Die Rückeroberung der Zukunft (eBook)
176 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-00563-1 (ISBN)
Milo Rau, geboren 1977 in Bern, studierte Soziologie, Germanistik und Romanistik in Paris, Zürich und Berlin. Er ist fester Teil des «Literaturclubs» im Schweizer Fernsehen, Intendant der Wiener Festwochen und Hauskünstler des NTGent. Seine Theaterinszenierungen und Filme waren bislang in über 30 Ländern zu sehen, werden zu den wichtigsten nationalen und internationalen Festivals eingeladen und vielfach ausgezeichnet, zuletzt mit dem Europäischen Theaterpreis und dem Schweizer Filmpreis. Kritiker nennen ihn den «einflussreichsten» (Die Zeit), «kontroversesten» (New York Times) oder «interessantesten» (De Standaard) Künstler unserer Zeit.
Milo Rau, geboren 1977 in Bern, studierte Soziologie, Germanistik und Romanistik in Paris, Zürich und Berlin. Er ist fester Teil des «Literaturclubs» im Schweizer Fernsehen, Intendant der Wiener Festwochen und Hauskünstler des NTGent. Seine Theaterinszenierungen und Filme waren bislang in über 30 Ländern zu sehen, werden zu den wichtigsten nationalen und internationalen Festivals eingeladen und vielfach ausgezeichnet, zuletzt mit dem Europäischen Theaterpreis und dem Schweizer Filmpreis. Kritiker nennen ihn den «einflussreichsten» (Die Zeit), «kontroversesten» (New York Times) oder «interessantesten» (De Standaard) Künstler unserer Zeit.
Moral und Paralyse. Zur totalen Gegenwart
Prolog Was ist totale Gegenwart?
Zum ersten Mal von den Zürcher Poetikvorlesungen gehört habe ich als junger Student der Soziologie und der Germanistik an der Universität Zürich. Das war im Jahr 1997, ich war frisch an der Uni, damals saß man noch einmal in der Woche in der Vorlesung von Peter von Matt, aber nur ab der dritten Reihe, weil in den ersten beiden die Damen und Herren vom Züriberg[1] saßen. Kurt Imhof, der Soziologe mit dem Motorrad, lebte noch und verwirrte uns alle – und nutzte uns junge Student:innen natürlich aus als Recherchemaschinen, er konnte nicht anders, wie alle strahlenden Menschen. Sigrid Weigel führte uns in Freud, das Alte Testament, die Postmoderne ein, gemeinsam mit meinem damaligen und heutigen Professorinnen-Star, Elisabeth Bronfen.
Für mich, der ich von einem St. Galler Gymnasium kam, war das, was an der Universität Zürich gelehrt wurde, alles völlig verrückt. Es war verrückt, dass Tarantino, Moses, Pornofilme, mathematische Gleichungen, die Beastie Boys, Judith Butler, Molière, die Schwestern Brontë, Schweizer Tagespolitik und Max Weber im selben Seminar vorkamen. Dass Moral mit Ironie gemischt wurde, Systemtheorie mit Marxismus, die aufblühende Identitätspolitik mit Bruno Latours Parlament der Dinge. Wenn ich 1997 aus den Vorlesungen kam, wusste ich nicht mehr, sondern weniger als zuvor. Und ich bin noch heute der Meinung: Wissen ist die Vernichtung von Gewissheiten. Wissen ist nicht Information, sondern eine Art von Überblick, der uns aus der Welt der Informationen befreit.
Aber vielleicht ist eine Information trotzdem hilfreich, damit Sie mich besser verstehen: Ich habe meine Ausbildung an der Mittelschule und der Universität genau zwischen den Jahren 1989 und 2001 erhalten. Als hätte der Weltgeist an mir ein besonders kindisches Experiment durchführen wollen, bezog ich das Gymnasium direkt nach dem Fall der Berliner Mauer und schloss mein Studium in dem Moment ab, als die Türme fielen. 1989 bis 2001, das waren die Jahre der großen Revision. Die Siebziger und Achtziger waren das Jahrzehnt der Auflösung dessen gewesen, was man früher etwas hochtrabend die «Großen Erzählungen» genannt hatte: der europazentrierten Universalgeschichte, des biologischen Geschlechts, der sozialen Klassen und der Idee des Klassenkampfs – um nur ein paar Beispiele zu nennen.
