Als die iranische Literaturprofessorin Azar Nafisi den Schleier nicht länger tragen will, wird sie von der Universität Teheran verwiesen - und erfüllt sich einen Traum. Zwei Jahre lang kommen sie und sieben ihrer besten Studentinnen jeden Donnerstagmorgen heimlich zusammen, um verbotene Klassiker der westlichen Literatur zu lesen. Mit der Lektüre von Vladimir Nabokov, Jane Austen, Henry James und F. Scott Fitzgerald schaffen sie sich Freiräume in der ihnen aufgezwungenen Enge der Islamischen Republik Iran. Aus verstohlen in ihr Haus huschenden schwarz verschleierten Schatten werden junge Frauen in Jeans und bunten Kleidern. Sie öffnen sich in der Diskussion über die literarischen Werke und beginnen die eigene Realität, der gegenüber sie sich lange sprachlos und ohnmächtig fühlten, zu hinterfragen und zu verändern.
Die Iranerin Azar Nafisi unterrichtete Englische Literatur an der Universität von Teheran, der Freien Islamischen Universität und der Universität von Allameh Tabatabai. Weil sie sich weigerte, den Schleier zu tragen, erhielt Nafisi Lehrverbot. 1997 verließ sie den Iran und wanderte in die USA aus. Sie schreibt für die New York Times, die Washington Post, das Wall Street Journal und den New Republic, lehrte als Gastdozentin in Oxford und ist heute Professorin für englische Literatur an der Johns Hopkins Universität in Washington D.C.
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Nachdem ich meine letzte Stelle an der Universität aufgegeben hatte, wollte ich mir im Herbst 1995 etwas Gutes tun und mir einen Traum erfüllen. Ich wählte sieben meiner besten und engagiertesten Studentinnen aus und lud sie jeden Donnerstagmorgen zu mir nach Hause ein, um dort über Literatur zu diskutieren. Die Gruppe bestand nur aus Frauen – es wäre zu riskant gewesen, eine gemischte Klasse in der privaten Sphäre meines Hauses zu unterrichten, auch wenn wir nur harmlose Romane gelesen hätten. Ein Student, der von unserem Unterricht ausgeschlossen war, ließ allerdings nicht locker. Also erhielt auch Nima die Texte, die gerade verteilt wurden, und an bestimmten Tagen kam er zu mir nach Hause, um über die Bücher zu sprechen, die wir gerade lasen.
Ich erinnerte meine Studentinnen oft scherzhaft an Die Blütezeit der Miss Jean Brodie von Muriel Spark und fragte: Wer von euch wird mich schließlich verraten? Denn ich bin von Natur aus pessimistisch und war sicher, dass sich zumindest eine mit mir überwerfen würde. Nassrin bemerkte darauf einmal spitz, ich hätte ihnen doch gesagt, dass letztlich wir selbst es seien, die uns verraten und uns wie Judas gegenüber Christus verhalten würden. Manna wies darauf hin, dass ich nicht Miss Brodie sei, und sie, nun, sie seien eben, was sie seien. Sie erinnerte mich an eine Warnung, die ich oft und gern wiederholte: Versuchen Sie nie, unter keinen Umständen, ein dichterisches Werk zu verharmlosen, indem Sie es in einen Abklatsch des wirklichen Lebens verwandeln. Was wir in der Literatur suchen, ist nicht so sehr die Wirklichkeit als vielmehr das Aufscheinen der Wahrheit. Aber wenn ich, was ich ungern täte, das literarische Werk aussuchen müsste, in dem sich die meisten Anklänge an unser Leben in der Islamischen Republik Iran finden, dann wäre es wahrscheinlich nicht Die Blütezeit der Miss Jean Brodie oder 1984, sondern Nabokovs Einladung zur Enthauptung oder noch besser: Lolita.
An meinem letzten Abend in Teheran, zwei Jahre nach unserem ersten Donnerstagmorgen-Seminar, kamen einige Freunde und Studentinnen, um mir beim Packen zu helfen und sich von mir zu verabschieden. Als wir das Haus vollkommen leer geräumt hatten, alle Sachen verstaut und die bunten Farben wie herumirrende Geister, die sich wieder in ihre Flaschen verziehen, in acht grauen Koffern verschwunden waren, stellten meine Studentinnen und ich uns vor die nackte weiße Wand des Esszimmers und machten zwei Fotos.
