Infrastrukturen der Anerkennung (eBook)
453 Seiten
Campus Verlag
978-3-593-45551-8 (ISBN)
Christian Schulz ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Sonderforschungsbereich TRR 318 »Constructing Explainability« und Mitglied am Arbeitsbereich Digital Humanities an der Universität Paderborn. Seine Forschungsinteressen sind soziale Medien und ihre Medientheorien, Algorithmen und Datenpraktiken, Theorien des Subjekts und digitale Fotografie
Christian Schulz ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Sonderforschungsbereich TRR 318 »Constructing Explainability« und Mitglied am Arbeitsbereich Digital Humanities an der Universität Paderborn. Seine Forschungsinteressen sind soziale Medien und ihre Medientheorien, Algorithmen und Datenpraktiken, Theorien des Subjekts und digitale Fotografie
Einleitung
Soziale Medien bestimmen nicht nur unsere Lage, vielmehr gibt es um soziale Medien auch eine Art Lagerbildung. Auf der einen Seite stehen Untergangserzählungen, die einen Kulturverfall betonen und von Apologeten wie beispielsweise dem Ulmer Hirnforscher und Psychiater Manfred Spitzer mit vermeintlich seriösen Erkenntnissen hinsichtlich einer durch soziale Medien induzierten »Smartphone-Epidemie«1 oder gar einer »digitalen Demenz oder Depression«2 bespielt werden. Auf der anderen Seite lassen sich demgegenüberstehende Empowerment-Narrative ausmachen, wie sie etwa in Form eines neuen »Netz- oder Selfie-Feminismus«3 auf den Plan treten. Obgleich mit dieser schematischen Gegenüberstellung keinesfalls die den jeweiligen Lagern (und darüber hinaus unterschiedlichen Disziplinen) angehörenden Autor:innen gleichgesetzt werden sollen, ist diese Zweiteilung in der Rezeption rund um soziale Medien auch relativ symptomatisch für einen dezidiert kommunikations- und medienwissenschaftlichen Diskurs hinsichtlich sozial-medialer Phänomenbereiche in den letzten Jahren. Auch hier lassen sich Lager ausmachen, die sich mitunter und relativ schematisch zwar in ähnliche Dichotomien von Kontrolle einerseits und Empowerment andererseits aufteilen lassen.
Vor allem aber zeigen sich diese Gegenpole im Kontext von im weitesten Sinne medienkulturwissenschaftlichen Zugängen aber auch insbesondere im methodisch-theoretischen Forschungsdesign. Während es auf einer strukturellen, häufig kulturkritisch geprägten und/oder marxistisch orientierten Forschungsebene in erster Linie darum geht am Begriff der »Produktion« ausgerichtete Ideologiekritik zu betreiben oder etwa eine damit verbundene Ausbeutung von Datensubjekten zu thematisieren4, gibt es auf der anderen Seite eine ganze Reihe von ethnografisch oder im engeren Sinne praxistheoretisch ausgerichteten Arbeiten, die sich sehr genau mit entsprechenden (und mitunter auch ermächtigenden oder gar subversiven) Nutzer:innenpraktiken auf oder mit bestimmten sozialen Medienplattformen beschäftigen und diese oft äußerst präzise sowie für Außenstehende nachvollziehbar zu schildern vermögen.5 Beiden Forschungszugängen fehlt häufig jedoch nicht nur eine dezidierte Auseinandersetzung mit den technologischen Infrastrukturen solch sozialer Medienplattformen (und damit ist nicht nur die Ebene des Codes oder der Software gemeint), die im Zuge einer ökonomischen oder eben auf die Praktiken fokussierten Engführung meist nur am Rande Erwähnung finden. Es zeigt sich anhand dieser Studienlage im Bereich sozialer Medienforschung vielmehr eine augenscheinliche Zweiteilung in strukturelle Ansätze auf der einen und in vorwiegend an der Beschreibung von Praktiken interessierte Ansätze auf der anderen Seite, die nicht zufällig auch mit den eingangs genannten dystopischen oder utopischen Narrativen korrespondieren.
Für eine Theoretisierung sozialer Medien ist diese Zweiteilung allerdings auch deshalb wenig aufschlussreich, weil strukturelle Ansätze oft wenig bis nichts über die eigentlichen Nutzer:innenpraktiken verraten und insofern die daraus abgeleiteten Theoretisierungen auch wenig präzise sind, weshalb dann auch eben häufig eine übergeordnete Engführung, etwa auf das Primat des Ökonomischen, erfolgt. Demgegenüber vermögen ethnografisch oder praxistheoretische Ansätze oft nichts Substantielles zu einer nach wie vor fehlenden allgemeinen Theorie sozialer Medien beizutragen, die über die beschreibende Ebene von singulären Praktiken oder die sozial-medialen Logiken einzelner Dienste und Plattformen hinausreicht. Zudem kann diese Zweiteilung nicht einfach in einer Dialektik von System und Praktiken aufgelöst werden, wie verschiedene, dem praxistheoretischen Lager zuzurechnende Autor:innen postulieren6, da damit ganz im Sinne einer binären Logik, diese Dialektik einfach abstrahiert wird und sich diese Dichotomie damit implizit nichtsdestotrotz in die an der Beschreibung von Praktiken orientierten ethnografischen oder praxistheoretischen Arbeiten einschreibt beziehungsweise in diesen reproduziert wird, wie konkret auch ein Blick auf die Entstehungsgeschichte dieser hier vorliegenden Studie zeigt.
