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Das Erbe des Tennos (eBook)

Die geheimnisvollste Monarchie der Welt und das Ringen um Japans Zukunft - Ein SPIEGEL-Buch

(Autor)

eBook Download: EPUB
2023
416 Seiten
Deutsche Verlags-Anstalt
978-3-641-30177-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Das Erbe des Tennos - Wieland Wagner
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Das faszinierende Porträt eines widersprüchlichen Landes
Wer das moderne Japan verstehen will, stößt unweigerlich auf das geheimnisumwobene japanische Kaiserhaus, die älteste Monarchie der Welt. Keine Institution hat das Land so entscheidend geprägt wie diese oft weltentrückte, über 2600 Jahre alte Dynastie. Zwar übt der Tenno als »Symbol der Nation und der Einheit des Volkes« keine politische Macht mehr aus, aber durch Gesten bewirkt er bisweilen mehr als gewählte Politiker. Doch die Kaiserfamilie kämpft aktuell mit den gleichen Herausforderungen wie auch das übrige 125-Millionen-Volk: der Benachteiligung der Frauen und der voranschreitenden Vergreisung. Wieland Wagner gewährt in diesem Buch einen beeindruckenden Blick hinter die Kulissen des Hofes und zeigt, warum das Kaiserhaus die kulturelle Identität der Nation und zugleich die Widersprüche der japanischen Gesellschaft verkörpert. Dabei lässt er längst vergangene Epochen wieder lebendig werden und zeichnet das Bild eines Landes, das heute - gefangen im Wechselspiel von Fortschritt und Tradition - zutiefst verunsichert in die Zukunft blickt.

Wieland Wagner, geboren 1959, studierte Geschichte und Germanistik in Freiburg, London und Tokio. Seine Dissertation über Japans frühe Expansionspolitik in Ostasien wurde mit dem Gerhard-Ritter-Preis ausgezeichnet. Von 1990 bis 1993 arbeitete Wagner als Korrespondent für die Nachrichtenagentur Vereinigte Wirtschaftsdienste (VWD) in Tokio. Bis 1995 war er Wissenschaftlicher Assistent am Historischen Seminar der Universität Freiburg. Seit 1995 berichtet Wagner für den SPIEGEL aus Asien, bis 2004 zunächst mit Sitz in Tokio, anschließend in Shanghai, ab 2010 in Peking, ab 2012 in Neu-Delhi und von 2014 bis 2018 wieder in Tokio. 2018 erschien »Japan - Abstieg in Würde. Wie ein alterndes Land um seine Zukunft ringt«.

Einleitung:
»Der Tenno und ich«


© Umaporn / stock.adobe.com

Kaiser Hirohito betrat seine Ehrenloge, er nahm Platz auf einem hohen Lehnstuhl und blickte in die voll besetzte Sumo-Arena in Tokio. Er war 85 Jahre alt, in der Realität wirkte er noch kleiner und greisenhafter als auf Fotos oder im Fernsehen. Mit einem Ruck beugte er seinen schmächtigen Oberkörper vor, offensichtlich, um den Ringkampf besser verfolgen zu können, der gerade im Gange war. In der Mitte der Halle, auf einem Rund aus festgestampftem Lehm, prallten zwei Sumo-Kämpfer aufeinander. Bisweilen sah es aus, als würden sich ihre halb nackten Leiber ineinander verkeilen, für Sekunden verharrten sie regungslos wie eine einzige fleischige Masse – bis es einen Ruck gab und es einem von ihnen schließlich gelang, den anderen aus dem Ring zu hieven. Der Verlierer taumelte den johlenden Zuschauern vor die Füße; der Sieger verneigte sich würdevoll.

Der Kaiser applaudierte in seiner Loge. Dazu beugte er sich wieder leicht nach vorn, reckte die Hände fast über den Kopf und schlug sie mit kurzen, zuckenden Bewegungen aufeinander. Dann schaute er sich den nächsten Zweikampf an.

Das war an einem schwülheißen Sonntag im September 1986. Neben mir saß ein befreundeter japanischer Historiker; er hatte die hoch begehrten Tickets für die Sumo-Arena Wochen vorher ergattert und mich eingeladen. Es war der erste Sumo-Wettkampf, den ich in Tokio erlebte. Und es war das erste Mal, dass ich den Kaiser aus der Nähe sah, schräg von der Seite, auf gleicher Höhe. Bisweilen ertappte ich mich dabei, dass ich ihn fast aufmerksamer beobachtete als die Sumo-Ringer.

© The Asahi Shimbun / Getty Images

Kaiser Hirohito beim Sumo-Ringkampf. Der kulturell bedeutsame Kampfsport ist eng mit der Monarchie verbunden.