Diese beiden Fotos liegen jetzt vor mir. Auf dem ersten stehen sieben Frauen vor einer weißen Wand. Sie tragen, dem Gesetz des Landes entsprechend, schwarze Kleider und Kopftücher und sind bis auf das Oval des Gesichts und die Hände vollkommen verhüllt. Auf dem zweiten Bild dieselbe Gruppe, die gleiche Haltung, vor derselben Wand. Nur dass die Frauen ihre Verhüllung abgelegt haben. Die Farbtupfen springen sofort ins Auge. Durch die Farben und den Stil ihrer Kleidung, die Farbe und Länge ihrer Haare bekommt jede etwas Charakteristisches. Nicht einmal die beiden, die auch hier ihr Kopftuch tragen, sehen gleich aus.
Ganz rechts außen auf dem zweiten Bild steht unsere Dichterin, Manna, in weißem T-Shirt und Jeans. Sie machte aus Dingen, die die meisten nicht weiter beachten, Poesie. Auf dem Foto ist jedoch nichts von ihren eigenartig stumpfen, dunklen Augen zu sehen, die Mannas in sich gekehrtem, verschlossenem Charakter entsprechen.
Gleich neben ihr steht Mahshid, deren langes schwarzes Kopftuch nicht recht zu ihren feinen Gesichtszügen und dem vorsichtigen Lächeln passt. Mahshid kannte sich in vielen Dingen gut aus, aber sie benahm sich auch gerne etwas geziert, sodass wir sie schließlich mit »Mylady« anredeten. Nassrin meinte dazu immer, wir würden damit allerdings weniger über Mahshid aussagen als vielmehr dem Wort Lady eine neue Dimension verleihen. Mahshid ist sehr sensibel. Sie sei wie Porzellan, sagte Yassi einmal zu mir, sehr zerbrechlich. Darum wirkt sie auch auf jemanden, der sie nicht gut kennt, so schwach. Aber wehe dem, der ihr zu nahe kommt. Was mich angeht, so fuhr Yassi gutmütig fort, ich bin wie gutes altes Plastik: Egal, was man mit mir anstellt, ich geh nicht kaputt.
Yassi war die Jüngste in unserer Gruppe. Sie ist die in Gelb, die sich nach vorne beugt und sich vor Lachen kaum halten kann. Manchmal zogen wir sie auf und nannten sie unsere Comedy-Queen. Yassi war von Natur aus schüchtern, aber bei bestimmten Dingen erwachte ihr Temperament, und sie verlor jegliche Hemmungen. Mit ihrem sanften Spott konnte sie nicht nur andere, sondern auch sich selbst in Frage stellen.
Ich bin die in Braun, direkt neben Yassi, der ich einen Arm um die Schulter lege. Gleich hinter mir steht Azin, die größte meiner Studentinnen, mit ihrem langen blonden Haar und einem rosa T-Shirt. Wie wir anderen lacht auch sie. Aber Azins Lächeln sah nie wie ein Lächeln aus, es wirkte mehr wie der Vorbote einer unbezähmbaren, nervösen Heiterkeit. Sie strahlte auf eine ganz eigene Art, selbst wenn sie von den jüngsten Problemen mit ihrem Ehemann erzählte. Azin, immer leidenschaftlich und unverblümt, genoss es, wenn sie die anderen mit dem, was sie sagte und tat, schockieren konnte, und geriet oft mit Mahshid und Manna aneinander, was ihr schließlich bei uns den Spitznamen »die Wilde« einbrachte.
Auf der anderen Seite neben mir erkennt man Mitra, die vielleicht Ruhigste von uns allen. Wie die Pastellfarben in ihren Gemälden schien auch sie sich uns immer mehr zu entziehen und in diffusere Gefilde zu entschweben. Zwei wunderbare Wangengrübchen verliehen ihrer Schönheit eine ganz eigene Note, die sie, wenn sie sich jemanden gefügig machen wollte, durchaus einzusetzen wusste.
Sanaz, die sich immer von Familie und Gesellschaft unter Druck gesetzt fühlte und zwischen ihrem Wunsch nach Unabhängigkeit und dem Bedürfnis nach Anerkennung schwankte, hält sich an Mitras Arm fest. Alle lachen wir. Unser unsichtbarer Teilnehmer, der Fotograf, ist Nima, Mannas Ehemann und der einzige wirkliche Literaturtheoretiker unter meinen Studenten – hätte er nur die Ausdauer gehabt, die brillanten Essays, die er begonnen hatte, auch fertigzustellen.
