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Undemokratische Emotionen (eBook)

Das Beispiel Israel

(Autor)

eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
259 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-77616-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Undemokratische Emotionen -  Eva Illouz
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Ist es für einen Herrscher besser, geliebt oder gefürchtet zu werden? Da sich beides schwer vereinen lasse, gibt Machiavelli in Der Fürst, seiner berühmten Abhandlung zu den Grundsätzen der Staatsräson, der Furcht den Vorrang. In ihrem neuen Buch schließt die israelische Soziologin Eva Illouz in zweierlei Hinsicht an Machiavelli an: Sie unterstreicht die Bedeutung von Emotionen in der Politik und arbeitet heraus, wie Rechtspopulisten bestimmte Gefühle instrumentalisieren.
Israel ist seit seiner Gründung wie kaum ein anderes Land von Sicherheitsfragen geprägt. In dieser Situation sei dem langjährigen Ministerpräsidenten Benjamin Netanyahu das machiavellistische Kunststück gelungen, gerade wegen der Furcht, die er sät, geliebt zu werden. Anhand ausführlicher Interviews mit u. a. Menschenrechtsaktivisten zeigt Illouz, wie Angst und Ressentiment Gesellschaften spalten und die Demokratie unterminieren.

Eva Illouz, geboren 1961, ist Professorin für Soziologie an der Hebräischen Universität Jerusalem sowie Studiendirektorin am Centre européen de sociologie et de science politique, CSE-EHESS in Paris. Für ihr Werk erhielt sie zahlreiche Auszeichnungen, u. a. den Anneliese-Maier-Forschungspreis der Alexander von Humboldt-Stiftung und den EMET-Preis für Sozialwissenschaften. Ihre Bücher werden in zahlreiche Sprachen übersetzt.

321. Versicherheitlichte Demokratie und Angst


Oderint dum metuant.

Caligula

In einem berühmten, Lorenzo de' Medici gewidmeten Werk empfahl Niccolò Machiavelli dem Fürsten zu lernen, wie er in seinen Untertanen Liebe und Angst wecken könne. Geliebt und gefürchtet zu werden sei die beste Methode, um Macht auszuüben; müsse man sich aber für eines von beidem entscheiden, dann sei es besser, gefürchtet zu werden, denn die Angst vor dem Fürsten werde wenigstens die soziale Ordnung aufrechterhalten (unter der Voraussetzung, dass der Fürst nicht grausam ist).1 Furcht, sofern sie anderen eingeflößt wird, ist zweifellos das Gefühl, an dem Tyrannen den größten Gefallen finden.

Die Furcht war auch für einen anderen Denker zentral, nämlich Thomas Hobbes, den englischen Philosophen des 17. Jahrhunderts, in dessen Augen zwei entscheidende Leidenschaften die politischen Wünsche der Menschen leiten: die Angst vor dem Tod und der Wunsch nach Bequemlichkeit.2 Das ist nach Hobbes der Grund, warum Menschen bereit sind, ihre natürliche Freiheit aufzugeben und sich von einem starken Staat beherrschen zu lassen, solange er Sicherheit verspricht. Dieser Ansicht zufolge würde die Angst allmählich beseitigt, wenn der Staat die einzige Einrichtung wäre, die sowohl die Instrumente der Angst monopolisieren als auch die Angst lindern dürfte, indem er die Sicherheit aller garantiert. Die politische Philosophin Judith Shklar definierte den Liberalismus geradezu als die politische Regierungsform, die Furcht verabscheut.3 Für sie kann Freiheit nur angemessen ausgeübt werden, wenn der liberale Staat die Be33dingungen schafft, unter denen die Furcht aus dem alltäglichen Leben der Bürgerinnen verschwindet. Rechtsstaatlichkeit, demokratisch geteilte Macht und verfassungsmäßig garantierte Menschenrechte sollen die Furcht hinfällig machen.

Doch fällt es selbst demokratisch gewählten Politikern mitunter schwer, die machiavellische Einsicht in die Nützlichkeit und Zweckdienlichkeit der Furcht preiszugeben. Viele populistische Regierungschefs wie etwa Netanjahu verdanken ihre lange und weitreichende Machtausübung einer Fähigkeit, auf die die Fürsten und Tyrannen der Renaissance nur neidisch sein könnten: der Fähigkeit, durch die Angst, die sie säen, geliebt zu werden.

Israel und Sicherheit


Thomas Hobbes behauptete, bei seiner Geburt habe seine Mutter Zwillinge zur Welt gebracht, ihn selbst und die Furcht.4 Dasselbe ließe sich über den Staat Israel sagen. Als er entstand, wurde als sein Zwilling die Angst geboren.

Die Schoah hat das jüdische Bewusstsein für alle Zeiten verändert. Das europaweite Massaker verlieh dem Antisemitismus eine quasi metaphysische Bedeutung und machte den Judenhass zu etwas Ewigem, Unausweichlichem und Absolutem, einem Teil der Weltordnung selbst. Die Feinde des Judentums bildeten eine ununterbrochene, endlose Kette des Bösen: Amalek, die Personifizierung des quasi theologischen Prinzips einer gewollten Vernichtung der Juden; Haman, der eine Intrige zur Ermordung der Juden im Babylonischen Reich spann; die Römer, die die Juden unterdrücken woll34ten; die Christen und die Inquisition, die Juden folterten, töteten oder verbannten; die polnischen Bauern, die Pogrome verübten; ihre Feudalherren, die ihnen stillschweigend signalisierten, dies zu tun: Sie alle schienen sich als Elemente in diese historische Kette einzureihen, die bis zu ihrem Kulminationspunkt Hitler reichte. Die Radikalität der Schoah machte es ausgesprochen schwierig, wenn nicht unmöglich, die Welt nicht in ihrer Absicht und Entschlossenheit zur Auslöschung der Juden zu sehen.

