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Wenn jeder an sich denkt, ist nicht an alle gedacht (eBook)

Streitschrift für ein neues Wir
eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
240 Seiten
Tropen (Verlag)
978-3-608-11914-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Wenn jeder an sich denkt, ist nicht an alle gedacht -  Jan Skudlarek
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»Jan Skudlarek lädt uns dazu ein, das Kindergartenniveau aktueller liberaler Freiheitsvorstellungen zu überdenken. Es geht um nicht weniger als unsere Zukunft.« Max Czollek Ob Impfpflicht, Abtreibungsverbot, Wehrdienst oder Cannabislegalisierung - ethische Fragen betreffen uns alle. Allgemeinwohl vor Eigeninteresse? Oder: Mein Körper, meine Entscheidung? Der Philosoph Jan Skudlarek erörtert die großen Streitfragen unserer Gesellschaft, deckt gängige Irrtümer und falsche Argumentationen auf und entwirft so eine konkrete Handreichung für solidarisches Handeln im Zeitalter der Krisen. Vor über vierzig Jahren erschien das Hauptwerk des Philosophen Hans Jonas, in dem er sich damit beschäftigt, wo die Freiheit des Einzelnen endet: Das Prinzip Verantwortung. Heute ist die Frage nach Freiheit und Verantwortung brennender denn je - und gleichzeitig ungelöst. Was ist das eigentlich, Verantwortung? Warum fällt sie uns so schwer? Und wieso ist eben nicht an alle gedacht, wenn jeder an sich denkt? Ebenso wie ein Mensch mehr ist als die Summe seiner Zellen und eine Stadt mehr als die Summe ihrer Häuser, zeigen uns die gegenwärtigen Krisen, dass die menschliche Gemeinschaft mehr ist als die bloße Summe ihrer egoistischen Individuen. Doch wie gelingt gesellschaftlicher Zusammenhalt in Krisenzeiten? Jan Skudlarek entwirft in diesem Buch ein neues Wir: eines, das sich mit unserem Streben nach Freiheit und Selbstbestimmung vereinen lässt. Eines, das solidarisch ist. Ein Wir, das trägt und verbindet, statt ausgrenzt und spaltet. »Wenn Freiheit toxisch wird, ist Solidarität die Antwort. Jan Skudlarek entwirft einen neuen Freiheitsbegriff, der uns durch die Krisen unserer Zeit navigiert. Ein kluges, differenziertes Buch.« Pia Lamberty

Dr. Jan Skudlarek (*1986) promovierte über die sozialphilosophische Frage, ob Gruppen handeln können - oder nur Individuen. Seitdem beschäftigt er sich in seinen Büchern und Artikeln mit gesellschaftsphilosophischen Themen. In der Corona-Krise arbeitet Skudlarek vermehrt in der Verschwörungstheorie-Aufklärung - u.a. im Rahmen von (Online-)Workshops klärt er über konspiratives Denken auf und wie wir ihm begegnen können. Er arbeitet darüber hinaus als Dozent der Ethik und der Sozialpolitik an der Medical School Berlin (MSB) und ist Mitglied im wiss. Beirat vonveritas - Der Beratungsstelle für Betroffene von Verschwörungserzählungen. Zuletzt erschien »Wahrheit und Verschwörung« (2019) bei Reclam. Unterwegs auf Twitter und Instagram.

Dr. Jan Skudlarek (*1986) promovierte über die sozialphilosophische Frage, ob Gruppen handeln können – oder nur Individuen. Seitdem beschäftigt er sich in seinen Büchern und Artikeln mit gesellschaftsphilosophischen Themen. In der Corona-Krise arbeitet Skudlarek vermehrt in der Verschwörungstheorie-Aufklärung – u.a. im Rahmen von (Online-)Workshops klärt er über konspiratives Denken auf und wie wir ihm begegnen können. Er arbeitet darüber hinaus als Dozent der Ethik und der Sozialpolitik an der Medical School Berlin (MSB) und ist Mitglied im wiss. Beirat vonveritas – Der Beratungsstelle für Betroffene von Verschwörungserzählungen. Zuletzt erschien »Wahrheit und Verschwörung« (2019) bei Reclam. Unterwegs auf Twitter und Instagram.