Diese Auflösung wurde in den Neunzigern, als ich ein Teenager war, demokratisiert. Mit anderen Worten: Unser Lehrplan war diese Auflösung. «Dekonstruktion» des guten alten binären Abendlands, das war die einzige Aufgabe meiner intellektuellen Generation. Shakespeare zu lesen oder ihn gar zu inszenieren, das hieß in meinen Lehrjahren, ihn zu dekonstruieren. Übrigens ein Wort, das mich melancholisch stimmt, so altmodisch ist es: Dekonstruktion. Aber wie auch immer: In den Siebzigern wagten nur ein paar Avantgardist:innen wie Peter Zadek oder Ariane Mnouchkine, Shakespeare zu dekonstruieren. In den Neunzigern, als ich zur Schule ging, war die Arbeit getan. Man musste Romeo und Julia wirklich gelesen haben, um eine entfernte Ahnung zu haben, was die Schauspieler:innen auf der Bühne da trieben zwischen den Trümmern des Urtexts (den man unter den Techno-Beats, die damals angesagt waren, sowieso kaum verstehen konnte). Sogar am Theater St. Gallen war das so, wo ich meinen ersten Shakespeare sah. Auf der Bühne des Schauspielhauses Zürich war alles natürlich noch viel, viel schlimmer – da wüteten Schlingensief, Marthaler, die Jungs vom Golden Pudel Club und so.
Aber nicht so schnell: 1996 verließ ich St. Gallen, an einem kalten Februartag, und begann in Paris zu studieren, wo alles noch ziemlich oldschool lief, außer bei den Seminaren von Pierre Bourdieu und Bruno Latour natürlich. Ab 1997 studierte ich dann fest in Zürich. Aus Gründen, die ich mir selbst nicht erklären kann, wollte ich unbedingt Germanistik studieren – vielleicht weil es der Traum meines Großvaters Dino Larese gewesen war, ein italienischer Einwanderer. Es war für mich ein Herbst der Wunder, ein Herbst der großen Verwirrung. Es war in jenem Herbst 1997, fast auf den Tag genau vor einem Vierteljahrhundert, als der Schriftsteller W.G. Sebald die Vorlesung hielt, die ich nun im Jahr 2022 selbst halten sollte: die Zürcher Poetikvorlesung. Der Titel lautete damals: Luftkrieg und Literatur. Obwohl äußerst distanziert gehalten, war Sebalds Vorlesung ein Skandal. Es war wie in Adornos Zitat zur Unmöglichkeit der Dichtung nach Auschwitz: Über den Bombenkrieg, also das Leid der Deutschen, der Täter:innen zu sprechen, war an sich eine Art Tabubruch.
Zehn Jahre später, ich hatte mein Studium wie gesagt kurz nach dem Fall der Türme abgeschlossen und arbeitete in Dresden an einem Stück namens Pornografia, hielt Herta Müller die Zürcher Poetikvorlesung. Im Jahr 2009 dann bekam sie den Nobelpreis für ihren Roman Atemschaukel, in dem es um die Verfolgung der Rumäniendeutschen unter Stalin geht. Damals, zwanzig Jahre nach der Wende, arbeitete ich in Bukarest an Die letzten Tage der Ceaușescus. Dass ein Buch den Nobelpreis bekam, das die Leiden eines Deutschen unter dem Kommunismus in einer Region Europas ins Zentrum stellt, in der die (rumänischen und deutschen) Faschisten wie kaum in einem anderen gewütet hatten, das überraschte niemanden. Ebenso wenig überraschte mich, dass ein Stück zum Tod des stalinistischen Ehepaars Ceaușescu, das von einem linksradikalen Künstler wie mir erarbeitet wurde, von der Konrad-Adenauer-Stiftung unterstützt wurde, der Kulturstiftung der CDU.
