Lillis Tochter (eBook)
320 Seiten
Deutsche Verlags-Anstalt
978-3-641-28655-2 (ISBN)
Ilse ist erst 14 Jahre alt, als ihre Mutter, die jüdische Ärztin Lilli Jahn, im Sommer 1943 in ein Lager verschleppt und später in Auschwitz ermordet wird. Von heute auf morgen muss Lillis Tochter die Verantwortung für ihre drei jüngeren Schwestern übernehmen. Als 'Halbjüdinnen' sind die Mädchen selbst bedroht. Nach den traumatischen Erfahrungen in der NS-Zeit erlebt Ilse auch im Nachkriegsdeutschland, dass sie nicht wirklich dazugehört. Das Schicksal Lillis verschweigt sie, auf eigene berufliche Pläne verzichtet sie zugunsten der Karriere ihres Mannes. Einfühlsam erzählt Martin Doerry die Geschichte seiner Mutter Ilse als Geschichte einer Überlebenden und einer in den Konventionen und Zwängen ihrer Zeit gefangenen Frau.
Seiner Großmutter Lilli, Ilses Mutter, setzte Martin Doerry zuvor schon mit der Biografie »?Mein verwundetes Herz?. Das Leben der Lilli Jahn 1900-1944« ein hoch gelobtes literarisches Denkmal.
Martin Doerry, geboren 1955, ist promovierter Historiker und arbeitete von 1987 bis 2021 als Redakteur für den SPIEGEL. 16 Jahre lang war er stellvertretender Chefredakteur des Nachrichtenmagazins. Bei der DVA erschienen von ihm der in 19 Sprachen übersetzte Bestseller »?Mein verwundetes Herz?. Das Leben der Lilli Jahn 1900-1944« (2002) und »Nirgendwo und überall zu Haus - Gespräche mit Überlebenden des Holocaust« (2006, in Zusammenarbeit mit der Fotografin Monika Zucht). Gemeinsam mit Susanne Beyer hat er den Band »Mich hat Auschwitz nie verlassen. Überlebende des Konzentrationslagers berichten« herausgegeben (2015).
Von Immenhausen nach Birmingham
»Ein maßloser Hass«
Der Kampf um Lillis Kinder
Der Muttertag des Jahres 1945 fiel auf den 13. Mai und damit auf den ersten Sonntag nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa. Am Morgen legten Ilses Schwestern eine kleine blaue Karte auf den Frühstückstisch. Auf der Vorderseite stand: »Unserem kleinen Mutterlein zum Muttertag 1945«.
Mit Zwirnsfaden hatten die drei ein weißes Blatt angeheftet, das außen mit bunten Herzchen und Blümchen bemalt war. Und innen hatte eines der Mädchen mit Bleistift geschrieben:
Liebes Schwesterlein!
Wir danken dir für deine große Müh,
die du für uns gehabt hast
von Abendszeit bis morgens früh.
Du tratest für uns Kleine ein,
als Mutti von uns ging,
nun danken wir dir 1000mal
recht lieb und inniglich
Hannele, Eva, Dorle
Daneben hatten die Schwestern zwei gepresste Blüten gelegt und das Wort »Vergissunsnicht« hinzugefügt.
Lillis Töchter waren jetzt, wenige Tage nach der Befreiung vom NS-Regime, so sehr aufeinander angewiesen wie nie zuvor. Die Mutter lebte nicht mehr, der Vater befand sich in sowjetischer Kriegsgefangenschaft – so viel immerhin wussten sie, aber ob und wann er wiederkommen würde, schien ungewiss.
Immenhausen war bis auf ein paar kleinere Bombenschäden ohne schlimme Zerstörungen durch den Krieg gekommen. Aber seine Bewohner waren von den Schrecken und Ängsten der letzten sechs Jahre gezeichnet. Lillis Kinder hatten zunächst noch gehofft, dass sie von ihren Nachbarn mit offenen Armen aufgenommen werden würden, nun, da die Jahre der Ausgrenzung und Diskriminierung ein Ende haben sollten. Doch niemand interessierte sich für ihr Schicksal oder entschuldigte sich gar für das, was man ihnen und ihrer Mutter angetan hatte.
Immerhin, die amerikanischen Besatzungssoldaten sorgten sofort dafür, dass der nationalsozialistische Bürgermeister abgesetzt und ein Sozialdemokrat sein Nachfolger wurde. Auch der bis vor Kurzem noch verfolgte Gerhard bekam nun sein erstes Amt: Der 17-Jährige übernahm am 1. Juni für ein Jahr die Kartenstelle im Immenhäuser Rathaus, einen wichtigen Posten in den Zeiten der Mangelwirtschaft. Gerhard entschied ab sofort über die Zuteilung von Nahrungsmitteln und Kleidung.
