Das Böse. Eine philosophische Spurensuche (eBook)
160 Seiten
Reclam Verlag
978-3-15-962118-0 (ISBN)
Luke Russell ist Professor am Department of Philosophy der University of Sydney. Dort unterrichtet er Ethik und Critical Thinking.
Luke Russell ist Professor am Department of Philosophy der University of Sydney. Dort unterrichtet er Ethik und Critical Thinking.
1 Das philosophische Rätsel des Bösen
2 Das Grauenhafte und die Unbegreiflichkeit bösen Handelns
3 Das psychische Kennzeichen bösen Handelns
4 Die Banalität des Bösen
5 Eine böse Person
6 Sind Sie böse? Ist irgendjemand böse?
Zu dieser Ausgabe
Quellen
Weiterführende Literatur
Register
1 Das philosophische Rätsel des Bösen
Existiert das Böse? Um diese Frage beantworten zu können, müssen wir zunächst klären, was der Begriff ›böse‹ eigentlich bedeutet. Was kommt Ihnen in den Sinn, wenn Sie dieses Wort hören? Steht Ihnen ein stereotypischer Schurke aus Filmen oder literarischen Werken vor Augen – etwa Voldemort aus Harry Potter, Ramsay Bolton aus Game of Thrones oder der Imperator aus Krieg der Sterne – also Geschöpfe jener Art, die andere vorsätzlich zu vernichten trachten, denen es Vergnügen bereitet, ihnen Leiden zuzufügen, und die hämisch vor sich hin kichern, wenn sie ihre heimtückischen Taten ausbrüten? Möglicherweise kommen Ihnen statt ihrer auch Superhelden in den Sinn, die berufen sind, ihre Kräfte in den Dienst des Guten statt des Bösen zu stellen. Vielleicht fällt Ihnen auch Googles früheres Firmenmotto »Don’t be evil« ein.
Wenn jemand den Begriff in solchen Zusammenhängen benutzt, neigt er anscheinend zu Übertreibungen. Das Böse ist schaurig und schlimm, in solchen Werken ist es aber dermaßen schaurig und schlimm, dass etwas Unrealistisches, ja sogar Lächerliches mitspielt, und ›das Böse‹ taumelt dann an der Grenze zum Komischen. Die Figur des Dr. Evil in den Austin Powers-Filmen überschreitet die Schwelle zwischen den beiden Bereichen, und man könnte vielleicht zu der Ansicht gelangen, dass es albern und kindisch ist, vor dem Böööösen Angst zu haben. Wenn wir uns auf Beispiele der genannten Art konzentrieren, könnten wir zu dem Schluss kommen, dass es im ernsthaften Nachdenken über die Moralität des Menschen keinen Platz für das Konzept des Bösen gibt.
Für einige Menschen besitzt aber das Wort ›böse‹ eine Reihe ganz anderer Konnotationen. Für sie gehört es nicht dem Bereich des Fiktiven an, sondern es klingt eindeutig religiös. Wenn wir uns zum Beispiel mit dem christlichen Glauben befassen, stoßen wir auf eine Fülle von Erwähnungen des Bösen. Im Garten Eden aßen Adam und Eva von der verbotenen Frucht und erlangten so Kenntnis von Gut und Böse. Wenn Christen das Vaterunser beten, bitten sie darum, von dem Bösen erlöst zu werden. Thomas von Aquin weist uns an, Gutes zu tun und das Böse zu scheuen. Dem scheint die Vorstellung zugrunde zu liegen, dass Böses einfach das Gegenteil des Guten ist. Anderswo im christlichen Schrifttum scheint eine radikalere – einige würden sie auch eine bizarrere nennen – Auffassung vom Bösen ins Spiel zu kommen. In den Evangelien wird wiederholt Bezug auf Satan genommen, auf ein böses übernatürliches Wesen, das Krankheit verursacht und in die Herzen der Menschen fährt, wodurch diese zur Sünde verführt werden. Im Buch der Offenbarung wird Satan als Riesendrache geschildert, der einen kosmischen Kampf gegen Gott austrägt. Für diejenigen von uns, die nicht an Gott glauben, wirkt diese übernatürliche Darstellung des Bösen ähnlich phantasievoll wie das Bild, das in Harry Potter und in Krieg der Sterne von ihm entworfen wird. Mehr noch: Es scheint gefährlich zu sein, zu glauben, dass derartige Manifestationen des Bösen in der realen Welt tatsächlich existieren. Wir sollten die schrecklichen Hexenprozesse früherer Jahrhunderte nicht vergessen, die zur Folge hatten, dass Tausende Unschuldige gefoltert wurden und auf dem Scheiterhaufen endeten – alles nur aufgrund der Überzeugung, dass es böse Geister gibt und Dämonen Besitz von Menschen ergreifen können. Zeitgenössische Politiker, die in ihren Reden von der Existenz des Bösen sprechen, werden manchmal bezichtigt, genau diese Art von moralischem Klima zu erzeugen: ihre Gegner zu dämonisieren, den Mob aufzuwiegeln und zu blindwütiger Zerstörung anzustacheln. Einige Philosophen untersuchen dieses weite Feld und kommen zu dem Schluss, dass wir skeptisch sein sollten in Bezug auf die Existenz des Bösen. Die Vorstellung von der Existenz des Bösen scheint ein überholtes – und darüber hinaus ein gefährliches Konzept zu sein.
