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Saal 210 - Wenn Menschen morden (eBook)

Fälle aus dem Schwurgericht
eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
Quadriga (Verlag)
978-3-7517-4891-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Saal 210 - Wenn Menschen morden -  Hariett Drack
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Ein verschwundenes Kind, ein ins Koma gespritzter Arzt, ein Sack voller Leichenteile, ein Ehemann, der seine Partnerinnen gleich in Serie vergiftet - In den Fällen, die in Saal 210, dem Schwurgerichtssaal des Kölner Landgerichts verhandelt wurden, geht es um Mord, Totschlag und die Frage nach dem »Warum«.

Es sind Fälle, die fassungslos machen und Fragen aufwerfen, die oft keine Antwort erhalten. Wer hat versagt? Warum musste das geschehen? Warum haben Behörden - wenn überhaupt - zu spät reagiert? Nicht nur die Tat steht im Mittelpunkt. Die Aufgabe des Gerichts, die Hintergründe menschlicher Gewalt zu beleuchten und der Versuch, sie einzuordnen, ist das eigentlich faszinierende Thema dieser Fallsammlungen.





Hariett Drack arbeitete vier Jahrzehnte als Polizei- und Gerichtsreporterin für den Kölner Stadt-Anzeiger und ist freie Autorin für ZEIT Verbrechen u.a. Über menschliche Abgründe zu berichten, aber auch die oftmals skurrilen Geschichten vor dem Amtsgericht - all das hat auch nach Jahrzehnten nicht den Reiz verloren, darüber zu schreiben.

Hariett Drack arbeitete vier Jahrzehnte als Polizei- und Gerichtsreporterin für den Kölner Stadt-Anzeiger und ist freie Autorin für ZEIT Verbrechen u.a. Über menschliche Abgründe zu berichten, aber auch die oftmals skurrilen Geschichten vor dem Amtsgericht - all das hat auch nach Jahrzehnten nicht den Reiz verloren, darüber zu schreiben.

DAS MONSTER


Nur mal kurz raus, vor die Tür, auf eine Zigarette. Durchatmen. Ein bisschen Ruhe finden. Drinnen, in der Villa Kunterbunt, geht es zu wie in einem Bienenschwarm. Fünfundneunzig Kinder toben dort, singen, spielen, kreischen. Sabine Nölle, eine erfahrene Erzieherin, leitet den integrativen Kindergarten in Bergheim-Niederaußem.

An jenem Sommertag im August 2020 zieht die Pädagogin an ihrer Zigarette und sieht auf der anderen Straßenseite Jana Schmidt entlangschlendern. Die Dreiundzwanzigjährige ist zum dritten Mal schwanger, ihre Kinder Alina und Paul sind fünf und vier Jahre alt. Die Erzieherin kennt die junge Frau. Mit Alina gab es immer wieder Probleme. Auf Vermittlung des Jugendamts erhielt das schwächelnde Kind bereits Ergo-, Logo- und Bewegungstherapie. Deshalb hatte ihr früherer Kindergarten den Wechsel in die Villa Kunterbunt angeregt: Dort wird schon seit Jahren ein heilpädagogisches Gesamtkonzept angeboten.

Im Februar 2020 hatte Jana Schmidt ihre Tochter dort angemeldet – und kam allein. Auch zu allen weiteren Treffen brachte sie das Kind nicht mit. Die kleine Alina lernte die Leiterin nur auf dem Papier kennen. »Das ist eigentlich unüblich.« Es wirkte so, als wollte die Mutter die kleine Tochter verstecken.

Die erfahrene Erzieherin beschleicht ein ungutes Gefühl, als Alina auch am 10. August, ihrem ersten Kindergartentag, nicht auftaucht. Sie greift zum Telefon. Jana Schmidt erklärt, die Tochter sei so schwach, sie könne sich kaum auf den Beinen halten. Ein Termin »in der Röhre« stehe an, Ende August in der Neurologie des Kölner Klinikums. Die Leiterin fragt: »Warum so lange warten?« – »Wegen Corona, es gibt keinen früheren Termin.« Was die Leiterin nicht ahnt: Diesen Termin gab es nie.

Als die Erzieherin schließlich am 21. August während ihrer Zigarettenpause die schwangere Mutter zufällig auf der Straße sieht, spricht sie sie an. Jana Schmidt erzählt, dass Alina nicht mehr selbstständig laufen könne und nur noch im Bett liege, sie leide an einer »Muskeldystrophie«. Die Erzieherin weiß, dass diese Diagnose in keinem der Therapie- und Arztberichte auftauchte, die in der Villa Kunterbunt vorlagen. Und sie hört auf ihr Bauchgefühl: »Mit dem Kind kann was nicht stimmen.« Sie ruft das Jugendamt an – und rettet damit Alinas Leben.