Ich lebte damals schon seit über einem Jahr in Tokio, ich beherrschte die Landessprache in Wort und Schrift, doch je tiefer ich in die japanische Kultur eintauchte, desto rätselhafter kam mir vieles vor. Ich war Doktorand der Geschichte und forschte über Japans frühe Außenpolitik ab Mitte des 19. Jahrhunderts – das war die Zeit, in der Japan sich gegenüber der Welt öffnete, nach über 200 Jahren der sogenannten Abschließung, als Reaktion auf die Drohgebärden amerikanischer Kanonenboote. Hirohitos Großvater, der »Meiji«-Kaiser, hatte in jener Zeit eine herausragende Rolle gespielt, er begegnete mir häufig in historischen Abhandlungen und Dokumenten. Er diente der heimischen Machtelite, der Kriegerkaste der Samurai, als Symbol, um die innerlich zerrissene und von außen bedrohte Nation zu einen und aufzurüsten – ideologisch, wirtschaftlich und militärisch. Die damaligen Staatsmänner holten den erst 15-jährigen Monarchen aus Kyoto, der verschlafenen Kaiserstadt, in das politische Zentrum nach Tokio.

Der Tenno, wie der Kaiser in Japan genannt wird – auf Deutsch: der »Erhabene des Himmels« oder der »Herrscher des Himmels« –, war politisch eine Marionette. Aber seine Institution, die Monarchie, war seit jeher ein wirksames Instrument in den Händen der politisch Mächtigen.

Das Kaiserhaus ist die älteste Dynastie der Welt, und auch die geheimnisvollste: Heimischen Mythen zufolge wurde sie vor über 2680 Jahren gegründet. Der Tenno stammt angeblich von der Sonnengöttin Amaterasu ab. Im Zuge der Öffnung des Landes Mitte des 19. Jahrhunderts wurde er von den politischen Führern gleichsam noch einmal neu entdeckt, er sollte die Nation spirituell zusammenschweißen.

Im Namen des Tennos überzog das aufstrebende Japan das übrige Asien dann mit zahlreichen Kriegen. Die konkreten Anlässe waren jeweils verschieden, aber eines hatten diese Kriege gemeinsam: Sie dienten der Obrigkeit stets auch dazu, von inneren Spannungen abzulenken, die die rasende Modernisierung in der zutiefst traditionellen Gesellschaft hervorgerufen hatte. Den Höhepunkt Japans militärischer Aufholjagd bildete am 7. Dezember 1941 dann der Überraschungsangriff auf Pearl Harbor, den Stützpunkt der amerikanischen Pazifikflotte in Hawaii. Damit begann der Zweite Weltkrieg in Asien.

Und Tenno Hirohito, der mir hier in der lärmenden Sumo-Halle schräg gegenübersaß, hatte den Befehl zu diesem Angriff erteilt, er war aktiv beteiligt gewesen an seiner strategischen Planung. Japan war damals aufgepeitscht vom Nationalismus. Der Kaiser wurde als Gott verehrt, Millionen Untertanen zogen für ihn in die Schlachten. Am Ende musste er jedoch die demütigende Niederlage des Kaiserreiches verkünden, in einer legendären Radioansprache vom 15. August 1945. Ein Jahr später entsagte er auf Druck der amerikanischen Besatzer de facto seiner Göttlichkeit.

Um sein eigenes Überleben und das der Monarchie zu sichern, blieb Hirohito damals nichts anderes übrig, als eine demokratische und pazifistische Verfassung zu akzeptieren, die Japan von den USA praktisch diktiert wurde. Der übergroße Tenno war darin zum »Symbol des Staates und der Einheit des Volkes« geschrumpft.

Und nun, über viereinhalb Jahrzehnte später, saß der einstige Gott immer noch auf dem sogenannten Chrysanthementhron. Er war zu seiner Zeit der am längsten amtierende Monarch. Nur die britische Königin Elizabeth II., die 2022 ihr 70. Thronjubiläum feierte und einige Monate danach verstarb, sollte seinen Rekord um eine Dekade übertreffen. In den 1980er-Jahren wirkte Hirohito wie das Überbleibsel einer vergangenen, vergessenen Epoche. Doch der Eindruck täuschte. Denn er repräsentierte ein Land, das gerade wieder einmal dabei war, die Welt anzugreifen, diesmal allerdings auf dem Feld der Wirtschaft. Und das hatte nicht zuletzt mit strategischen Weichenstellungen zu tun, an denen Hirohito auch nach dem Krieg noch beteiligt gewesen war – und zwar viel aktiver, als das von den Landsleuten seinerzeit wahrgenommen wurde. Und nun, Mitte der Achtzigerjahre, befand Japan sich auf dem Höhepunkt seines Wiederaufstiegs: Es war die zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt und damit die »Nummer eins« in Asien.