»In klarer Sprache verweist Skudlarek auf blinde Flecken in unseren Debatten um Freiheit und Selbstbestimmung.« Timm Lewerenz, taz, 12. September 2023

»Bestimmte Formen des Ich-Denkens […] spielt Skudlarek […] sprachlich mit einer großen Klarheit, mit einer Lebendigkeit, mit einer Zugänglichkeit entlang vieler Fallbeispiele durch.«
Fahrim Amir, Salzburger Nachtstudio, 04.10.2023

»Ein Buch, das vor allem […] durch ganz tolle kleine Beispiele oder auch Gleichnisse einfach und schnell und toll zu lesen ist.«
Radio Eins rbb, 31. August 2023

»Skudlarek schreibt kurzweilig und mit Humor, man muss
kein philosophisches Vorwissen mitbringen. Er ermahnt
dazu, Freiheitsliebe nicht mit Egoismus gleichzusetzen. [...] Das Buch kommt zur richtigen Zeit, ohne unangenehm belehrend zu wirken.«
Simone Scheinert, Praxis Kommunikation, Heft 05/2023

»Das Buch ist kurzweilig und gut zu lesen, macht aber an vielen Stellen auch nachdenklich. Skudlarek […] fordert ein deutliches Umdenken – weg vom Egoismus und der Ich-Bezogenheit hin zu einer gemeinschaftlichen Perspektive.«
Nicole Ahles, NDR, 20. August 2023

»[Das Buch ist] auch wegen seiner kleinen Beispiele oder auch Gleichnisse kurzweilig und gut zu lesen, und macht nachdenklich. Es macht deutlich, dass die Freiheit des Einzelnen immer nur zu haben ist, wenn auch die Gesellschaft erhalten bleibt.«
Helmut Schaaf, Hallo, 30. Dezember 2023

»Eindringlich, gut lesbar, stets auf den Punkt und polemisch im verträglichen Maße.«
Anne Aschenbrenner, Buchkultur, 25. August 2023

Kapitel 1

Me, Myself and I – Die individualistische Gehirnwäsche


Auf die Bitte des Energieministers Robert Habeck an die Bürgerinnen und Bürger, in Zeiten knapper Ressourcen nicht Ewigkeiten unbesorgt zu duschen, entgegnete FDP-Politiker Wolfgang Kubicki, damaliger Bundestagsvizepräsident: »Robert Habeck darf gerne so kurz duschen, wie er es für richtig hält. Ich schaue jedenfalls nicht auf die Uhr, wenn ich in der Dusche stehe. Ich dusche so lange, bis ich fertig bin.«[6] Einer der profiliertesten Politiker des Landes prahlte medial mit seinen Duschvorlieben. Ins selbe Horn blies Helmut Markwort, Gründer des Magazins Focus: »Ich komme schamlos durch die Woche. Gestern habe ich trotz der Ermahnungen durch den Aktualitätsphilosophen Robert Habeck ausgiebig geduscht. Ich empfinde keine Spur von Duschscham und denke nicht daran, das erfrischende Wasser in Litern zu messen und zu rationieren. […] Die mündigen Bürger sollen in eigener Verantwortung entscheiden, wie sie mit ihrem Verhalten zum Gemeinwohl beitragen wollen.«[7] Und eine Bild-Kolumnistin wagte gar die kühne These: »Duschen ist die neue Freiheit!«[8]

Der Spott in diesen Zeilen ist kaum zu überlesen. Wir lesen hier nicht bloß die Meinungen von Menschen, die sich nicht in ihrer Handlungspraxis einschränken lassen wollen. Es geht hier nicht nur um Mündigkeit und Freiheit, nein, in diesen Aussagen steckt mehr. Jenseits unbändiger Freiheitsliebe schimmert Verachtung durch für jene, die es auch nur wagen, ihre Mitmenschen an die soziale Dimension des Freiheitskonzepts zu erinnern. Zur Debatte steht offenbar nicht nur, wie »die mündigen Bürger mit ihrem Verhalten zum Gemeinwohl beitragen«, sondern ob sie das überhaupt tun.