Noch am selben Freitagmittag stehen zwei Mitarbeiterinnen vor der Wohnungstür der Schmidts. Sie sind nicht die ersten Vertreterinnen des Bergheimer Jugendamtes hier. Die Familie wird seit 2017 von einer Familienhelferin unterstützt, doch auf Wunsch von Jana Schmidt wurde die Hilfe 2019 eingestellt. Sie wolle »allein klarkommen«. Für das Jugendamt ist das damals ein »gutes Zeichen«. Die Familie bewohnt in dem Mehrparteienhaus eine 127 Quadratmeter große Dachwohnung. Jedes Kind hat ein eigenes Zimmer, es gibt eine Gästetoilette. Die Miete zahlt das Amt.

Die beiden Sozialarbeiterinnen kennen den Fall nur aus den Akten. Sie werden später die Bauernopfer in diesem Skandal sein, beiden wird die Behörde fristlos kündigen. Weil sie keine Ahnung haben, was sich in der Familie in den letzten beiden Jahren abgespielt hat. Ihnen erklärt die Mutter kurz die angeblichen Fakten: Alina sei zu achtzig Prozent geistig behindert, habe Essprobleme. Die Tochter sei nicht zu Hause, sondern halte sich übers Wochenende bei einem Onkel auf einem Campingplatz in Hennef auf.

Alles gelogen.

Jana Schmidt verweigert den Zutritt zu Alinas Zimmer, sie will erst aufräumen: »Es war ihr unangenehm, wegen der schmutzigen Bettwäsche, dem strengen Geruch und der vollen Windeln in Alinas Zimmer. Sie wollte das Zimmer säubern, bat um eine Viertelstunde«, erinnert sich die Sozialarbeiterin später vor Gericht und ergänzt: »Es war komisch, dass sie uns nicht reinlassen wollte.« In den Akten ist später davon die Rede, dass die Mutter in der Zwischenzeit Alina im Schrank versteckt haben könnte.

Sie ist empört über den unangekündigten Besuch vom Amt, aber einverstanden, dass ein neuer Termin vereinbart wird. Drei Tage später, am 24. August, sitzt Alina apathisch auf dem Teppich im Wohnzimmer und verlangt nach einer Banane – ihrem Mittagessen. Als sie mehr möchte, vertröstet die Mutter sie aufs Abendessen. Jana Schmidt demonstriert den Mitarbeitern, wie schwach die Tochter ist: »Sie hat sie hochgehoben, das Kind sackte mit schmerzverzerrtem Gesicht in sich zusammen.« Alles habe »wie inszeniert« gewirkt.

Das Kind wiegt zu diesem Zeitpunkt 8,2 Kilogramm. Exakt diese Zahl hatte der Kinderarzt bei Alinas Vorsorgeuntersuchung zwölf Monate nach der Geburt im U-Heft notiert. Kinder gleichen Alters und gleicher Größe sollten mehr als das Doppelte auf die Waage bringen.

Die Sozialarbeiterin drängt auf einen Arzttermin. Ihr scheint das Kind »sehr, sehr dünn«. Aber Alinas Zustand sei nicht lebensbedrohlich gewesen. »Sie war wach, brabbelte vor sich hin, war mitten im Geschehen.« Zu keinem Zeitpunkt habe sie sich vorstellen können, »dass von der Mutter eine derartige Gefährdung ausgehen könnte«.

Im Jugendamt übergibt die Sozialarbeiterin am nächsten Morgen der zuständigen Sachbearbeiterin Ilse B. die Akten, sie betreut die Familie seit 2017. Es vergehen noch einmal zwei Tage, bis die Behörde handelt und für Alina einen Arzttermin organisiert. Der Kinderarzt erkennt auf einen Blick den lebensbedrohlichen Zustand der kleinen Patientin. Er untersucht sie erst gar nicht, sondern wählt sofort 112: »Ich bin seit über dreißig Jahren Kinderarzt, aber so ein extremst unterernährtes Kind habe ich noch nie gesehen«, wird er später bei der Polizei aussagen. Mit dem Rettungswagen wird Alina in die Notaufnahme der Kölner Uniklinik gebracht. Dort diagnostizieren die Ärzte »akute Lebensgefahr«.

