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Herzgewalt (eBook)

Warum wir kriminelle Jugendliche nicht alleinlassen dürfen | Im Einsatz für Jugendschutz und Gewaltprävention
eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
288 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-01823-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Herzgewalt -  Jens Mollenhauer
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Für den erfahrenen Jugendschützer Jens Mollenhauer gehören sie zum Alltag: Kinder, die andere verprügeln und ihre Taten mit dem Handy filmen. Teenager, die mehr Akteneinträge als Lebensjahre auf dem Buckel haben. Mollenhauer hat mit zahllosen Betroffenen gesprochen, Tätern wie Opfern, um die Hintergründe zu erfahren und zu zeigen, dass Gewalt keine Lösung ist. Gewalt, die ihren Ursprung fast immer in verletzten Gefühlen, Vernachlässigung und mangelnden Vorbildern hat: «Herzgewalt» eben. Eindrücklich schildert Jens Mollenhauer seine Begegnungen und plädiert für einen anderen Umgang mit unseren Kindern.

Jens Mollenhauer arbeitete fast vierzig Jahren als Polizist. Nach Stationen bei der Bereitschaftspolizei und als Undercover-Polizist leitete er bis zu seiner Pensionierung im Frühjahr 2023 die deutschlandweit einzigartige Jugendschutzeinheit der Hamburger Polizei. Er engagiert sich nach wie vor ehrenamtlich an Schulen und Kindergärten und bietet Workshops für Gewaltprävention und gegen Mobbing an. Er lebt mit seiner Frau und seinen acht Kindern in der Nähe von Hamburg.

Jens Mollenhauer arbeitete fast vierzig Jahren als Polizist. Nach Stationen bei der Bereitschaftspolizei und als Undercover-Polizist leitete er bis zu seiner Pensionierung im Frühjahr 2023 die deutschlandweit einzigartige Jugendschutzeinheit der Hamburger Polizei. Er engagiert sich nach wie vor ehrenamtlich an Schulen und Kindergärten und bietet Workshops für Gewaltprävention und gegen Mobbing an. Er lebt mit seiner Frau und seinen acht Kindern in der Nähe von Hamburg. Axel Fischer ist TV-Journalist und Kameramann. Er wirkte bei zahlreichen Investigativ-Reportagen u.a. für SPIEGEL TV, das ZDF und ARTE mit. Er lebt mit seiner Frau und seinem Sohn in Schleswig-Holstein. Nicola Fischer ist Journalistin und TV-Produzentin. Sie arbeitet u.a. für TV-Formate der ProSiebenSat.1 Media, RTL, NDR und ZDF. Ihren Themenschwerpunkt hat sie auf sozial- und gesellschaftspolitische Themen im Boulevard gelegt. Die gebürtige Hamburgerin lebt mit ihrem Ehemann und ihrem Sohn in Schleswig-Holstein.

1 Die gute Gang


Als ich auf dem Hamburger Dom zusammengeschlagen wurde, war ich erst wenige Tage Polizeischüler. Damals erfuhr ich, was fehlende Zivilcourage bedeutet. Ich hatte die Hilflosigkeit gespürt, als meine Kollegen die Flucht ergriffen, um ihre eigene Haut zu retten. Obwohl ich in meiner Freizeit geboxt hatte, hatte ich keine Chance gegen die «Streetboys». Bestimmt war ich kein begnadeter Boxer gewesen, aber gut genug, um mich verteidigen zu können – dachte ich. Mein Selbstwert war ganz unten. Meine verwundete Seele brauchte einen Kitt. Ich sehnte mich nach etwas, das mir mein Selbstvertrauen zurückgab. Und so landete ich unmittelbar nach meiner Ausbildung bei der Bereitschaftspolizei. Eine Einheit, die perfekt zu mir passte. Denn neben dem Boxsport lief ich Marathon. Ich war Sportler durch und durch. Damit war ich bei der Bereitschaftspolizei in guter Gesellschaft. Sie war die Truppe fürs Grobe. Für Demos, Hausdurchsuchungen und Festnahmen. Davon gab es 1986 reichlich.

Die Stimmung in der Stadt war spannungsgeladen. Das Kernkraftwerk Brokdorf vor den Toren Hamburgs wurde in Betrieb genommen, trotz massiven Widerstands aus der Bevölkerung. Es war die Zeit, als mehrere Wohngebäude der Hafenstraße von linksautonomen Demonstranten besetzt wurden, ein Konflikt, der immer wieder in heftigen Straßenschlachten gipfelte. Alles Einsatzgebiete für die Bereitschaftspolizei. Unsere Truppe hieß Festnahmezug und bestand nur aus jungen Typen, muskelbepackt, mit Bock auf Action. Alle waren hoch motiviert.