Ähnliches sah man während Corona. Abgesehen von einer die Maßnahmen mittragenden und sie aktiv umsetzenden Mehrheit, gab es Millionen Deutsche, die sich nicht haben impfen lassen. Millionen Mitbürger, die die Maskenpflicht ignorierten oder ihre Masken nur halbherzig, vielmehr halbnasig trugen. Der Vordenker der Verweigerung, Helmut Markwort, schrieb im selben Text, aus dem das obige Zitat stammt: »Im Flugzeug lässt sich das Pflichtbewusstsein studieren. Am Flughafen in Frankfurt verkündet der Hallensprecher, an Bord sei eine FFP2-Maske Pflicht. Das ist falsch. An Bord überreichen die Stewardessen den Passagieren eine leichte Maske. Die meisten setzen sie gehorsam auf. Ich stecke sie in die Tasche, weil ich weiß, dass das Bordpersonal nicht mehr kontrolliert.«

Hier lesen wir die Vorstellung heraus, in Krisensituationen ginge es nicht um Krisenbewältigung, sondern allein um Kontrolle und Gehorsam. Das sah auch Verleger Stefan Aust so: »Die Maske muss der Maske wegen getragen werden. Als Symbol für Gehorsam den Maßnahmen der Regierung gegenüber.«[9] Die Idee einer gemeinsamen Kraftanstrengung, einer kollektiven Krisenbewältigung, einer Wendung zum Besseren durch prosoziale Mitarbeit – in Zeilen wie diesen taucht sie nicht einmal ansatzweise auf.

Die Dusch- und Maskendebatten lenken unseren Blick auf ein echtes Problem: Selbst unsere Körper sind politisch. Die Politik macht keineswegs am Körper halt. Auch das Private hat eine offenkundige soziale, ja sozialethische Dimension.[10] Und das Zauberwort, das diese eigennützigen Handlungsweisen begründet, lautet: Individualismus. Weil allerdings mit Individualismus, wissenschaftlich wie alltagssprachlich, allerlei Dinge bezeichnet werden, möchte ich von vornherein präzisieren. Das, was ich hier ausführe und kritisch betrachte, ist nicht der Individualismus an sich, sondern das, was ich »die individualistische Gehirnwäsche« nenne.

Die individualistische Gehirnwäsche besteht in der (post-)modernen, neoliberalen, insbesondere westlichen Überzeugung, der unabhängige Alleinherrscher seiner eigenen, individuellen Wirklichkeit zu sein. Dahinter steckt die Fehlannahme, eine Maximierung des Ichs sei der Inbegriff und ganz und gar identisch mit dem Konzept der Freiheit. Duschen bis zum Umfallen! Nieder mit der Maske! Verzichten sollen die anderen!

Die individualistische Schieflage ist einflussreich und omnipräsent. Um den westlichen Drang, das Individuum in den Mittelpunkt zu stellen, besser zu verstehen, müssen wir uns ansehen, wie es dazu gekommen ist. Woher stammt die große Selbstverständlichkeit, mit der manche Menschen sich verhalten, als wären sie allein auf der Welt? Woher die Selbstgewissheit, dass es in Ordnung ist, mit den eigenen Bedürfnissen die Interessen anderer zu überschreiben? Wie kommt es, dass ich meinen Körper nicht als einen Körper unter vielen verstehe, sondern als den einzigen, auf den es wirklich ankommt? Um diese Fragen zu beantworten, werfen wir zunächst einen Blick in die Vergangenheit.

Von Herdentieren zu Einzelmenschen


Evolutionsbiologisch gesehen, ist das Einzelleben keineswegs die Norm. Der Homo sapiens ist nicht als Spezies entfernt voneinander lebender Eremiten entstanden. Das Gegenteil ist der Fall: Der Mensch entstammt der Sippengemeinschaft. Wenn wir vom Urmenschen als Jäger und Sammler sprechen, meinen wir nicht verstreute Einzelgänger, die jagen und sammeln, sondern eine arbeitsteilige Jagd- und Sammelgesellschaft.