Es ist keine geringe historische Ironie, dass die frühen Zionisten für ihr nationales Projekt ein kleines Territorium in einer von Arabern und Muslimen bevölkerten Großregion wählten. Letztere teilten zu diesem Zeitpunkt nicht den bösartigen Antisemitismus der christlichen Länder (oder säkularer Bewegungen wie des Nazismus). Andererseits hatten sie auch keinen besonderen Grund, eine zunächst von einer ausländischen Kolonialmacht unterstützte Handvoll Osteuropäer zu begrüßen, und tatsächlich widersetzten sich die Araber dem zionistischen Unternehmen, wie es wohl die meisten tun würden, weil die Juden nationale Ansprüche auf ihr Land erhoben. In Bezug auf den arabischen Widerstand gegen die Juden in Palästina schrieb Ze'ev Jabotinsky, der Gründer und Anführer der rechten revisionistischen Bewegung, 1923 hellsichtig: »Einheimische Bevölkerungen, ob zivilisiert oder unzivilisiert, haben sich Kolonialisten noch immer hartnäckig widersetzt, unabhängig davon, ob diese zivilisiert oder grausam waren.«5

Statt die Opposition der Araber gegen den Zionismus aber so zu verstehen wie Jabotinsky, nämlich als vorhersehbaren Widerstand gegen Enteignung und Kolonialisierung, verschmolz die arabische Ablehnung des Zionismus im aufkommenden zionistischen Bewusstsein allmählich mit dem Antisemitismus, dem sie selbst und ihre Ahnen in Eu35ropa ausgesetzt gewesen waren. Dieser Wandel vollzog sich graduell, vielleicht 1929 (mit dem Massaker von Hebron, dem etwa siebzig Jüdinnen und Juden zum Opfer fielen) oder nach 1936 infolge der arabischen Aufstände in Palästina, spätestens aber, als das Ausmaß und die Tragweite des europäischen Massakers an den Juden deutlich wurde. Während Jabotinsky den Widerstand der Araber gegen die Juden in den zwanziger Jahren als vorhersehbare und verständliche politische Reaktion hatte betrachten können, begann die arabische Ablehnung des zionistischen Projekts im sich herausbildenden israelischen Bewusstsein die Leerstelle von Amalek zu füllen, jener dämonischen Figur in der jüdischen Geschichte: »Sie wollen uns in Meer treiben« verband die Realität der arabischen antikolonialen Feindseligkeit mit den Intrigen und Charakteren eines jüdischen Unbewussten, das für alle Zeiten von einer unauslöschlichen Geschichte traumatisiert war, in einer einzigen Formel.

In seiner kurzen Geschichte, die gerade einmal der durchschnittlichen Lebenserwartung eines Menschen entspricht, war Israel in mindestens zwölf militärische Konflikte oder Kriege verwickelt; außerdem führte es bei mindestens fünfzig weiteren Gelegenheiten militärische Aktivitäten unterschiedlichen Ausmaßes und unterschiedlicher Intensität durch (Raketenbeschüsse, Luftangriffe, Operationen auf fremdem Territorium usw.). Dabei ist der Zustand eines unterschwelligen Krieges mit den Palästinensern in den besetzten Gebieten seit 1967 noch gar nicht berücksichtigt. Zwar ist Israel nicht das einzige Land, das in lang anhaltende Konflikte verstrickt ist (man denke etwa an Armenien, Afghanistan oder Südsudan), doch ist es das einzige, das in einem Zeitraum von siebzig Jahren Gegenstand direkter Angriffe von mindestens sieben Ländern war; das einzige, das einen an36haltenden militärischen Konflikt geringer Intensität mit einer Bevölkerungsgruppe hat, die mit seiner eigenen verflochten ist; und das einzige, das zwanzig Prozent seiner Bürger als Verbündete seiner (potenziellen oder tatsächlichen) Feinde betrachtet. Israel ist somit ein völlig einzigartiger Fall, insofern es sich durch Feinde jenseits seiner Grenzen, durch Feinde in der Nähe seiner Nichtgrenzen und durch die (reale und imaginierte) Präsenz ähnlicher Feinde innerhalb seiner Grenzen definiert. So gesehen, legt Israel das Wesen »des Politischen« an den Tag, wie Carl Schmitt es bestimmte: die Unterscheidung zwischen Freund und Feind.6 Wenn sich Gruppen feindlich gegenüberstehen, besteht das Potenzial für Krieg und Totschlag zwischen ihnen, und das ist für Schmitt das Wesen des Politischen. (Deshalb verachtete Schmitt den Liberalismus, den er für unfähig hielt, die konstitutive Rolle der Feindschaft in der Politik zu verstehen.) Diese Unterscheidung zwischen Freund und Feind steht im Zentrum des Selbstverständnisses des israelischen Gemeinwesens. Aus diesem Grund können wir sagen, dass Israel keine Demokratie wie andere ist. Aufgrund seiner Geografie und inneren Verwundbarkeit war es gezwungen, sich zu einer »versicherheitlichten«, einer...

Erscheint lt. Verlag 17.4.2023
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
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ISBN-10 3-518-77616-9 / 3518776169
ISBN-13 978-3-518-77616-2 / 9783518776162
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