Um die Jahrtausendwende fanden sich also ich und die Adenauer-Stiftung, der Bombenkrieg und der Holocaust, Hitler und Stalin, die Rumäniendeutschen und die Juden, die Beastie Boys und Judith Butler, Karl Marx und (fast hätte ich ihn vergessen) Carl Schmitt alle irgendwie in der gleichen Geschichte wieder – eine Form der europäischen Einigung aus einer undefinierbaren, aber geschichtsphilosophisch radikalen politischen Mitte heraus. Es war, wie der Philosoph Jean-Claude Michéa in seinem Essay Das Reich des kleineren Übels geschrieben hat, ein «Staat, der nicht denkt» entstanden: «Ein Staat ohne Ideen, oder wie die Liberalen sagen: ohne Ideologien», oder noch kürzer: «Ein Staat ohne Werte.»[2]
Im Oktober 2022 wurde in Frankreich der «Parc Simone Veil» eröffnet. Simone Veil überlebte den Holocaust und war Präsidentin des Europäischen Parlaments, zudem Mitglied der Académie française. Wie auf dem Bild auf der folgenden Seite zu sehen, gleicht der Porticus des «Parc Simone Veil» auf faszinierende Weise dem berühmten Eingang zum KZ Auschwitz. Natürlich führte das nach Bekanntwerden sofort zu einem Shitstorm, und als moralisch entrüstete Journalist:innen den Gemeinderat des kleinen französischen Ortes, dessen Namen hier nichts zur Sache tut, fragten, was er sich dabei gedacht hätte, antwortete dieser: «Nichts.»
Ende 2022 habe ich an meinem Theater in Belgien, dem NTGent, ein Stück produziert. Es heißt A Play for the Living in a Time of Extinction. Das Stück wurde von der US-Amerikanerin Miranda Rose Hall geschrieben, von der flämischen Aktivistin Martha Balthazar inszeniert und von der nigerianisch-belgischen Schauspielerin Lisah Adeaga performt. Es ist der innere Monolog einer Dramaturgin, der damit beginnt, dass sie sagt: «Während ich spreche, wird alle sieben Minuten eine Art von der Erde verschwinden.»
Seit Sie begonnen haben, diesen Text zu lesen, ist also etwa eine Art verschwunden. Ich weiß nicht welche, vielleicht eine Spinnenart, vielleicht eine Salamanderart, irgendwo habe ich gelesen, das seien die gefährdetsten Arten. Großsäuger sind eher unwahrscheinlich, die verschwanden bereits kurz nach Auftauchen des Homo Sapiens auf der Erde, und «kurz» heißt in Erdzeit ja normalerweise: einige 10000 Jahre nachdem der Mensch aus Afrika nach Europa und Asien emigrierte.
Wir befinden uns heute in einem viel schnelleren Prozess. Wozu wir früher 10000 Jahre brauchten, passiert nun in sieben Minuten. Aber versuchen wir zu verstehen: alle sieben Minuten eine Art. Das Erschreckende ist nicht die Tatsache an sich, denn die Tatsache ist nicht vorstellbar. Man kann über das Abstrakte des Artensterbens nicht erschrecken, ich zumindest kann es nicht. Nein, was hier erschreckend ist, ist etwas, was man die Faltung der Zeit nennen könnte. Es vergehen Millionen von Jahren, und dann erscheint eine Gegenwart, die – wie soll ich sagen? – die so kompakt, so kristallin, so absolut ist, dass in ihr in wenigen Minuten nicht nur ein Individuum, sondern eine Art verschwindet, die sich in Millionen, streng genommen in viereinhalb Milliarden Jahren, nämlich seit der Geburt des Planeten, entwickelt hat.
Eine nach menschlichen Maßstäben ewige, undenkbare Vergangenheit des Lebens und mit ihr eine genauso undenkbare, phantastische Fülle an Zukunft: vernichtet in ein paar Minuten. Wie ein Kometeneinschlag, aber ohne Komet. Ein kosmisches Drama, aber ohne Handlung und ohne Zuschauer:innen. Denn Sie werden mir zustimmen, dass der individuelle Tod oder, kulturhistorisch gedacht, das Ende einer Zivilisation zwar auch nicht denkbar, der Gedanke aber akzeptabel ist. Und zwar deshalb, weil es die...
Erscheint lt. Verlag | 12.9.2023 |
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Zusatzinfo | Mit Abbildungen |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | Afrika • Aktivismus • Biographie Theater • Europa • Flüchtlinge • Fridays For Future • Gesellschaft • Hoffnung • Klima • Krieg • Last Generation • Links • Pessimismus • Poetik • Poetikvorlesung • Solidarität • Südamerika • Theater • Theater Buch • Totale Gegenwart • Zukunft • Zürich • Zusammenleben |
ISBN-10 | 3-644-00563-X / 364400563X |
ISBN-13 | 978-3-644-00563-1 / 9783644005631 |
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Größe: 10,3 MB
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