Es gab noch eine Studentin, die aber nicht auf den Fotos ist: Nassrin, die nicht bis zum Ende dabei war. Aber meine Geschichte wäre unvollständig ohne die, die nicht bei uns bleiben wollten oder konnten. Ihre Abwesenheit wirkt immer noch nach, wie ein akuter Schmerz, der keine physische Ursache mehr zu haben scheint. Das ist Teheran für mich: Das, was fehlte, war realer als das, was da war.
Wenn ich mir Nassrin heute vorstelle, dann ist ihr Bild leicht verschwommen, unscharf, irgendwie weit weg. Ich bin die Fotos durchgegangen, die von meinen Studenten und mir im Lauf der Zeit gemacht wurden, und Nassrin ist auf vielen davon zu sehen, aber immer versteckt hinter etwas – einer Person oder einem Baum. Auf einer Aufnahme stehe ich mit acht Studentinnen in dem kleinen Garten vor unserem Fakultätsgebäude, der Kulisse so vieler Abschiedsbilder in all den Jahren. Im Hintergrund eine schattenspendende Weide. Wir lächeln, und in einer Ecke, hinter der größten Studentin, guckt Nassrin hervor, wie ein kleiner Kobold, der spitzbübisch in einer Szenerie auftaucht, in der er eigentlich nichts zu suchen hat. Auf einem anderen Bild ist in dem engen V, das die Schultern zweier anderer Mädchen bilden, kaum ihr Gesicht zu erkennen. Sie sieht merkwürdig geistesabwesend aus und schaut so finster drein, als ob sie nicht bemerken würde, dass sie gerade fotografiert wird.
Wie lässt sich Nassrin beschreiben? Ich habe sie einmal in Anspielung auf Alice im Wunderland die »Grinsekatze« genannt, die an unerwarteten Wendepunkten meines akademischen Lebens auftauchte und wieder verschwand. Die Wahrheit ist: Ich kann sie nicht beschreiben, nicht in Worte fassen. Man kann nicht mehr sagen, als dass Nassrin eben Nassrin war.
Beinahe zwei Jahre lang, fast jeden Donnerstagmorgen, bei Sonne oder Regen kamen sie zu mir nach Hause, und beinahe jedes Mal traf es mich wieder wie ein Schock, wenn sie die vorgeschriebenen Schleier und Umhänge ablegten und die Farben förmlich aus ihnen herausplatzten. Wenn meine Studentinnen diesen Raum betraten, legten sie mehr ab als nur ihre Kopftücher und Mäntel. Schritt für Schritt gewann jede von ihnen an Kontur und Gestalt und wurde so ein eigenständiges, einzigartiges Wesen. Unsere Welt in diesem Wohnzimmer mit seinem Ausblick auf mein geliebtes Elbursgebirge wurde zu unserem Zufluchtsort, einem geschlossenen Universum, das der Realität voller schwarz verschleierter, ängstlich dreinblickender Gesichter in der unter uns liegenden Stadt trotzte.
Das Thema des Seminars war der Zusammenhang zwischen Fiktion und Realität. Wir lasen klassische persische Literatur, wie die Erzählungen unserer eigenen Grande Dame der Literatur, Scheherazade, aus Tausendundeiner Nacht und parallel dazu westliche Klassiker wie Stolz und Vorurteil, Madame Bovary, Daisy Miller, Der Dezember des Dekan und, ja tatsächlich, Lolita. Während ich die Titel der einzelnen Bücher hinschreibe, vertreiben die mit dem Wind hereinwirbelnden Erinnerungen die Ruhe dieses Herbsttages, den ich in einem anderen Zimmer, in einem anderen Land verbringe.
In dieser anderen Welt, die so oft in unseren Diskussionen eine Rolle spielte, sitze ich hier und heute und stelle sie mir wieder vor, meine Mädchen, wie ich sie bald nannte, stelle mir vor, wie wir Lolita lasen, in einem trügerisch sonnigen Raum in Teheran. Aber, um es mit den Worten von Humbert, dem Dichter/Verbrecher aus Lolita, auszudrücken: »Ich brauche Sie, die Leser,...
Erscheint lt. Verlag | 11.10.2023 |
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Übersetzer | Maja Ueberle-Pfaff |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Reading Lolita in Teheran |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | 2023 • eBooks • Frauen im Iran • Iran • Literatur als Widerstand • literatur und demokratie • Literatur und Politik • Literatur und Zensur • Neuerscheinung • New-York-Times-Bestseller • Teheran |
ISBN-10 | 3-641-29839-3 / 3641298393 |
ISBN-13 | 978-3-641-29839-5 / 9783641298395 |
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