Heimische Firmen eroberten die Weltmärkte mit Videorekordern, Halbleitern, Computern; im Ausland kauften sie Hotels, Filmstudios und Fabriken. Das Land schien im Geld zu schwimmen. Auch meine japanischen Kommilitonen an der Uni spekulierten nebenbei an der Tokioter Aktienbörse. Ich hörte ihren Gesprächen nur staunend zu. Mein Stipendium reichte damals kaum, um die Miete für meine Wohnung zu bezahlen.

Allerlei Fragen schossen mir durch den Kopf, als ich nun den greisen Tenno beobachtete. Ich kam aus der Bundesrepublik Deutschland, einem Land, das – wenn auch mit erheblicher Verzögerung – daranging, seine jüngere Vergangenheit aufzuarbeiten. Im Jahr zuvor hatte Bundespräsident Richard von Weizsäcker in seiner Rede zum 40. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkrieges in Europa erklärt, die deutsche Kapitulation am 8. Mai 1945 sei ein »Tag der Befreiung« gewesen. In Japan spürte ich dagegen eine andere Stimmung. Hier sprach man verschämt vom »Kriegsende«, wenn die Nation jährlich am 15. August der Niederlage gedachte. Der Tenno und seine tiefe persönliche Verstrickung in den Krieg waren ein Thema, das öffentlich nicht diskutiert wurde. Hirohito hatte sich nach 1945 als Friedenskaiser neu erfunden, und damit schien das düstere Kapitel für die Japanerinnen und Japaner offiziell abgeschlossen.

Der Zweite Weltkrieg war für viele im Land nur eine Episode in einer Ewigkeit, die nach einem eigenen, japanischen Zeitmaß berechnet wurde. Der Kaiser als Institution überdauerte praktisch alle historischen Brüche und Zäsuren, er verkörperte die Identität des Inselvolkes, seine mythischen Ursprünge und eben all das, was es heißt, japanisch zu sein. Das Erbe des Tennos prägt so auch die Gegenwart und das Ringen um Japans Zukunft.

Was war dagegen schon die von den amerikanischen Siegern aufgezwungene und von der japanischen Obrigkeit auffallend lustlos verwaltete Demokratie? Sie ähnelte einem jener kunstvoll verpackten Mitbringsel, wie man sie in Japan bei privaten Einladungen überreicht: Die Gastgeber bedanken sich höflich, aber packen das Geschenk in Anwesenheit des Gastes nicht aus. Auf diese Weise wahrt man gegenseitig das Gesicht, falls das Geschenk nicht den Erwartungen entspricht.

Der japanische Kaiser ist kein normales Staatsoberhaupt. Er verkörpert eine Idee, er ist die Summe dessen, was die Japanerinnen und Japaner in ihm sehen und sehen wollen. Und zu dieser Vielschichtigkeit eines lebenden Symbols gehörte eben auch, dass der greise Hirohito, der mit seiner runden Brille auf mich wirkte wie der sprichwörtliche zerstreute Professor, sich fast schon überschwänglich für Sumo-Ringer begeisterte. Das war weniger merkwürdig, als es mir auf den ersten Blick vorkam, tatsächlich gehörte es zum Job eines Tennos: Schon im 8. Jahrhundert fanden am Kaiserhof Sumo-Wettbewerbe statt. Es ging dabei stets um mehr als Sport und Unterhaltung. Die Rituale der Sumo-Ringer stammen aus dem heimischen »Shinto«, dem »Weg der Götter« – dabei handelt es sich um eine Art Naturreligion. Die Kämpfe dienten ursprünglich dazu, reiche Ernten zu erbitten und die Gottheiten zu besänftigen. Und so besitzen das Kaiserhaus und der Kampfsport Sumo gemeinsame kulturelle und religiöse Wurzeln. Denn der Tenno übt neben seiner Rolle als »Symbol des Staates« auch die Funktion des ranghöchsten Shinto-Priesters aus. An einem eigenen Shinto-Schrein auf seinem Palastgrundstück in Tokio betet er für Frieden und Wohlstand des Landes – gemäß der Nachkriegsverfassung tut er dies heutzutage allerdings nur noch privat.

Japan verwirrt westliche Beobachter immer wieder durch krasse...

Erscheint lt. Verlag 1.11.2023
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte 2023 • Abstieg • Akihito • Alternde Gesellschaft • Demographie • Dynastie • eBooks • Fukushima • Geschichte • Hirohito • Identität • Industrieland • Japan • japan – abstieg in würde • Kyoto • Modernisierung • Monarchie • Naruhito • Neuerscheinung • Nippon • Ostasien • shinto-glauben • Tenno • Tokio • Tradition • Wieland Wagner
ISBN-10 3-641-30177-7 / 3641301777
ISBN-13 978-3-641-30177-4 / 9783641301774
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