Wir waren eine Einheit, bei der sich der eine auf den anderen verlassen konnte. Mussten wir auch. Denn wenn eine Demo in der Hafenstraße angekündigt war, hatte das mit friedlichen Kundgebungen nichts zu tun. Stattdessen trafen wir auf vermummte Autonome, brennende Barrikaden, fliegende Pflastersteine. Und wir an vorderster Front. Das war Straßenkampf. Bei einem Einsatz wurde ein Kollege von einem Molotowcocktail getroffen und brannte wie eine Fackel. Wir konnten ihn zum Glück schnell löschen. Bei einem anderen Einsatz wurden von fünfundzwanzig Kollegen einundzwanzig verletzt. Die Polizeitaktik bei Demos mit Gewaltpotenzial war damals noch nicht sonderlich ausgereift. Reinlaufen, Draufknüppeln, Rückzug.

Wir hießen zwar Festnahmezug, unser Spitzname war allerdings «Schädelzug», da wir selten jemanden festnahmen, aber immer mit dem Kopf vorangingen. Man musste kein Stratege sein, um zu erkennen, dass am Ende mehr Verletzte als Erfolge zu registrieren waren. Deshalb wurde später die BFE gegründet, die Beweissicherungs- und Festnahmeeinheit, eine Spezialeinheit, die bis heute Teil der Hamburger Polizei ist. Sie ist für derartige Manöver geschult, denn unser Schädelzug wirkte bei den Demos eher eskalierend als befriedend.

Als ich in die BFE kam, wurde ich undercover bei Demos eingesetzt, zur Observation von Personen. Mit meinen langen schwarzen Haaren – eine Matte wie Thomas Anders von Modern Talking – sah ich einem Autonomen viel ähnlicher als den meisten meiner Kollegen. Die Straftäter bei Demonstrationen konnten so problemlos festgenommen werden, das Demonstrationsrecht wurde auf diese Weise geschützt und Eskalationen wurden vermieden. Aus meiner Sicht ein sehr gutes Konzept.

Nur wenige Hundert Meter von der Hafenstraße entfernt, auf der Hamburger Reeperbahn, tat sich Ende der Achtzigerjahre/Anfang der Neunzigerjahre ebenfalls etwas. Das Machtmonopol unter den Zuhältern hatte sich verschoben, Albaner gewannen zunehmend an Einfluss und verdrängten die Alteingesessenen. Das Gefüge geriet durcheinander, und die Situation wurde insgesamt unübersichtlich. Die Polizei wusste nicht mehr genau, wer im Prostitutionsgeschäft das Sagen hatte. Parallel liefen Anfang der Neunzigerjahre zahlreiche Verfahren wegen Scheckbetrugs. Das LKA wollte herausfinden, wer dahintersteckte. Und da sie wussten, dass ich undercover agieren konnte, sollte ich als nicht offen ermittelnder Beamter eingesetzt werden, als NoeB. Ich sollte unter falscher Identität den Ort aufsuchen, von dem aus die Albaner operierten: eine kleine Kneipe am Hamburger Berg. Heute eine Partystraße mit zahlreichen Lokalen, damals allenfalls eine heruntergekommene Gasse, in der zwielichtige Kaschemmen sich aneinanderreihten, darunter Zum Goldenen Handschuh, in dem der Serienmörder Fritz Honka seine Opfer kennenlernte, oder der gegenüberliegende Elbschlosskeller, Sammelbecken für alle Gestrandeten von St. Pauli.

Mein Job bestand darin herauszufinden, wer in dem Laden telefonierte. Ich sollte Kontakt zu den entsprechenden Personen herstellen und ihr Vertrauen gewinnen, um am Ende die Hintermänner des groß angelegten Scheckbetrugs ausfindig zu machen.

Also marschierte ich eines lauen Sommerabends im Juni 1994 in die Kneipe hinein und begrüßte die dort anwesenden Personen mit einem fast überschwänglichen «Ciao belli miei». Denn meine Legende wich nur in Teilen von meinem tatsächlichen Lebenslauf ab. Ich war ein boxender Halbitaliener mit Wohnsitz in Lüneburg, der den Kontakt zu seiner Familie abgebrochen hatte, sich nebenbei als Versicherungsmakler verdingte und mehr Geld verdienen wollte, um seine Schulden bezahlen zu können. Aus diesem Grund wollte ich Zuhälter werden, um mir mit Prostituierten ein wenig etwas dazuzuverdienen. Abgesprochen hatte ich diese Legende zu diesem Zeitpunkt mit noch niemandem. Ich erzählte sie einfach, weil sie zumindest in der Familiengeschichte meinem eigenen Leben ähnelte und für mich so jederzeit rekapitulierbar war. Ich setzte mich also an den Tresen und sprach die junge Frau neben mir direkt an.

«Buonasera, darf ich dich zu einem Drink einladen?»

«Gerne, dich habe ich ja noch nie hier gesehen», antwortete sie. Sie war höchstens Mitte zwanzig, hatte rotblondes, schulterlanges Haar, ein puppenhaftes Gesicht mit vollen Lippen. Ein bisschen sah sie aus wie die junge Katja Ebstein.

«Was trinkst du denn?»

«Whiskey Cola.»

«Und wie heißt du?» Ich fiel mit der Tür ins Haus.

«Tanja. Aber jetzt hast du mir immer noch nicht verraten, was so einen schnuckeligen Typen wie dich in dieses Loch hier verschlägt.»