Doch sollten wir auf der Grundlage dieser Beispiele vorschnell schließen, dass das Böse nicht real ist? Dem Philosophen Ludwig Wittgenstein zufolge ist eine »Hauptursache philosophischer Krankheiten – einseitige Diät: man nährt sein Denken mit nur einer Art von Beispielen«. Um das anhand einer Analogie deutlich zu machen: Will man das Wesen von Politik verstehen, nimmt aber nur westliche liberale Demokratien in den Blick, wird man die wesentlichen Kennzeichen von Monarchien, kommunistischen Staaten, Diktaturen usw. nicht in Erfahrung bringen. Oder will man das Wesen von Musik begreifen, wäre man fehlgeleitet, wenn man sich nur auf Heavy Metal konzentrierte und klassische Symphonien, afrikanische Trommelmusik, Jazz usw. einfach ignorierte. Stellt man eine philosophische Untersuchung an, gewinnt man dann am besten Erkenntnisse, wenn man ein ganzes Spektrum von unterschiedlichen Beispielen in Augenschein nimmt. Diejenigen, die hoffen, das Wesen des Bösen zu erfassen, indem sie sich ausschließlich auf phantastische Literatur, Science-Fiction und religiöse Texten konzentrieren, nehmen genau diese Art von einseitiger Diät zu sich. Anstatt unseren Blick auf solche Weise einzuengen, sollten wir das breite Spektrum von Geschehnissen in der realen Welt betrachten, die gewöhnliche Menschen dazu veranlassen, sie als ›böse‹ zu bezeichnen. Leider ist das eine abstoßende Aufgabe und dazu angetan, Ekel und Verzweiflung in einem wachzurufen. Es fällt schwer, die schlimmsten moralischen Verstöße in der menschlichen Geschichte vor seinem inneren Auge Revue passieren zu lassen und sie nüchtern zu durchdenken. Genau das ist es aber, was wir tun müssen, wenn wir herausfinden wollen, was als das Böse angesehen wird und ob es existiert. Einige von uns kommen, nachdem sie diese Beispiele durchgegangen sind, möglicherweise immer noch zu dem Schluss, dass es so etwas wie das Böse nicht gibt. Es könnte sich herausstellen, dass Menschen, die an die Existenz des Bösen glauben, einer Art geistiger Verwirrung zum Opfer fallen, übertreiben oder etwas in die Welt hineinprojizieren, das in Wirklichkeit nicht da ist. Wir sollten nicht im Voraus über die Angelegenheit urteilen, sondern erst einmal das zur Kenntnis nehmen, was gewöhnliche Menschen über das Böse sagen und in Bezug darauf glauben. Im Anschluss können wir dann der Frage nachgehen, ob ihre Behauptungen und Ansichten korrekt sind.
Wenn wir das breite Spektrum von Fällen, in denen Leute behaupten, dass etwas böse ist, in Augenschein nehmen, fällt uns etwas recht Überraschendes auf: Manchmal verwenden wir das Wort einfach als Synonym für ›schlecht‹. Wenn wir das tun, braucht ›böse‹ nicht notwendig einen Beiklang von Extremität zu haben. Ähnlich wie es nur geringfügige oder belanglose schlechte Dinge geben kann, kann es auch nur geringfügige oder unbedeutende böse Dinge in diesem Sinne geben. Nehmen wir einmal an, dass Sie vor irgendeinem Dilemma stehen und Ihnen nur die Wahl zwischen zwei schlechten Optionen bleibt. Man könnte die Entscheidung, die man am Ende trifft, erklären, indem man sagt, dass man das geringere ›Übel‹ – die weniger ›böse‹ Möglichkeit – gewählt hat. Verwendet man ›böse‹ so, schließt man damit nicht automatisch ein, dass beide Möglichkeiten extrem und erschreckend waren. Man deutet nur an, dass man zu der weniger schlimmen Option gegriffen hat. Verwendet man das Wort ›böse‹ als bloßes Synonym für ›schlecht‹, kann es sich in moralischer Hinsicht auf verwerfliche Taten beziehen, wie etwa auf tückische Angriffe, es kann aber auch auf etwas angewendet werden, das schlecht oder schlimm ist, ohne unmoralisch zu sein, etwa dafür, den Schmerz zu charakterisieren, den man verspürt, wenn man sich den Zeh stößt. Wenn wir das Oxford English Dictionary zu Rate ziehen, um uns über die Etymologie des Wortes ›evil‹ zu informieren, erfahren wir, dass es sich vom Altenglischen ›yfel‹ herleitet, was ›über‹ oder ›darüber hinaus‹ bedeutet, und dass das Wort ›evil‹ jahrhundertelang einfach als Synonym für ›übel‹, ›beschwerlich‹ und ›schmerzhaft‹ verwendet wurde.1
Heutzutage könnte es seltsam anmuten, den Begriff ›böse‹ zu verwenden, um nicht mehr als ›schlecht/übel‹ zu meinen. Ein Restaurantkritiker, der ein negatives Urteil über ein Essen abgibt, würde zum Beispiel wohl kaum sagen, dass es ›böse‹ war. Dieser Gebrauch des Wortes wird aber jedem vertraut sein, der mit dem in Berührung gekommen ist, was Philosophen und Theologen »Problem of evil« nennen. Dass Übel in der Welt existieren, stellt...
Erscheint lt. Verlag | 19.5.2023 |
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Reihe/Serie | Reclam. Denkraum |
Übersetzer | Michael Müller |
Verlagsort | Ditzingen |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
ISBN-10 | 3-15-962118-9 / 3159621189 |
ISBN-13 | 978-3-15-962118-0 / 9783159621180 |
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