Mitte/Rechts (eBook)
638 Seiten
Suhrkamp Verlag
978-3-518-77534-9 (ISBN)
In der Bundesrepublik waren die letzten Merkel-Jahre von unionsinternen Richtungsstreits geprägt. Doch nicht zuletzt der Aufstieg Donald Trumps hat gezeigt, dass die Identitätskrise der rechten Mitte kein exklusiv deutsches Phänomen ist: In Italien füllten Berlusconi und radikal rechte Parteien wie Giorgia Melonis Fratelli d'Italia das durch die Implosion der Democrazia Cristiana entstandene Vakuum. In Frankreich spielen die Républicains zwischen Macron und Le Pen kaum noch eine Rolle. Und die Tories versinken nach dem Brexit-Chaos in Unernst und Realitätsverweigerung. Thomas Biebricher widmet sich dieser internationalen Dimension und zeichnet die turbulenten Entwicklungen seit 1990 nach. Seine Befunde sind auch deshalb brisant, weil sich am gemäßigten Konservatismus die Zukunft der liberalen Demokratie entscheidet.
Thomas Biebricher, geboren 1974, ist Heisenberg-Professor für Politische Theorie, Ideengeschichte und Theorien der Ökonomie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. 2018 sorgte er mit seiner Studie <em>Geistig-moralische Wende. Die Erschöpfung des deutschen Konservatismus</em> für Aufsehen. Im Suhrkamp Verlag erschien zuletzt<em> Die politische Theorie des Neoliberalismus</em> (stw 2326).
Präludium: Die Implosion der Democrazia Cristiana und das Ende der Ersten Republik
Nicht wenige Kommentatoren würden wohl dem englischen Historiker Donald Sassoon zustimmen, der 1987 zu dem Resümee gelangte, Italien habe »sich seit dem Krieg in einer kontinuierlichen Krise« befunden.[55] Das Land war in den sechziger Jahren knapp an einem Militärputsch vorbeigeschrammt, stand in den Siebzigern vor dem Staatsbankrott und wurde in beiden Dekaden von links- und rechtsextremistischen Terroranschlägen erschüttert, mit dem traurigen Höhepunkt der Entführung und Ermordung des ehemaligen Ministerpräsidenten Aldo Moro 1978. Gleichwohl hatte sich unter Italienern und internationalen Beobachterinnen der achselzuckende Ausspruch »Eppur si muove« eingebürgert – »Aber es funktioniert ja doch«.
Ja, es hatte tatsächlich eine lange Zeit funktioniert – und nicht nur das. In vielerlei Hinsicht legte Italien nach dem Zweiten Weltkrieg eine spektakuläre Erfolgsgeschichte hin: Das Land industrialisierte sich rasant; Menschen zogen aus dem Mezzogiorno in den Norden, mit dem Wirtschaftswachstum nahm auch der Wohlstand zu. Weltweit verehrte Regisseure wie Roberto Rossellini, Federico Fellini oder Luchino Visconti dokumentierten den damit verbundenen sozialen und kulturellen Wandel. Anfang der Achtziger landete Umberto Eco mit seinem Roman Der Name der Rose einen Weltbestseller. Zudem verfügte Italien in ganz unterschiedlichen Branchen über erfolgreiche Unternehmen wie die Automobilhersteller Ferrari und Fiat, den Süßigkeitenkonzern Ferrero, Olivetti, einen frühen Pionier der Computerbranche, oder das Textilunternehmen Benetton, das ab 1970 jenseits der Apenninhalbinsel expandierte und bald auch in deutschen Kleinstädten Filialen eröffnete. Die ökonomische Dynamik resultierte 1987 im sogenannten sorpasso, als Italien beim Bruttoinlandsprodukt pro Kopf an Großbritannien vorbeizog und zur fünftgrößten westlichen Industriemacht aufstieg.[56] Und so präsentierte sich das Land kurz darauf als stolzer Gastgeber eines (von Edoardo Bennato und der als »Rockröhre« apostrophierten Gianna Nannini besungenen) magischen Sommers, an dessen Ende Franz Beckenbauer selig entrückt über den Rasen des Olympiastadions in Rom wandelte.
Was sich dann Anfang der neunziger Jahre zusammenbraute, hatte jedoch eine andere Dimension und konnte nicht mehr auf die herkömmliche Weise abgetan werden. Selbst wenn man die Krise wie Sassoon als Normalzustand des italienischen Staatswesens betrachtet, muss man mit Blick auf den Zeitraum 1992 bis 1994 mindestens von einer potenzierten Krise oder mehreren miteinander verknüpften Krisen sprechen, deren Auswirkungen derart weitreichend waren, dass sich aus Sicht mancher Politikwissenschaftler der Übergang von der Ersten zur Zweiten Republik vollzog. Dies mag aus verfassungsrechtlicher Perspektive etwas überzogen sein und blendet zudem wichtige Kontinuitäten aus. Aber die frühen Neunziger markierten für Italien eine tief greifende Zäsur, die nicht zuletzt darin bestand, dass sie den politischen Raum der rechten Mitte radikal restrukturierte – oder ihn womöglich erst als solchen konstituierte.