Jana Schmidt behauptet im Krankenhaus, die Tochter leide an einer Lebensmittelunverträglichkeit, verweigere die Nahrungsaufnahme und habe Magen-Darm-Probleme. Ständig erfindet sie neue Geschichten, neue Krankheiten, neue Ausreden. Alina, so beharrt sie in der Klinik, behalte grundsätzlich kein Essen bei sich, deshalb sei sie in letzter Zeit so stark abgemagert. Der Oberarzt hält vor Gericht dagegen: »Wenn man gesehen hat, mit welchem Genuss das Kind bereits am ersten Tag seiner Aufnahme ein Butterbrot gegessen und bei sich behalten hat, dann steht dieses Bild für sich.«

Alina sei so schwach gewesen, dass die Klinik eine Spezialmatratze organisierte, um einen Dekubitus abzumildern. Allerdings habe sich ihr Zustand »rasant gebessert«. »Wir haben in sechs Wochen nichts anderes getan, als sie mit Nahrung zu versorgen.« Nach vier Wochen hat sie bereits vier Kilogramm zugenommen. Sie isst mit großer Lust, blüht auf, verlangt ständig nach mehr. »Sie hat sich aus diesem schrecklichen Zustand selbstständig herausgegessen«, sagt der Oberarzt. Für das extreme Untergewicht des Kindes, da ist er sicher, gibt es keine medizinische Erklärung. Alina habe vielmehr von der Mutter so gut wie nichts zu essen bekommen.

Dazu passt auch das Verhalten ihrer Mutter in der Klinik. Der Oberarzt nennt es »befremdlich«. Jana Schmidt sei nicht bereit gewesen, über Nacht bei Alina zu bleiben. »Ein Verhungerter leidet sehr. Sie muss sowohl starke körperliche Schmerzen als auch psychische Einschränkungen durchlitten haben«, sagt der Arzt. Im Gespräch mit der Mutter habe er aber keine Besorgnis erkennen können. Der katastrophale Gesamtzustand des Mädchens sei seiner Ansicht nach ausschließlich auf die familiäre Situation zurückzuführen.

Auch das Jugendamt reagiert nun und nimmt Alinas Bruder Paul wegen »möglicher Kindeswohlgefährdung« aus der Familie. Die Polizei wird eingeschaltet. Mit einem Durchsuchungsbefehl stehen die Beamten Tage später in der Wohnung. Im Einsatzprotokoll ist von »verschimmelten Essensresten« die Rede, von »meterhohen Müllsäcken in den Schränken und einer verdreckten Voliere mit zwei Frettchen«. Die Tiere laufen frei herum und hinterlassen in sämtlichen Zimmern beißend riechenden Urin. In der Küche wimmelt es in ungewaschenen Töpfen und Pfannen nur so von Maden. Auf dem Boden liegen im Dutzend ungeöffnete Briefe, Rechnungen, Mahnungen.

Es ergeht Strafanzeige gegen Jana Schmidt und ihren Lebensgefährten Kevin B., ebenfalls dreiundzwanzig Jahre alt, der seit einem Jahr mit ihr zusammenlebt. Die im fünften Monat schwangere Frau kommt am 8. September 2020 in Haft, wegen des Verdachts auf versuchten Totschlag durch Unterlassen und Kindesmisshandlung. Der Oberarzt sagt der Polizei am Telefon: »Das Kind war kurz vor dem Hungertod. Dermaßen unterernährte Kinder gibt es in Deutschland nicht. Solche Bilder kennt man höchstens aus der Tagesschau.«

Die Ermittler haken beim Jugendamt nach. In einer Stellungnahme heißt es, in der Familie sei es nach Auslaufen der Betreuungsmaßnahme 2019 »zu keinen Auffälligkeiten« gekommen. Alinas Gewicht sei bei den kinderärztlichen Untersuchungen zwar »am unteren Rand, aber noch im Rahmen gewesen«.

Auf Anfrage sagt der zuständige Fachbereichsleiter des Bürgermeister- und Ratsbüros in Bergheim, es könne sich um ein »individuelles Augenblicksversagen« gehandelt haben. Die Behörde bleibe nach »gründlicher Prüfung« bei ihrer Aussage, dass »die Strukturen im Jugendamt stimmten«. Von den beiden Mitarbeiterinnen, die Alina am 24. August gesehen und nicht gehandelt hatten, habe man sich mit Aufhebungsvertrag und Kündigung getrennt. Beide übrigens »langjährige Mitarbeiter und keine neuen Kollegen in der Probezeit«. Gegen sie läuft derzeit ein Ermittlungsverfahren bei der Kölner Staatsanwaltschaft wegen unterlassener Hilfeleistung.

Per Kaiserschnitt kommt Anfang Dezember...

Erscheint lt. Verlag 24.11.2023
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Daniel Müller • Fallsammlung • Gerichtsreporterin • Gerichtsurteile • Giftmörder • Kapitalverbrechen • Kölner Schwurgerichtssaal • Lydia Benecke • Mark Benecke • Rückert • Serienmörder • True Crime • Versäumnisse der Behörden • ZEIT Verbrechen
ISBN-10 3-7517-4891-1 / 3751748911
ISBN-13 978-3-7517-4891-9 / 9783751748919
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