empirischer Daten. Astronomen horchen mit Radioteleskopen ins All. Biologen beobachten ein Präparat unter dem Mikroskop. Physiker und Chemiker verwenden in experimentellen Anordnungen eine Vielzahl komplizierter Messgeräte, während Meteorologen klimatische Daten mit Wetterstationen und Satelliten registrieren: Ähnlich existiert auch in den Sozialwissenschaften eine größere Zahl von Techniken zur Erhebung und Auswertung von Daten: persönliche, schriftliche und telefonische Interviews, qualitative Befragung, systematische Beobachtungsverfahren, Inhaltsanalyse von Texten, Verfahren der Stichprobenziehung, Einstellungsmessung und Skalierung, Randomized-Response-Technik und nichtreaktive Verfahren, experimentelle und quasiexperimentelle Längs- und Querschnittstudien u.a.m. Die Gesamtheit dieser Methoden stellt das Inventar der ‹Werkzeugkiste› der empirischen Sozialforschung dar. Der Arbeitsort des empirischen Sozialforschers, an dem die ‹Werkzeuge› zum Einsatz kommen, ist das «soziale Feld» bei der Befragung, Beobachtung oder einem «Feldversuch», das Archiv bei der Sichtung von Texten für die Inhaltsanalyse, das Labor bei einem Experiment und der Platz vor dem Computer bei der Aufbereitung und statistischen Analyse der Daten.
Die Analogie mit der ‹Werkzeugkiste› trägt noch weiter. Genau wie mit einem Hammer oder einem anderen Werkzeug bei unsachgemäßem Umgang Schaden angerichtet werden kann, gilt dies auch für die «Werkzeuge der Sozialforschung» (Harder 1974). Die sachgemäße Handhabung aber muss erlernt und gewollt sein. ‹Montagsstudien› und Pfusch kommen auch in der empirischen Sozialforschung vor. Zudem zeigt sich häufig die Tendenz, den Gebrauch einer Technik zu überdehnen. Für Kaplans (1964) «law of instrument» ist in der Sozialforschung kein Mangel an Beispielen. Das «Gesetz» lässt sich so illustrieren: Gibt man einem kleinen Jungen einen Hammer, dann wird er zunächst Nägel einschlagen. Gehen die Nägel aus, wird er ersatzweise versuchen, Schrauben einzuhämmern. Mit einer einmal erlernten und für begrenzte Anwendungen durchaus zweckmäßigen Methode werden alle Probleme ‹erschlagen›. Sinnvoller ist dagegen, vor dem Griff in die Werkzeugkiste genau zu prüfen, welche Methode(n) sich bei dem ins Auge gefassten Untersuchungsziel als am besten geeignet erweisen.
Sozialforschung wird häufig mit Umfragen und Demoskopie gleichgesetzt. Wenn es sich bei Fragebogenerhebungen auch um eine der am häufigsten angewandten Methoden handelt, so ist das methodische Spektrum doch viel umfassender. Je nach Fragestellung und Untersuchungsziel empfiehlt sich die Auswahl unterschiedlicher Methoden, häufig auch von Methodenkombinationen. Nicht jede Methode ist bei einer spezifischen Fragestellung gleichermaßen gut geeignet. Gelegentlich werden auch mehrere Methoden zur Beantwortung ein und derselben Forschungsfrage eingesetzt (Triangulation, «cross examination»). Das Vertrauen in ein Resultat wächst, wenn mit unterschiedlichen Methoden das gleiche Ergebnis erzielt wird. Als Musterbeispiel eines praktizierten Methodenpluralismus kann heute noch die klassische «Marienthal-Studie» (Jahoda, Lazarsfeld und Zeisel [1. Aufl., 1933] 1960) über die Folgen der Langzeitarbeitslosigkeit gelten.
In dieser, nicht nur für die damalige Zeit, einfallsreichen Studie wurde die Massenarbeitslosigkeit in den 1930er Jahren in dem kleinen Ort Marienthal in Niederösterreich untersucht. Mit einer Vielfalt von quantitativen und qualitativen Methoden (Befragung, Beobachtung, Inhaltsanalyse von Schulaufsätzen der Kinder aus arbeitslosen Familien, Sekundäranalyse statistischer Daten usw.) konnte ein prägnantes und auch heute wieder aktuelles Bild längerfristiger Arbeitslosigkeit und ihrer subjektiven Folgen gezeichnet werden. Insbesondere zeigte sich, wie mit der Dauer der Arbeitslosigkeit Resignation und Apathie um sich griffen und im Ablauf der einzelnen Phasen Langzeitarbeitslosigkeit letztendlich zu einem Verfall der Persönlichkeit führen konnte.
Wenn auch in den sechs Jahrzehnten seit Erscheinen der «Arbeitslosen von Marienthal» das methodische Instrumentarium und die Technik der statistischen Datenanalyse wesentlich verfeinert wurden, so stellt die Untersuchung von Jahoda, Lazarsfeld und Zeisel doch noch immer ein mustergültiges Beispiel für den gewinnbringenden Einsatz methodischer Kombinationen zur Beantwortung einer wichtigen Fragestellung dar (vgl. zu der Studie genauer Kapitel XI).
Ist es die Aufgabe der Sozialwissenschaften, wissenschaftliche (insbesondere in der Grundlagenforschung) oder praktische Probleme (insbesondere in der angewandten Forschung) zu lösen, dann sollte in der Regel nicht die Methode das Problem, sondern umgekehrt das Problem die Auswahl der Methode bestimmen. Diese Einstellung setzt aber voraus, dass sich Sozialforscher nicht ausschließlich auf eine Methode kaprizieren, sondern vielmehr die Kompetenz erwerben, mit den wichtigsten, heute gebräuchlichen methodischen Instrumenten umgehen zu können.
