Klimakrise und Gesellschaftstheorie (eBook)
219 Seiten
Campus Verlag
978-3-593-45539-6 (ISBN)
Helmut Willke (1945-2024) war Professor für Global Governance und Vizepräsident für den Bereich Forschung an der Zeppelin Universität in Friedrichshafen. Er lehrte Soziologie, Global Governance und Staatstheorie an der Universität Bielefeld, in Washington, D.C., Genf und Wien.
Helmut Willke (1945–2024) war Professor für Global Governance und Vizepräsident für den Bereich Forschung an der Zeppelin Universität in Friedrichshafen. Er lehrte Soziologie, Global Governance und Staatstheorie an der Universität Bielefeld, in Washington, D.C., Genf und Wien.
1.Einleitung
Die Welt ist aus den Fugen.1 Ihr werden viele Tode vorausgesagt. Zustandsbeschreibungen und Prognosen haben eine Anmutung von Apokalypse.2 Je nach Fachrichtung und betroffenem gesellschaftlichen Funktionssystem sind es unterschiedliche Katastrophen, aber alle spezialisierten Teilsysteme sind sich sicher, dass das von ihnen prognostizierte Ende das Nächstliegende sei. Biologen3 sehen ein finales Artensterben und die Disruption der Naturkreisläufe; Umweltaktivisten den ökologischen Kollaps der Welt; die Wirtschaft sieht die Erschöpfung essentieller Ressourcen; die Militärs die Proliferation von Atomwaffen, die nicht immer in ihren Silos verbleiben werden; die Computerwissenschaftler erwarten den Zusammenbruch der globalen digitalen Infrastrukturen durch Cyberattacken; die Entwicklungspolitik ein Auseinanderbrechen der Welt in Superreiche und hoffnungslos Verarmte, was zu desaströsen Migrationsströmen führt; die Finanzwissenschaftler den großen finalen Börsencrash durch globale Bubbles und digitale Währungen; die Gesundheitssysteme das Ende durch neuartige Pandemien, Zivilisationskrankheiten, Überalterung und den Zusammenbruch der Gesundheitssysteme; und die Risikoforscher beschreiben das Ende der Welt durch bislang unbekannte systemische Risiken, welche selbst die zarten Ansätze von Resilienz überfordern.
Alle diese (und viele weitere) Endzeitszenarien sind real, leiden aber auch unter Ausblendungen. Dies liegt daran, dass jedes Teilsystem der Gesellschaft notwendigerweise zahlreiche Aspekte seiner Umwelt ausblendet, weil es nach seiner eigenen, funktional differenzierten Logik operiert. Was dabei zu kurz kommt, ist die Einheit der Vielfalt. Die Teile blenden aus, dass die Welt als Gesamtsystem sich nicht einer Teillogik fügt, sondern dass sie alle funktional differenzierten Logiken unter ihrem Dach vereinen und irgendwie kompatibel halten muss.
Spezialisten sind in ihren professionellen Denkmustern verfangen, und Funktionssysteme kennen nur ihre je eigene Logik, die sie ihrer Weltsicht zugrunde legen. Dies ist keine Kritik, sondern konstatiert nur die Folgen der funktionalen Differenzierung jedes komplexen, modernen Gesellschaftssystems. Weil diese Dynamik, für sich genommen, ein System in seine Einzelfunktionen zerreißen müsste, bildet es übergreifende integrative Mechanismen, Formen und Institutionen aus, die den Zusammenhalt des Ganzen zur Aufgabe haben und dafür sorgen, dass das System insgesamt überlebt. Differenzierung heißt in diesem Zusammenhang, dass jedes Funktionssystem seine eigene Operationslogik, seinen Leitcode und sein Medium ausbildet und somit blind und taub wird für die Logiken, die Codes und die Medien anderer Funktionssysteme. Integration bedeutet demgegenüber, dass die im Systemganzen herrschenden Interdependenzen nicht über Vermischung, sondern über ›dritte‹ Systeme in Form struktureller Kopplungen moderiert werden, um das Paradox einer gleichzeitigen Schließung und Öffnung zu entfalten.4
Betrachtet man die ökologische Krise, fällt auf, dass sich die gesellschaftliche Kommunikation über Ökologie meist nicht in der Sprache von Personen abspielt, sondern in der Operationslogik der betroffenen Funktionssysteme, d.h. in der Sprache der Medien generalisierter Kommunikation: vor allem Macht (Politik), Geld (Ökonomie), Wissen (Wissenschaft), Glaube (Religion) und Moral (Lebenswelt). Es sind diese gesellschaftlichen Kommunikationsmedien, die systemisch verdichtete, routinisierte und komprimierte Kommunikationen produzieren und damit die Grammatik der Selbststeuerung der gesellschaftlichen Funktionssysteme definieren. Jedes der gesellschaftlichen Teilsysteme kommuniziert über Ökologie in einer anderen Sprache und ist somit zunächst für alle anderen Subsysteme unverständlich. Es rekonstruiert das Umweltproblem mit den Mitteln seiner eigenen Logik und sieht nur das, was es im Rahmen dieser Logik sehen kann. Die Teilsysteme sind somit blind für die Sichtweisen der anderen, nehmen jedoch für sich in Anspruch, ›das Problem‹ hinreichend thematisiert und verstanden zu haben.