«Ich bin neu in Hamburg. Und ich sag’s dir ganz ehrlich: Ich brauche mehr Kohle. Ich bin hier auf dem Kiez, weil ich Zuhälter werden will. Kein Großer, ein, zwei Frauen würden schon reichen. Vielleicht kannst du mich ja mit Leuten bekannt machen.»

Tanja und ich hatten sofort einen Draht zueinander. Sie kam selbst aus dem Milieu, hatte einen Freund, für den sie «ackerte», wie sie sagte. Sie ging also anschaffen und war mit den Personen aus dem Rotlichtmilieu bestens vernetzt. Als Boxer mit Namen Luigi Esposito hatte ich einen guten Einstieg und war bereits am Ende des Abends mit der Hälfte der Kneipe per Du. Am nächsten Morgen erschien ich auf der Dienststelle, um meinem Vorgesetzten von meinen Erlebnissen zu berichten.

«Jens, du bist wahnsinnig. Wenn wir das wirklich weiterbringen wollen, brauchst du gefälschte Papiere, sonst ist es zu riskant. Du kannst auffliegen. Stell dir vor, die filzen dich und kriegen raus, dass du in Wahrheit Jens Mollenhauer und nicht Luigi heißt.»

Luigi – Gigi – Esposito war der Name meines italienischen Cousins. Den gab es ja wirklich, falls mich jemand überprüfen wollte. Mein Chef besorgte mir einen entsprechenden Personalausweis, und ab dem Moment, in dem ich mich auf der Reeperbahn bewegte, war ich Luigi aus dem Süden Italiens. Und ich wurde Zuhälter. Natürlich kein richtiger, nur nach außen hin. Die Prostituierte, die angeblich für mich arbeitete, war eine V-Frau, eine Vertrauensfrau. V-Leute sind bei der Polizei und beim Verfassungsschutz üblich, um Kenntnisse über ein Umfeld zu erlangen, in dem nur verdeckt ermittelt werden kann. Aktuell werden V-Leute in der rechts- und linksextremen Szene eingesetzt, um an Informationen zu gelangen.

Die V-Frau war Teil meiner Legende, um meine Glaubwürdigkeit gegenüber den wirklichen Zuhältern zu erhöhen. Sie öffnete mir schnell Tür und Tor. In einer Boxkneipe lernte ich Zuhälter kennen, die damals das Geschäft mit der Prostitution auf dem Kiez kontrollierten. Meine Beobachtungen hielt ich minutiös in seitenlangen Berichten fest, die dem LKA als Grundlage für ihre Ermittlungen dienten. Die Luft wurde aber zunehmend dünner für mich, ich musste jederzeit damit rechnen, von Personen aus dem Milieu bespitzelt zu werden. Zu groß war das Misstrauen darüber, dass jemand Geheimnisse ausplauderte, an die die Polizei nicht geraten durfte. Deshalb traf ich mich konspirativ mit einem Mitarbeiter des LKA, der mich führen sollte. Wir tauschten Informationen aus, und ich bekam von ihm Bargeld, damit ich vor den Jungs aus dem Milieu glaubhaft den Luden geben konnte.

Eines Tages allerdings betrat ich mit zwei Albanern einen Waffenladen. Sie brauchten neue Waffen, und ich sollte beim Kauf dabei sein. Zugleich sollte ich herausfinden, welche Waffe für mich geeignet wäre, damit ich mich als Zuhälter behaupten konnte. Das wurde der Einsatzleitung dann zu heiß. Es überstieg meine Qualifikation als NoeB. «Du bekommst Kiezverbot. Du bist nicht führbar!», raunte mir der Einsatzleiter zu. Ein Satz, den ich in meiner weiteren beruflichen Laufbahn noch oft hören sollte. Wie ich vorging, war sicher nicht immer der richtige Weg, aber einer, der mich häufig zum Ziel gebracht hat. Jetzt steckte ich jedoch zu tief im Zuhältersumpf. Ich musste mit einer Legende von der Bildfläche verschwinden.

Zusammen mit einem Kollegen fuhr ich nach Hannover. Das war das letzte Lebenszeichen, das ich auf der Reeperbahn...

Erscheint lt. Verlag 17.10.2023
Co-Autor Axel Fischer, Nicola Fischer
Zusatzinfo Mit Abbildungen
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Aufwachsen in Armut • Drogen • Erlebnisberichte Polizeiarbeit • Gesellschaft • Gewalt • Gewaltfreie Kommunikation • Gewaltprävention • Gewalttaten Jugendliche • Jugendgewalt • Jugendkriminalität • Jugendliche • jugendliche Täter • Jugendschutzeinheit Hamburg • Kinder- und Jugendarbeit • Konfliktbewältigung • Mobbing an Schulen • Mobbing Kinder • Mobbingopfer • Pädagogik • Prävention • Präventivarbeit • Sachbuch • Soziale Arbeit • Straßenkinder • Zivilcourage
ISBN-10 3-644-01823-5 / 3644018235
ISBN-13 978-3-644-01823-5 / 9783644018235
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