2. Anwendungen in den sozialwissenschaftlichen Disziplinen
Um eine Vorstellung von den Aufgaben der empirischen Sozialforschung zu erhalten, sehen wir uns einmal eine Reihe ausgewählter Themen an, die in den einzelnen Disziplinen mit den Methoden der Sozialforschung bearbeitet werden.
In der Soziologie, in der ein Großteil der Methoden entwickelt wurde, beziehen sich die Anwendungen auf sämtliche Forschungsgebiete von der Religionssoziologie bis zur Soziologie der Entwicklungsländer. Klassische Themen sind Ausmaß und Ursachen sozialer Mobilität, das Gefüge sozialer Klassen und Schichten, das Sozialprestige von Berufen, Veränderungen von Familienformen, Analysen der Bevölkerungsentwicklung (Demographie) u.a. m. Zahlreiche weitere Beispiele werden wir noch in den einzelnen Methoden-Kapiteln genauer unter die Lupe nehmen.
Zentrales Anwendungsgebiet in den Politikwissenschaften ist die Wahlforschung. Hierzu zählen nicht nur Wahlprognosen, sondern auch die Untersuchung der Wählerpotenziale von Parteien, die Zunahme des Rechtsextremismus, ‹Politikverdrossenheit›, die wachsende Tendenz zur Wahlenthaltung und die Schwächung von Parteibindungen. Weitere,meist mit Umfragen ermittelte Daten beziehen sich auf das Ausmaß des Vertrauens in demokratische Institutionen, auf Mitgliedschaften und Aktivitäten in Verbänden, Parteien, Gewerkschaften und ‹neuen sozialen Bewegungen› (Umwelt-, Friedensbewegung), wobei häufig auch die Perspektive des internationalen Vergleichs gewählt wird. Neben der Umfragetechnik ist die Inhaltsanalyse eine wichtige Technik in den Politikwissenschaften. Parteiprogramme können ebenso wie die Berichterstattung der Medien zu politischen Ereignissen mit inhaltsanalytischen Verfahren untersucht werden. Schließlich sind Evaluationsmethoden von Interesse, etwa um die Folgen und Nebenfolgen gesetzgeberischer Maßnahmen zu ermitteln.
In der Ökonomie ist, auch wenn dies den Nutzern nicht immer bewusst sein mag, zunächst einmal die gesamte Wirtschaftsstatistik ein Produkt routinemäßiger Sozialforschung der statistischen Ämter, häufig auf der Basis von Zufallsstichproben und unter Verwendung der Umfragetechnik.Wer weiß, welche Fehlerquellen und Probleme z.B. bei der Ermittlung des Preisindex der Lebenshaltungskosten, der Arbeitslosenquote oder des Sozialprodukts auftreten können, wird den amtlichen Zahlen wohl mit etwas mehr Vorsicht und Skepsis begegnen! Darüber hinaus speist sich die empirische Wirtschaftsforschung und Ökonometrie aus den Daten spezieller empirischer Erhebungen. Beispiele sind die Ermittlung des ‹Konjunkturklimas› durch Umfrage bei Unternehmen, die Untersuchung der Einkommens- und Vermögensverteilung, der Ursachen und Dauer der Arbeitslosigkeit, der Mobilität von Arbeitskräften, des Spar- und Konsumverhaltens in der Bevölkerung. Neuerdings hat sich auch das Gebiet «experimenteller Wirtschaftsforschung» etabliert, wobei z.B. das Verhalten auf Märkten oder die Verhandlungen zwischen Tarifparteien in Experimenten simuliert werden (Davis und Holt 1993). Hinzu kommen vielfältige Einsatzgebiete empirischer Sozialforschung in der Betriebswirtschaftslehre. Themen sind hier u.a. die Auswirkungen neuer Techniken und Produktionsverfahren, von Managementstilen und organisatorischen Änderungen auf die Beschäftigten, d.h. auf Arbeitszufriedenheit, Absenzen, Beschäftigungsfluktuation. Ein eigenes, für die Betriebswirtschaftslehre wichtiges Gebiet ist die Marktforschung. Hierbei handelt es sich im Kern um nichts anderes als die Anwendung der Methoden der empirischen Sozialforschung auf die Untersuchung des Konsumentenverhaltens.
Dürften in Soziologie, Politikwissenschaften und Ökonomie nichtexperimentelle Umfragetechniken als Mittel der Datenbeschaffung dominieren, so führt der Pfad der Erkenntnis in Psychologie und Sozialpsychologie über das Experiment, meist kombiniert mit Befragungs- und Beobachtungstechniken. Eine weitere Domäne ist die Messung und Skalierung in der Testpsychologie und Einstellungsforschung (Intelligenztests, Messung von Persönlichkeitsmerkmalen wie «Extroversion», Skalierung von Einstellungen wie z.B. «Umweltbewusstsein»). Die Grundlagen der Messung und Skalierung in der empirischen...
Erscheint lt. Verlag | 18.7.2023 |
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Zusatzinfo | Zahlr. s/w Abb. |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung |
Schlagworte | Datenanalyse • Datenerhebung • Empirische Sozialforschung • Grundlagen • Methoden • Sozialforschung • Studium |
ISBN-10 | 3-644-40015-6 / 3644400156 |
ISBN-13 | 978-3-644-40015-3 / 9783644400153 |
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Größe: 10,1 MB
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