Außerdem nutzte er seine neue Position, um in eigener Sache tätig zu werden. Die Immenhäuser Nationalsozialisten hatten viele Dokumente, die sie belasteten, kurz vor Kriegsende vergraben – Gerhard ließ sie bergen. Dabei kamen auch jene Briefe zutage, die Bürgermeister Groß an die Kreisleitung der NSDAP in Hofgeismar geschrieben hatte, um Lilli aus Immenhausen zu vertreiben.
Ilse schilderte den Stand der Dinge in der Kinderfamilie am 28. September 1945 in einem Brief an Lillis Freundin Lotte Paepcke. Geschrieben hatte sie ihn auf einem alten Briefbogen mit der Absenderzeile »Frau Dr. med. Lilli Jahn«:
Meine liebe, gute Tante Lotte!
Heute früh habe ich erfahren, dass ich nach Karlsruhe schreiben könne. Jetzt könnte ich Dich auch einmal wieder besuchen, wenn Du Platz hast!! Das wäre ja nur zu schön. Zeit habe ich dadurch, dass ich nicht mehr zur Schule gehe und der Privatunterricht für mich aufgehört hat, weil ich kein Fahrrad habe. Tante Ritas Rad haben die Polen vorige Woche gestohlen.
Wir wollen in acht bis zehn Tagen Zuckerrüben ausmachen. Das gibt noch eine grässliche Arbeit. Vor allem bei diesem Regen. Aber ich glaube, wir müssen es tun, denn wir kriegen in jeder Zuteilungsperiode die Rationen gekürzt.
Evalein ist in Hümme, 15 km von Immenhausen entfernt, bei den Eltern von Hanneles langjähriger Freundin, einer Pfarrersfamilie. Hannele ist noch immer bei der Bäuerin. Dorle ist immer vergnügt und sitzt jetzt neben mir und sieht sich ein Bilderbuch an.
Bei uns ist es sehr kalt. Koks gibt es voraussichtlich nicht!! Holz haben wir auch nicht sehr viel. Jetzt helfen wir uns mit zwei elektrischen Öfchen.
Wie geht es Deiner Gesundheit? Bist Du noch immer auf dem Besserungswege? Was machen Deine Männer? Sind sie gesund? Mein einer Mann macht mir viel, viel zu schaffen. Oh, Tante Lotte, wenn er nicht wäre, hätte ich manche Sorge weniger. Es klingt ja sehr großspurig, aber mir ist das Weinen meist näher als alles andere. Manchmal bin ich ganz verzweifelt. Bis jetzt ist es immer noch gut ausgegangen. Aber ich bitte Dich sehr, mir doch einen Rat zu geben, wie es anders werden kann.
Er redet mit Tante Rita kein Wort mehr. Und das kam so: Wir hatten eine Hausangestellte, mit der Gerhard und wir alle uns recht gut verstanden. Eines Abends – ich war in der Zeit nicht zu Hause, weil in unserer Umgebung die Amerikaner waren und ich aus Vorsicht woanders schlief, denn bei der vorigen Einquartierung hatten sich mehrere traurige Zwischenfälle ereignet – hatte Gerhard sich zu diesem Mädel aufs Bett gesetzt und war dort eingeschlafen. Das war natürlich sehr peinlich. Tante Rita war durch Zufall raufgekommen und hatte das gesehen. Dann hat es zwischen Tante Rita und Gerhard einige harte Auseinandersetzungen gegeben. Seitdem ist zwischen den beiden kein Wort gewechselt worden. Vorher hatten wir diesen Zustand schon einige Male, aber er hat sich immer wieder gegeben. Ja, Tante Rita war oft wirklich recht garstig zu uns, aber auch oft sehr nett. Doch Gerhard sucht immer nur das Schlechte in allem, was sie tut. Er betont immer und immer wieder, sie wäre eine Mörderin, und sie wäre eine Vereinigung alles Schlechten, was es nur gäbe.
Jetzt, wo doch Vati nicht wiederkommt, zumindest vorläufig nicht, haben wir einen neuen Anfang gemacht. Es ist doch für sie ebenso schwer wie für uns, dass Vati nicht da ist. Vatis Abwesenheit macht es uns doppelt zur Pflicht, ein erträgliches Leben zu führen!
Aber wenn ich freundlich bin oder ihr mal etwas gebe, muss ich eine entsetzliche Strafpredigt von ihm über mich ergehen lassen. Ich wäre charakterlos, vergäße Muttis Tränen, wir müssten Mutti rächen und noch mehr solcher Dinge.
Ich kann mir noch so viel Mühe geben, ihm zu erklären, dass wir uns ja nur sehr selber schaden würden und dass mit einem solchen Verhalten niemandem geholfen wäre. Aber da ist nichts zu machen. Er verharrt auf seinem Grundsatz.