Ausgangspunkt der vorliegenden Studie war die Beschäftigung mit dem sozial-medialen Phänomen des Selfies um das Jahr 2016 herum, das zu gleichen Teilen Bild wie (sozial-mediale) Praktik darstellt.7 Nach einem medialen Hype um Selfies in der breiten Bevölkerung in den Jahren zuvor (das Oxford Dictionary kürte etwa Selfie bereits im Jahr 2013 zum Wort des Jahres), gab es neben der um das Jahr 2015 verstärkt einsetzenden wissenschaftlichen Beschäftigung mit diesem Phänomen (zusätzlich zu medien- oder kommunikationswissenschaftlichen Ansätzen vorwiegend aus dem heterogenen Bereich der Bildwissenschaften), wohl insbesondere auch wegen dieser breitenwirksamen Durchdringung des Phänomens künstlerisch-kuratorische Auseinandersetzungen damit, wie zum Beispiel die von Alain Bieber kuratierte Ausstellung Ego Update in den Jahren 2015/2016 im Düsseldorfer NRW-Forum gezeigt hat. Nichtsdestotrotz zeigt sich in unter anderem im zu dieser Ausstellung publizierten Katalog sowie den weiteren in diesem Zeitraum der Jahre 2014–2017 entstandenen wissenschaftlichen Publikationen zu Selfies nicht nur die ganze Heterogentität der Ansätze aus den unterschiedlichsten Disziplinen.8 Vielmehr lässt sich in ebendiesen Publikationen auch eine ganz ähnliche und wie eingangs beschriebene Zweiteilung in ein mitunter bis zum Narzissmus überhöhtes Selbstdarstellungsbedürfnis von Selfies schießenden Nutzer:innen einerseits und sich in im Zuge der subjektkonstitutiven Elemente des Selfies entfaltende Empowerment-Narrative andererseits ausmachen.9 Es ist fast überflüssig zu betonen, dass diese Gegenpole auch in diesem Zusammenhang maßgeblich mit den jeweiligen methodisch-theoretischen Ansätzen zur Erforschung von Selfies korrespondieren und darüber hinaus die infrastrukturelle Verwobenheit von solch mobilen Selbstfotografien mit den entsprechenden sozialen Medienplattformen zumeist, und wenn überhaupt, nur auf Ebene der für die Erzeugung eines Fotos wichtigen Technologien verorten.10 Dabei klingt schon in den Selfie-Definitionen der ersten Arbeiten dezidiert medienkulturwissenschaftlicher Prägung an, dass der Aspekt des Teilens – und damit die für die Zirkulation verantwortlichen technologischen Infrastrukturen der jeweiligen Plattformen – ein wesentlicher und nicht zu trennender Bestandteil von Selfies ist.11 Allerdings gibt es auch hier keine konkreten Analysen, die über das Postulat einer fundamentalen Aufeinanderbezogenheit von Infrastrukturen und Praktiken hinausgehen, was nicht zuletzt in dem konstatierten Desiderat einer allgemeinen Theorie sozialer Medienplattformen begründet liegt, die über die Beschreibung einzelner (und mitunter plattformspezfischer) Praktiken oder sozial-medialer Einzellogiken hinausgeht. In Anbetracht dieser Dichotomie von Forschungszugängen lag es für die vorliegende Studie nicht nur nahe von einem fundamentalen Zusammenhang von der Infrastruktur sozialer Medienplattformen und ebensolchen Selfie-Praktiken auszugehen, sondern diesen Zusammenhang zunächst einmal ganz konkret mit Blick auf technologische Funktionen und Akteur:innen im Plattformkontext zu präzisieren. Für die Zirkulation innerhalb sozialer Medienplattformen sind nämlich neben den Handlungen verschiedener Nutzer:innen in erster Linie diverse Plattformfunktionen verantwortlich zu denen neben Kommentarfeldern oder Hashtags insbesondere der Like-Button gehört. Letzterem wird von einer breiten Öffentlichkeit immer wieder eine zentrale Rolle im Zusammenhang mit Selfies zugeschrieben (vgl. etwa den geläufigen Ausspruch It’s all about the likes) samt einer in diesem Zusammenhang häufig bemühten Diagnose eines gesteigerten Bedürfnisses nach Aufmerksamkeit und Anerkennung.12 So verweist auch der Medientheoretiker und Aktivist Geert Lovink in einem Vortrag, den er 2017 im Frankfurter Museum für moderne Kunst gehalten hat, auf die untrennbare Verwobenheit von Like-Button und Selfie13, und fordert dementsprechend »[…] philosophische Antworten auf den Kult der Selfies, ohne die Software-Features zu vergessen und ihre Funktionsweisen zu verdeutlichen beziehungsweise deren Infrastrukturen in den Blick zu nehmen.«14 Damit war die zentrale Ausgangshypothese dieser Studie markiert. Denn das...
Erscheint lt. Verlag | 16.8.2023 |
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Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sozialwissenschaften ► Kommunikation / Medien ► Medienwissenschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | Algorithmen • Axel Honneth • Cornelius Castoriadis • Digitalisierung • Facebook • Gesellschaftsanalyse • Gesellschaftstheorie • Instagram • Internet • Like-Button • Mediensoziologie • Medientheorie • Meta • moderne Kommnikation • Selfie • Snapchat • Soziale Medien • tik-tok |
ISBN-10 | 3-593-45551-X / 359345551X |
ISBN-13 | 978-3-593-45551-8 / 9783593455518 |
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