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Aufbrechen -  Jeannette Gusko

Aufbrechen (eBook)

Warum wir jetzt Menschen brauchen, die große Umbrüche bewältigt haben
eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
128 Seiten
Atrium Verlag AG Zürich
978-3-03792-224-8 (ISBN)
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Transformationskompetenz ist die wohl größte ungehobene Ressource für unsere Zukunft. Wandlungserprobte Menschen, wie Wende-, Migrations- oder Arbeiterkinder, haben große Umbrüche erlebt und damit eine Kompetenz erworben, die unsere Gesellschaft für die Zukunft handlungsfähig machen kann. Eine Superkraft, die bislang aber meist unerkannt geblieben ist, oft sogar von den Menschen, die sie in sich tragen. Doch wenn es uns gelingt, diese Ressource zu heben, setzen wir eine ungeahnte gesellschaftliche Kraft frei - und können den nötigen großen Transformationen unserer Zeit gemeinsam optimistisch entgegensehen.

Jeannette Gusko, 1984 in Ost-Berlin geboren, hat Wirtschaftskommunikation und Kommunikationsmanagement in Berlin und Leipzig studiert. Sie ist Konferenz-Speakerin, Fernseh-, Radio- und Print-Kommentatorin sowie Autorin. Gusko ist darüber hinaus Sprecherin des Netzwerks 3te Generation Ost und hat u. a. die Plattformen für gesellschaftlichen Wandel Change.org und GoFundMe in Deutschland mit aufgebaut. Heute arbeitet sie als Geschäftsführerin der gemeinnützigen Recherche- Organisation Correctiv. Jeannette Gusko wurde mehrfach für ihre Arbeit ausgezeichnet.

Jeannette Gusko, 1984 in Ost-Berlin geboren, hat Wirtschaftskommunikation und Kommunikationsmanagement in Berlin und Leipzig studiert. Sie ist Konferenz-Speakerin, Fernseh-, Radio- und Print-Kommentatorin sowie Autorin. Gusko ist darüber hinaus Sprecherin des Netzwerks 3te Generation Ost und hat u. a. die Plattformen für gesellschaftlichen Wandel Change.org und GoFundMe in Deutschland mit aufgebaut. Heute arbeitet sie als Geschäftsführerin der gemeinnützigen Recherche- Organisation Correctiv. Jeannette Gusko wurde mehrfach für ihre Arbeit ausgezeichnet.

Über Krisen und wie sie sich anfühlen


2008 war für mich ein umwälzendes Jahr. Ich hatte am 3. Januar meine Bachelorarbeit abgegeben. Rückblickend war das Datum suboptimal gewählt, mein Silvester war mau. Für mich stellten sich jedoch eh andere Fragen: Wie würde es weitergehen? Ich wollte einen Master studieren, in dem ich meine Fähigkeiten vertiefen konnte. Ich wollte meinen Geburtsort Berlin verlassen, hatte Lust auf Neues. Die Debatte um Masterstudienplätze war in vollem Gange. Es gab deutlich weniger Master- als Bachelorstudiengänge, Quereinstiege aus anderen Fächern wurden erschwert, die Bewerbungsverfahren waren analog und je nach Studiengang unterschiedlich. Es war unübersichtlich. Im vorherigen Wintersemester hatten zudem einige Bundesländer Studiengebühren eingeführt. Ich bewarb mich auf vierzehn Studienplätze. Für ein Auswahlgespräch fuhr ich mit der Mitfahrzentrale mit einem Transporter voller Fake-Ray-Ban-Sonnenbrillen für einen 1-Euro-Shop nach Tübingen. Der Fahrer war so übernächtigt, dass er einen Energydrink nach dem anderen kippte. Und an der ersten Raststätte erst einmal ein einstündiges Nickerchen einforderte. Im bekritzelten 1970er-Jahre-Bau der Tübinger Uni-Fakultät für Philosophie wusch ich mir auf der Toilette die Achseln und putzte die Zähne. Eine halbe Stunde später war ich umringt von Schwäb:innen. Die Person, die die zweitlängste Anreise hatte, war aus Freiburg gekommen. Die längste Anreise, das war schnell klar, hatte ich auf mich genommen. Ich war wieder einmal allein auf neuem Terrain. Am Ende sollte ich in allen vierzehn Städten angenommen werden. Es war ein umwälzendes Jahr.

