Das nomadische Jahrhundert (eBook)
352 Seiten
Piper Verlag
978-3-492-60458-1 (ISBN)
Gaia Vince ist Umwelt- und Rundfunkjournalistin sowie Sachbuchautorin. Sie schreibt für The Guardian und BBC Online, früher für Nature und New Scientist. Ihre Forschungen führen sie in die ganze Welt: Sie hat mehr als 60 Länder besucht, in drei Ländern gelebt und wohnt derzeit in London. 2015 wurde ihr der »Royal Society Winton Prize for Science Books« verliehen.
Gaia Vince ist Umwelt- und Rundfunkjournalistin sowie Sachbuchautorin. Sie schreibt für The Guardian und BBC Online, früher für Nature und New Scientist. 2015 wurde ihr der »Royal Society Winton Prize for Science Books« verliehen.
Einleitung
Eine große Umwälzung steht uns bevor. Sie wird uns und den Planeten verändern.
Im globalen Süden wird der extreme Klimawandel gewaltige Menschenmengen aus ihrer Heimat vertreiben, weil große Regionen unbewohnbar werden. Im klimatisch angenehmeren Norden werden die Volkswirtschaften Mühe haben, den demografischen Wandel zu bestehen, der mit massivem Arbeitskräftemangel und einer verarmten und überalterten Bevölkerung verbunden sein wird.
In den kommenden 50 Jahren werden weite Gebiete der Erde durch heißere Temperaturen und höhere Luftfeuchtigkeit für etwa 3,5 Milliarden Menschen lebensgefährlich werden. Riesige Bevölkerungsgruppen werden eine neue Heimat suchen, weil sie aus den Tropen, von den Küsten und aus nicht mehr landwirtschaftlich nutzbaren Regionen fliehen müssen. Sie, meine Leserinnen und Leser, werden entweder zu den Flüchtlingen gehören oder diese empfangen. Die Migration hat bereits begonnen: Menschen fliehen scharenweise vor der Trockenheit in Gebieten Lateinamerikas, Afrikas und Asiens, wo die Landwirtschaft und generell das Landleben unmöglich geworden sind. Der klimatisch bedingte Ortswechsel ist heute schon einer der Faktoren, der die ohnehin schon massive Abwanderung in die Städte verstärkt. Die Zahl der Migranten hat sich im letzten Jahrzehnt weltweit verdoppelt, und die Frage, was mit der schnell wachsenden Zahl vertriebener Menschen geschehen soll, wird mit zunehmender Erderwärmung immer dringender werden.
Es besteht kein Zweifel, dass wir vor einer Menschheitskatastrophe stehen, doch wir können sie bewältigen. Wir können überleben, aber um das zu bewerkstelligen, wird die Migration geplant und willentlich erfolgen müssen – in einem Maß wie nie zuvor in der Menschheitsgeschichte.
Immer mehr Menschen beginnen endlich, sich der bevorstehenden Klimakatastrophe zu stellen. Viele Länder bemühen sich, ihre Kohlenstoffemissionen zu reduzieren, und versuchen, Risikoregionen auf die Bedingungen eines heißeren Klimas vorzubereiten, doch es stellt sich ein riesiges Problem: Für große Teile der Menschheit werden die lokalen Bedingungen zu extrem, und sie haben keine Möglichkeit, sich anzupassen. Statistisch werden weltweit heute schon doppelt so viele Tage mit Temperaturen über 50 °C ermittelt wie vor 30 Jahren. Eine solche Hitze ist für Menschen bereits tödlich und auch für Gebäude, Straßen und Kraftwerke extrem problematisch. Kurz gesagt: Sie macht ein Gebiet unbewohnbar.
Dieses globale Drama bedarf einer dynamischen menschlichen Reaktion, und wir haben die Lösungen in der Hand. Wir müssen den Menschen helfen, sich vor Gefahr und Armut in Sicherheit zu bringen und ein neues lebenswertes Leben zu beginnen; insofern müssen wir zu unser aller Wohl eine widerstandsfähigere globale Gesellschaft aufbauen. Menschliche Migration von einem beispiellosen Ausmaß wird dieses Jahrhundert beherrschen und unsere Welt radikal verändern. Dies könnte eine Katastrophe oder, gut gemanagt, unsere Rettung sein.
Viele Menschen werden umziehen müssen, um zu überleben. Große Bevölkerungsgruppen werden ihre Heimat verlassen und nicht nur in die nächste Stadt migrieren, sondern auch über weite Strecken Kontinente durchqueren müssen. Die Bewohner von Regionen mit erträglicheren Bedingungen, insbesondere in den Ländern der nördlichen Breiten, werden in zunehmend überbevölkerten Städten Millionen Migranten aufnehmen und sich zugleich selbst den Bedingungen des Klimawandels anpassen müssen. In den relativ kühlen Polargebieten wird die Menschheit in Regionen, die schnell eisfrei werden, völlig neue Städte bauen müssen – beispielsweise in Teilen Sibiriens, wo heute schon monatelang Temperaturen von 30 °C herrschen.
Wo immer wir heute leben, die Migration wird unser Leben und das unserer Kinder beeinflussen. Es mag offensichtlich erscheinen, dass Wüstenstaaten wie der Sudan unbewohnbar werden oder dass Bangladesch, wo ein Drittel der Bevölkerung an einer im Meer versinkenden flachen Küste lebt, dasselbe Schicksal erleidet. (Schätzungen zufolge werden bis 2050 mehr als 13 Millionen Bürger von Bangladesch, das sind fast zehn Prozent der Bevölkerung, das Land verlassen haben.) Aber in den kommenden Jahrzehnten werden auch reiche Länder stark betroffen sein. Das heiße, von Dürren heimgesuchte Australien wird genauso leiden wie Teile der Vereinigten Staaten. Millionen werden Städte wie Miami und New Orleans verlassen und in kühleren Bundesstaaten wie Oregon und Montana Zuflucht suchen. Man wird Städte bauen müssen, um sie unterzubringen.