Dann ist er bei einem Rechtsanwalt gewesen wegen einem Pfleger. Das ist doch ganz unnötig. An die wichtigsten Dinge, wie Schule zum Beispiel, denkt Tante Rita schon. Wenn Gerhard es so weitertreibt, kann sie uns der Fürsorge ausliefern. Dann aber ahoi!
Nun hat Gerhard aber auch nicht die richtige Umgebung dort auf dem Rathaus. Lauter Leute, die ihn gegen Tante Rita aufhetzen. »Werft sie doch raus« oder »Bring sie doch ins Loch« und ähnliche Dinge hört er da zigmal. Er hat dort wohl schon den einen oder anderen Nazi durch seinen Einfluss festsetzen lassen. Deswegen habe ich auch immer befürchtet, er lasse mal etwas gegen Tante Rita unternehmen. Er hat in den von den Nationalsozialisten vergrabenen Papieren eine Zweitschrift von der Anklage Muttis gefunden. Diese lautet ungefähr so: Der Abtransport der Frau Lilli Sara Jahn ist jetzt möglich, da Ernst Jahn mit Rita ein Kind hat und er sie in Kürze heiraten will. Damit wäre die Anwesenheit der Frau Jahn überflüssig. Das trägt nun alles zu Gerhards maßlosem Hass bei. Wenn man den nur lindern könnte! Ich kann es nicht, muss nur immer mich bemühen, neues Unheil abzuwenden.
Nun, liebe Tante Lotte, schreib mir bitte bald wieder, grüße Deine Männer von allen Kindern recht herzlich. Sei Du ganz besonders fest liebgehalten und tausendmal gegrüßt und geküsst von Deiner
Dich herzlich liebenden Ilse
Bis zum Ende des Krieges hatte das NS-Regime die Nahrungsmittelversorgung der eigenen Bevölkerung noch weitgehend gewährleistet – auf Kosten der besetzten Nachbarländer, die dafür ausgeplündert worden waren. Im Laufe des Sommers 1945 machte sich nun der Ausfall dieser Lebensmittellieferungen bemerkbar. Auch Ilse wusste bald nicht mehr, wie sie ihre Schwestern ernähren sollte. Das Angebot in den Geschäften wurde von Woche zu Woche stärker rationiert. Johanna und Eva mussten das Ärztehaus sogar für einige Zeit verlassen und zu befreundeten Familien ziehen, die für die Verpflegung der beiden Mädchen sorgen wollten.
Ilse selbst verdingte sich im Herbst bei Immenhäuser Bauern, um bei der Zuckerrübenernte zu helfen – in der Tat eine, wie sie Lotte schrieb, ziemlich anstrengende Angelegenheit, zumal sie bis dahin nie auf dem Feld gearbeitet hatte. Ihr Lohn bestand darin, dass sie einen kleinen Teil der geernteten Rüben behalten durfte. Um Zucker zu gewinnen, wurden die Rüben dann klein geschnitten, gewaschen und gekocht.
Auch Ilse musste in diesen Wochen das Ärztehaus mehrmals verlassen, allerdings nur nachts. Die 16-Jährige verbrachte die Nächte an wechselnden Orten, bei Nachbarn und Schulfreundinnen, weil es in diesen Nachkriegsmonaten auch in der Umgebung von Kassel zu Vergewaltigungen durch Besatzungssoldaten gekommen war, zu ebenjenen »traurigen Zwischenfällen«, von denen sie Lotte in ihrem Brief berichtete. Zum Glück blieb sie unbehelligt.
Noch mehr Sorgen bereiteten ihr die Spannungen zwischen Rita und Gerhard. Lillis älteste Tochter verhielt sich in dieser Krisensituation zwar genauso, wie es ihre Mutter ihr stets vorgelebt hatte: Sie bemühte sich um Deeskalation und um Ausgleich zwischen den Interessen aller Beteiligten. Doch der Konflikt mit dem Bruder...
Erscheint lt. Verlag | 20.9.2023 |
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Zusatzinfo | mit Abbildungen |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | 2023 • abwesende Mutter • Antisemitismus • Auschwitz • christiane hoffmann buch • die unbeugsamen film • diskriminierung juden • eBooks • familie 20. jahrhundert • Frauen 20. Jahrhundert • Frauen Biografien • Frauen Bücher • Frauen Emanzipation • Fünfzigerjahre • Gerhard Jahn • Geschichte • Holocaust Überlebende • juden bundesrepublik • Juden in Deutschland • Judenmord • Judenverfolgung • Kriegskinder • Lilli Jahn • mein verwundetes herz • miriam gebhardt nachkriegseltern • mutter sohn geschichte • Neuerscheinung • NS-Diktatur • Sabine Bode • Shoah • tod mutter • Wirtschaftswunderjahre |
ISBN-10 | 3-641-28655-7 / 3641286557 |
ISBN-13 | 978-3-641-28655-2 / 9783641286552 |
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