Während ich also Frühjahr und Sommer mit Arbeiten und Reisen verbrachte, braute sich in US-amerikanischen Vorstädten die Immobilienkrise zusammen. Drei Wochen bevor ich in Leipzig mein Masterstudium aufnahm, meldete am 15. September 2008 die Investmentbank Lehman Brothers Insolvenz an. Die Finanzkrise nahm ihren Lauf und wälzte um. Im Studium diskutierten wir viel. Meine Kommiliton:innen beschrieben, wie die Finanzkrise in ihnen das erste Mal in ihrem Leben das Gefühl auslöste, die Welt sei in Unwucht. Dass ihre gefühlte Sicherheit und Selbstvergewisserung Risse bekam. Dass es nicht weitergehe »wie bisher«. Wo ich auch hinblickte, wurde die Finanzkrise als Jahrhundertkrise beschrieben, für Millennials wie mich neben dem 11. September als der prägendste Einschnitt ihrer Generation betitelt. Mein Blick auf das, was mit uns und um uns herum geschah, war jedoch ein anderer. Ich fand die Auswirkungen des dominoartigen Falls von Aktienkursen auf Arbeiter:innen und Angestellte, auf Einkommensschwache und Marginalisierte krass, keine Frage. Doch ich blickte eher distanziert auf das Geschehen. Ich interessierte mich für die Ursachen und sollte später ein Praktikum bei einer großen Wirtschaftszeitung absolvieren. Die Finanzkrise löste keine existenziellen Fragen in mir aus, sie erschütterte mich nicht, sie machte mir keine Angst. Ich nahm sie als zwangsläufig eintretend hin. Im Gegensatz zu meinen Kommiliton:innen ging die Welt für mich so weiter wie bisher. Meine Erwartungen an die Welt waren genau so: Sie ändert sich, immer. Jederzeit können Stücke brechen. Gewohntes, auch Liebgewonnenes geht verloren. Neue Regeln und Normen kommen hinzu und verändern den Lauf unseres Lebens. Mich interessierte viel eher, was ich aus der Krise machen konnte. Würde Raum für Neues entstehen?

Wie konnte es also sein, dass ich einerseits vierzehn Bewerbungen schrieb, aus dem inneren Drang heraus, in jedem Fall weiter studieren zu können, und gleichzeitig die Finanzkrise als lediglich beiläufig interessant wahrnahm? Warum steuere ich recht stoisch durch Veränderungen, von groß bis klein, ziehe sie sogar an, während Sicherheit einen hohen Stellenwert in meinem Leben hat? Wie sich später herausstellte, war 2008 das Jahr, in dem ich meine Transformationskompetenz zum ersten Mal spürte.

Doch es sollte noch drei Jahre dauern, bis ich mit anderen Ostdeutschen über meine Erfahrung während des Beginns der Finanzkrise sprechen und ich den Begriff Transformationskompetenz kennenlernen würde. Ich wurde im Herbst 2011 auf den ersten Generationsgipfel des damals neu gegründeten Netzwerks 3te Generation Ost eingeladen. Ich war neugierig auf dieses Zusammentreffen, hatte ich mich bis dato doch noch nie explizit mit meiner ostdeutschen Vergangenheit oder mit der Besonderheit meiner Erfahrungen auseinandergesetzt. Auch meine Eltern hatte ich zu diesem Zeitpunkt weder zu den Umbruchsjahren befragt noch ihre Position zu verstehen oder gar herauszufordern versucht. Es ist nicht so, dass in meinem Zuhause nicht über die DDR gesprochen wurde. Sie war und ist im Gegenteil bis heute sehr präsent in unseren Gesprächen oder auf Familienfeiern. Ständig fallen teils schiefe Vergleiche oder werden vermeintliche Parallelen gezogen. Meine Eltern haben sich jedoch vielmehr einen Kokon aus Anekdoten gesponnen, den sie wieder und wieder hervorholen, ohne Nahbares preiszugeben. Mein Vater ist ein wandelndes Aphorismen-Arsenal. Meine Mutter besitzt eine ausweichende Natur bezüglich ihrer Lebensgeschichte. Sie spricht kaum einen Satz ohne das ihr typische »Na ja« am Satzende, das jede zuvor gefallene Aussage entweder entkräftet oder gleichzeitig ihre gegenläufige Interpretation zulässt. Ich liebe meine Eltern, doch auf dem Weg meiner Emanzipation als ostdeutsche Frau konnten sie mir nur wenig helfen.