Allein in Indien werden mehr als eine Milliarde Menschen bedroht sein. Eine weitere halbe Milliarde wird in China umgesiedelt werden müssen, und Millionen Menschen in Lateinamerika und Afrika wird dies auch betreffen. Das hochgeschätzte südeuropäische Mittelmeerklima verschiebt sich heute schon nach Norden, und die zunehmende Hitze und Trockenheit schaffen dabei von Spanien bis in die Türke±i wüstenhafte Bedingungen. Auch Teile des Nahen Ostens sind wegen der zunehmenden Hitze, Wassermangels und schlechter Böden heute schon unbewohnbar geworden.
Die Menschen werden diese Regionen verlassen. Sie haben sich schon in Bewegung gesetzt.
Die Menschheit erlebt heute eine Umwälzung, die den gesamten Planeten betrifft, und diese Umwälzung ist nicht nur mit einer beispiellosen Klimaveränderung, sondern auch mit einem gewaltigen demografischen Wandel verbunden.
In den kommenden Jahrzehnten wird die Erdbevölkerung weiterhin wachsen, bis in den 2060er-Jahren vermutlich bei zehn Milliarden Menschen der Höhepunkt erreicht sein wird. Der größte Teil dieses Wachstums wird in den tropischen Regionen stattfinden, die von der Klimakatastrophe am schlimmsten betroffen sind. Deshalb werden die dort lebenden Menschen nach Norden fliehen. Der globale Norden hat das gegenteilige Problem: eine »kopflastige« Alterspyramide, in der ein großer Bevölkerungsanteil von Alten durch zu wenige Arbeitskräfte versorgt werden soll. In mindestens 23 Ländern, einschließlich Spanien und Japan, wird sich den Prognosen zufolge die Bevölkerung bis zum Jahr 2100 halbieren. In Nordamerika und Europa haben heute schon 300 Millionen Menschen das traditionelle Rentenalter von 65 Jahren überschritten, und bis 2050 werden laut wissenschaftlichen Voraussagen 43 Alte ab 65 Jahren auf 100 Arbeitsfähige zwischen 20 und 60 Jahren kommen.[1] Unter diesen Bedingungen werden Städte von München bis Buffalo miteinander konkurrieren, um Migranten anzuziehen. Dieser Wettbewerb könnte gegen Ende des 21. Jahrhunderts besonders scharf werden, wenn einige der südlichen Länder, die durch den Klimawandel unbewohnbar wurden, durch neue Verfahren von Geoengineering wieder bewohnbar geworden sind. Dies könnte etwa eintreten, wenn die globalen oder regionalen Temperaturen durch die Entfernung von Kohlendioxid aus der Atmosphäre und durch technische Erfindungen, mit denen sich große Gebiete kostengünstig kühlen lassen, reduziert werden könnten. Das 21. Jahrhundert wird jedenfalls das Jahrhundert einer beispiellosen weltweiten Migration sein.
Wir müssen heute schon pragmatisch für unsere Gattung planen, wie wir dafür sorgen können, dass unsere Systeme und Gemeinschaften resilient genug sind, um mit den kommenden Verwerfungen fertigzuwerden. Wir wissen heute schon, welche Bevölkerungsgruppen bis 2050, wenn ich in den Siebzigern sein werde, umsiedeln müssen. Und wir wissen auch, welche Orte Ende des 21. Jahrhunderts, wenn meine Kinder alt sein werden, am sichersten sein werden.
Wir müssen uns jetzt darum kümmern, wo die Milliarden von Klimaflüchtlingen dauerhaft angesiedelt werden können. Zu diesem Zweck werden wir internationale Verhandlungen führen und die schon existierenden Städte auf den Ansturm vorbereiten müssen. Die Arktis wird beispielsweise für Millionen Menschen ein relativ bewohnbarer Bestimmungsort werden, selbst wenn die dortige aktuell minimale Infrastruktur derzeit bereits im schmelzenden Permafrostboden versinkt und wir sie für klimatisch wärmere Bedingungen neu aufbauen müssen. Zur Vorbereitung dieser gigantischen Migration müssen wichtige Großstädte schrittweise aufgegeben, andere verlegt und viele in anderen Ländern ganz neu gebaut werden. London, die Stadt, in der ich wohne, ist mindestens 2000 Jahre alt und beherbergt neun Millionen Menschen. Wir haben nur ein paar Jahrzehnte, um solche Städte anzupassen, zu...
Erscheint lt. Verlag | 28.9.2023 |
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Übersetzer | Helmut Dierlamm |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | Demografische Entwicklung • Demografischer Wandel • Dürre • Einwanderung • Flüchtlinge • Flüchtlingskrise • Globale Erwärmung • Greta Thunberg • Immigration • Klima-Erwärmung • Klimakatastrophe • Klimakrise • Klimawandel • Luisa Neubauer • Migration • Naturkatastrophe • Politik • politisches Buch • Wasserknappheit • Wie werden wir leben? • Zukunft |
ISBN-10 | 3-492-60458-7 / 3492604587 |
ISBN-13 | 978-3-492-60458-1 / 9783492604581 |
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