Dasselbe gilt für die Sesshaftwerdung des Menschen vor circa zehntausend Jahren. Die ersten sesshaften Menschen waren keine einsamen Farmer, die auf sich gestellt Landstriche kultivierten, einsam Vieh hielten und solitär Gemüse anbauten. Die ersten Bauern lebten in Kleingruppen. Und das notwendigerweise: Die soziale Lebensgemeinschaft war eine Überlebensgemeinschaft. Dies änderte erst mal nichts an einer immens hohen Mortalitätsrate. Die allerwenigsten Kinder erlebten das Erwachsenenalter. Das ging bis in die jüngere Vergangenheit: Noch im Deutschland des 19. Jahrhunderts starb jedes zweite Kind. Dass wir Kindheit nicht mehr automatisch mit hoher Sterblichkeit assoziieren, ist die Leistung unseres modernen Gesundheitswesens.

Die Menschheit hat sich vervielfacht und zugleich vereinzelt. Und sie vereinzelt sich weiter: Während es 1991 noch knapp über elf Millionen deutsche Einpersonenhaushalte gab, leben heute, drei Jahrzehnte später, schon um die 17 Millionen Menschen in Deutschland ohne Mitbewohner oder Mitbewohnerin.[11] 17 Millionen ohne Familie, ohne WG, ohne Sippe.

Aus soziologischer Perspektive wurde die Sippschaft im Lauf der Jahrhunderte auf ein Minimum reduziert: die sogenannte Kernfamilie. Statistisch gesehen, sind das heutzutage: Mutter, Vater und ein bis zwei Kinder. Und mittlerweile ist für das Überleben dieser Kinder bestens gesorgt. Die Lage ist keineswegs perfekt, jedoch war sie auch noch nie besser: Die Kindersterblichkeitsrate war niemals niedriger. Laut dem UNICEF-Report zum dreißigjährigen Bestehen der Kinderrechtskonvention »sank die Zahl der verstorbenen Kinder unter fünf Jahren weltweit von 95 je 1000 Lebendgeburten im Jahr 1989 auf 39 im Jahr 2018«.[12]

Ebenso vorwärts geht es aus pädagogischer Sicht. Das gewaltsame Abrichten des eigenen Nachwuchses ist passé. In den meisten Kernfamilien gehört es, spätestens seit der 68er-Revolution, zudem zum guten Stil, Raum für individuelle Entfaltung zu lassen. Der familiäre Gruppenzwang und der umerziehende Kollektivismus früherer Jahrzehnte haben nicht vollständig, aber überwiegend ausgedient. Der Sohn hört Metal, was alle anderen zwar irritiert, aber sie tolerieren es; der Vater werkelt wochenends im Garten, wozu sich sonst niemand so recht begeistert; die Mutter liest Krimis, die abgesehen von ihr keinen interessieren; und die Idole der Tochter sind TikTokerinnen und YouTuber, von denen der Rest der Familie beim besten Willen noch nie gehört hat. Kurzum hat jeder seine eigene Persönlichkeit und sein eigenes individuelles Präferenzverhalten. Und dieses eigene Präferenzverhalten wird – natürlich idealtypisch und nicht immer frei von Konflikten – von den anderen Familienmitgliedern geduldet oder gar gefördert. Jeder macht sein Ding. Auch beim Duschen schaut niemand auf die Stoppuhr, solange man nicht das einzige Bad im Haus blockiert.

Der moderne, vor allem westliche Mensch hat die Qual der Wahl, seinen Berufsweg, seine Vorlieben, sein Privatleben, also seinen gesamten Lebensweg aus einer unendlichen Anzahl von Optionen auszuwählen. Wir probieren uns aus und behalten bei, was zu uns passt. Wohin man auch sieht: autonome Subjekte überall. Freiheit. Wo liegt das Problem?

Die drei Säulen des Individualismus


Von einer aufeinander angewiesenen Überlebensgemeinschaft hin zu einem eher...

Erscheint lt. Verlag 19.8.2023
Verlagsort Stuttgart
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte abtreibungsverbot • Cannabislegalisierung • das Prinzip Verantwortung • Egoismus • Eigeninteresse • Ethik • Freiheit • Gemeinschaft • Gemeinwohl • Hans Jonas • Impfpflicht • Krisenzeitalter • Solidarisches Miteinander • Solidarität • Verantwortung • Verantwortungsethik • Wehrdienst
ISBN-10 3-608-11914-0 / 3608119140
ISBN-13 978-3-608-11914-5 / 9783608119145
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