Als ich also 2011 im Collegium Hungaricum nahe der Berliner Humboldt-Universität ankam, war ich zunächst eingeschüchtert. Die Macher:innen der Konferenz sprachen über Fragen von Zugehörigkeit junger Ostdeutscher, die in der DDR geboren waren, jedoch prägende Jahre ihrer Kindheit und Jugend in den 1990er-Jahren des vereinten Deutschlands verbracht hatten. Sie sprachen davon, wie sehr ihnen die mediale Berichterstattung über »den Osten« missfiel, wie wenig sie sich wiederfanden in den immer gleichen Reportagen über Arbeitslosigkeit, Rechtsextremismus und Jammerei. Und sie formulierten die vorsichtige Idee, ob sich aus diesem Verständnis als eigene Generation, in der ich mich sofort wiederfand, nicht auch eine Verantwortung ergebe, politisch zu handeln. Meine Einschüchterung wich mit jedem Programmpunkt. Mit jedem Gespräch, das ich an diesem Wochenende führte, merkte ich: Das ist meine Community. Wir teilten Erfahrungen und fanden Sprache für tief in mir liegende Gefühle, von denen ich zuvor angenommen hatte, sie seien ausschließlich individuell, nur in meinem Kopf, nur in meiner Familie, nur in meinem Freundeskreis: Das Unwohlsein, über mein Ostdeutschsein als vermeintlich exotisch ausgefragt zu werden, das fehlende Wissen über meine Herkunft und ihre implizite, manchmal auch explizite Abwertung. Die einzige Ostdeutsche im Praktikum zu sein. Die Sprachlosigkeit der Eltern. Die fehlenden Vorbilder. Ich stellte fest, dass ich Wendekind bin. Und ich stellte fest, dass wir ein Verständnis teilten: Krisen sind konstant. Mir wurde bewusst, dass in den vergangenen hundertfünfzig Jahren im Osten Deutschlands fünf politische Systeme einander abgewechselt hatten. Dass sich in dieser Zeit jede Generation in einem neuen System zurechtfinden musste. Dass Systemwandel möglich ist. Ich traf auf der ganzen Veranstaltung niemanden, die:den die Finanzkrise vor existenzielle Fragen gestellt hatte. In allen Gesprächen war die Gewissheit zu spüren, dass wir schon einen Weg finden würden, weil wir bisher immer einen gefunden hatten. Das war ungemein tröstlich und atemberaubend zugleich. Es war mein ostdeutsches Erwachen und meine erste bewusste Begegnung mit meiner Transformationskompetenz.

 

Selbst wenn das jetzige Jahrzehnt nicht das entscheidende wäre, hätte ich dieses Buch geschrieben. Doch nun mittendrin, da sich Krise um Krise um uns Menschen herum auftürmt, von uns erschaffen und verstärkt, bin ich umso mehr davon überzeugt, dass wir als Gesellschaft viel breiter, dezentraler und gewissenhafter Probleme lösen müssen. Klimakrise,[1] Energiekrise, Verkehrskrise, Ernährungskrise, Lieferkettenkrise, steigende Ungleichheit,[2] soziale Spaltung,[3] der Rückgang der Demokratien weltweit,[4] der russische Angriffskrieg auf die Ukraine oder auch die ungleiche Digitalisierung und der Fachkräftemangel. All diese Krisen und weitere benötigen unsere volle Aufmerksamkeit und haben direkte Auswirkungen auf unsere Lebensrealitäten. Die Krisen sind hier, alle komplex, alle ineinandergreifend, alle überlappend. Uns muss bewusst sein, dass sie Symptome eines Paradigmenwechsels oder transformativen Wandels sind.[5] Wir werden künftig nie alle Möglichkeitskombinationen in ihren Wahrscheinlichkeiten erfassen und abwägen können. Krisen sind daher wie Kreuzungen – ist erst einmal eine Abfahrt gewählt, fällt es mit jedem Meter zurückgelegter Strecke schwerer, bei Irrtum wieder umzudrehen. Was wir derzeit gemeinhin unter Zukunft verstehen, wird in Anbetracht der Krisen zunehmend unstet und stimmt hoffnungslos. Krisen können uns jedoch auch eine Lehre sein, denn sie sind das Ergebnis vorheriger Entscheidungen oder Tatenlosigkeit. Welche Zukunftsszenarien wir abwägen, welche Stimmen wir darin einfließen lassen, wie wir entscheiden, hat Konsequenzen. Krisen eröffnen Möglichkeitsfenster: Wenn alles schlimm und düster ist, kommen nachweislich mehr Menschen aus marginalisierten Gruppen, zum Beispiel Frauen oder...

Erscheint lt. Verlag 12.10.2023
Reihe/Serie Atrium Zündstoff
Atrium Zündstoff
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Aufsteiger • Essay • Gesellschaftlicher Wandel • Klimawandel • Migrantenkinder • Transformationskompetenz • Umbruch • ungehobene Ressource • Wendekinder • Zündstoff
ISBN-10 3-03792-224-9 / 3037922249
ISBN-13 978-3-03792-224-8 / 9783037922248
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