Am 17. Februar 1992 betrat Luca Magni, der 32-jährige Inhaber einer kleinen Reinigungsfirma, das Mailänder Büro des sozialistischen Politikers Mario Chiesa. In einer Aktentasche hatte Magni sieben Millionen Lire dabei, nach damaligem Kurs etwa 5000 Euro; Schmiergeld, das Chiesa im Gegenzug für einen Auftrag in einem Altersheim verlangt hatte. Was der Politiker nicht wusste: Die Scheine waren präpariert, in einem Stift trug Magni eine Wanze bei sich. Als Chiesa das Geld gerade in einer Schublade verstaut hatte, betrat der Staatsanwalt Antonio Di Pietro in Begleitung einiger Carabinieri den Raum. »Dieses Geld gehört mir«, protestierte Chiesa. »Nein, dieses Geld gehört uns«, antworteten die Uniformierten.[57]
Die politische Klasse Italiens hatte es seit Jahrzehnten verstanden, staatliche Apparate inklusive eines der größten öffentlichen Wirtschaftssektoren Westeuropas aufzubauen, und diese Strukturen nicht zuletzt dazu genutzt, umfangreiche Patronagenetzwerke zu bewirtschaften. Die Praxis des sottogoverno hatte lange als zentrales Mittel des Machterhalts gedient, und zwar auch durch ihre explizit kleptokratische Dimension, die bisweilen an eine organisierte Ausplünderung des Gemeinwesens grenzte. Dazu zählte ein illegales System von Bestechungsgeldern (tangente), die von Politikern regelmäßig abgezweigt wurden, wenn es um öffentliche Aufträge ging. Diese Praxis war Mario Chiesa nun zum Verhängnis geworden.
Nachdem Bettino Craxi, der Vorsitzende der Sozialistischen Partei und frühere Ministerpräsident (1983-87), sich brüsk von seinem ehemaligen Verbündeten distanziert hatte (»Er ist ein Schurke«), beschloss Chiesa, mit den Behörden zu kooperieren; Mailänder Geschäftsleute folgten und legten ihrerseits die illegalen Praktiken offen. Damit nahm der größte Bestechungsskandal der italienischen Nachkriegsgeschichte seinen Lauf. Die Ermittlungen weiteten sich rasch auf das ganze Land aus und förderten einen kriminellen Komplex zutage, der bald mit dem Begriff »Tangentopoli« (Schmiergeldstadt) bezeichnet wurde. Im April 1993 veröffentlichte der Corriere della Sera eine erste Zwischenbilanz. Demnach waren nicht weniger als 1487 Unternehmer sowie 923 Politiker in den Skandal verwickelt – die allermeisten davon Christdemokraten und Sozialisten.[58] Dass die Ermittlungen so weit voranschreiten konnten, hatte auch damit zu tun, dass in den großen Städten Norditaliens seit Mitte der Achtziger diverse regionale »Ligen« teils beträchtlichen Einfluss gewonnen hatten, die sich später zur Lega Nord vereinigen sollten. Nur durch die Protektion dieser erklärten Gegner der partitocrazia konnten die Machenschaften zwischen Politik, Verwaltung, Wirtschaft – und Mafia – offengelegt werden.
Zunächst trug der Skandal jedoch vor allem dazu bei, dass der pentapartito bei den Parlamentswahlen am 5./6. April 1992 teils erhebliche Einbußen hinnehmen musste. Dieser Fünf-Parteien-Block aus Democrazia Cristiana (DC), Partito Socialista Italiano (PSI), Partito Socialista Democratico Italiano (PSDI), Partito Repubblicano Italiano (PRI) und Partito Liberale Italiano (PLI) hatte die Macht seit Mitte der Achtziger unter sich aufgeteilt, und innerhalb dieser losen Allianz gab ein auf den Namen »CAF« getauftes Triumvirat den Ton an: der Sozialist Craxi, der amtierende christdemokratische Ministerpräsident Giulio Andreotti sowie der Vorsitzende der DC, Arnaldo Forlani. Zumindest an der Oberfläche schien die Position des CAF im Vorfeld der Wahlen 1992 stabil genug, hatte man es doch geschafft, die vergangene Legislaturperiode ohne Parlamentsauflösung zu überstehen. Allerdings hatte Giovanni Sartori, der Nestor der italienischen Politikwissenschaft, schon ein Jahr zuvor eine eindringliche Warnung ausgesprochen: »Wie Schnee in der Sonne befinden wir uns inzwischen in völliger Auflösung. Dank der Taubheit und auch der überraschenden Dummheit der politischen Klasse« würden sich »die Auflösungserscheinungen wahrscheinlich in ein Chaos verwandeln«.[59] Die Tangentopoli-Enthüllungen trugen dazu bei, dass Sartori recht behielt.
Abb. 1: Zwei Drittel des CAF – Giulio Andreotti (links)
und Bettino Craxi 1987 in Rom.
Das Wahlergebnis selbst hätte dabei durchaus noch die Möglichkeit geboten, die Entwicklungen einzudämmen, aber die Krisen jener Zeit griffen nun in einer Weise ineinander, die eine schwer zu bändigende disruptive Kraft entwickelte. Noch während die Verhandlungen über die Regierungsbildung andauerten, trat Ende April Staatspräsident Francesco Cossiga zurück, nachdem man dem Christdemokraten vorgeworfen hatte, in den siebziger Jahren Verbindungen zu rechtsextremistischen Terrorgruppen unterhalten zu...
Erscheint lt. Verlag | 17.4.2023 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
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ISBN-10 | 3-518-77534-0 / 3518775340 |
ISBN-13 | 978-3-518-77534-9 / 9783518775349 |
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