In der klassischen Form der nationalstaatlich organisierten modernen Gesellschaft übernimmt klassischerweise die Politik die Funktion der Instanz, welche diese unterschiedlichen Weltsichten, Konstruktionen und Problembeschreibungen zusammenführt. Sie ist das Einzige der vielen Funktionssysteme, das für die Gesellschaft insgesamt verantwortlich ist. Ihre zentrale Aufgabe besteht darin, kollektiv verbindliche Entscheidungen (in Demokratien im Parlament) zu treffen und durchzusetzen. Somit kann sie allen anderen Teilsystemen in Form von Gesetzen legitimerweise Vorgaben machen und Beschränkungen auferlegen. Diese Beschränkungen sind unabdingbar, um die zentrifugale Dynamik der spezialisierten Funktionssysteme einzugrenzen und auf diejenigen Optionen zu limitieren, die mit den Prämissen der Gesamtgesellschaft vereinbar sind.5 So beschränkt die Politik ein prinzipiell schrankenloses Wachstum der Ökonomie insbesondere durch Steuern, Standards und Regulierungen. Ebenso beschränkt sie den prinzipiell unbegrenzten Forscherdrang des Wissenschaftssystems durch (ethisch begründete) Forschungsgrenzen und setzt selbst der Freiheit des Kunstsystems – etwa durch Regeln gegen Pornographie oder Rassismus – gewisse Grenzen. Gleiches gilt für jedes gesellschaftliche Funktionssystem. Diese Kompetenz des (modernen) politischen Systems macht den Nationalstaat handlungsfähig, gemäß dem Prinzip der Souveränität nach außen, und der Legitimität nach innen. Sie versetzt die Nationalstaaten in die Lage, Strategien zu entwerfen, Programme zu implementieren und politische Ziele zu erreichen.
Die ökologische Krise ist allerdings nicht auf einzelne Nationalstaaten begrenzt, sondern das Paradigma einer globalen Krise. Weil einzelne Staaten anders operieren als globale Systeme, sind die Unterschiede zwischen den Operationsmodi der nationalstaatlich organisierten Gesellschaften einerseits und globalen Kontexten – bis hin zu einer Art Weltgesellschaft und Weltpolitik – andererseits von zentraler Bedeutung für alle Einschätzungen und Behandlungen der ökologischen Krise. Die Nationalstaaten sind die einzigen Akteure, die für ihre Territorien verbindlich handeln und beispielsweise ökologische Programme implementieren können. Ihre Reichweite ist jedoch auf das jeweilige Territorium begrenzt und erreicht daher eine ökologische Krise mit globalen Ursachen und Folgen gerade nicht.
Die Nationalstaaten sind gefangen im Dilemma lokaler Steuerungskompetenz bei globaler Problemkonstellation. Komplementär dazu erreichen globale Akteure zwar die passende Ebene und den passenden Kontext einer globalen ökologischen Krise, aber ihnen fehlen die Kompetenzen für Steuerung und Implementierung. Beide komplementären Dilemmata belegen ein seit Jahrzehnten andauerndes Versagen aller relevanten Akteure, tatsächlich wirkende Maßnahmen gegen den fortschreitenden Verfall der ökologischen Stabilität einzuleiten. Die Nationalstaaten wollen, aber können nicht; die globalen Akteure können, aber dürfen nicht. Und so schleppt sich die Welt durch die zunehmende Dichte lokaler Krisen und Katastrophen in der wohl vergeblichen Hoffnung, dass die große Katastrophe, die das Weltmodell des Club of Rome bereits Ende der 1960er Jahre für die Mitte des 21. Jahrhunderts vorausgesagt hat,6 irgendwie vermieden werden kann.
Es geht in diesem Text weder um Anklagen noch um Schuldzuweisungen noch um Panikmache. Vielmehr möchte ich gesellschaftstheoretisch fundierte Zusammenhänge erläutern, die verständlich machen können, warum die Welt, die Nationalstaaten und ihre Funktionssysteme scheinbar unbeeindruckt einer Dynamik zusehen, die für alle Beteiligten gut erkennbar zum ökologischen Kollaps führt. Bildlich gesprochen, rast ein gewaltiger Komet auf die Erde zu und droht, sie zu zerstören. Gleichzeitig berechnet die Ökonomik nur den Wert seiner seltenen Erden, die Wissenschaft ist fasziniert von seiner Herkunft und Trajektorie, die Politik interessiert sich nur dafür, in welchem Land er zuerst einschlägt, das Gesundheitssystem sorgt sich nur um mögliche biologische Verunreinigungen durch unbekannte Lebensformen und das Religionssystem betrachtet den Kometen als interessante Botschaft der Götter. Niemand ist jedoch in der Lage, die Situation insgesamt zu erfassen.
Auch die unterschiedlichen Disziplinen des...
Erscheint lt. Verlag | 19.7.2023 |
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Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sozialwissenschaften ► Soziologie ► Spezielle Soziologien |
Schlagworte | 1 • 5-Grad-Ziel • Club of Rome • Fridays For Future • Grenzen des Wachstums • Klimakatastrophe • Klimapolitik • Klimawandel • letzte Generation • Niklas Luhmann • Ökologie • ökologische Verblendung • Ökonomie • Politische Theorie • Systemtheorie • Umweltschutz • Umweltzerstörung • Wachstumsgesellschaft • Weltpolitik • Wirtschaft • Wissenschaft |
ISBN-10 | 3-593-45539-0 / 3593455390 |
ISBN-13 | 978-3-593-45539-6 / 9783593455396 |
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