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Institutionalisierungskonflikte in Sozialstaaten (eBook)

Zum Verhältnis von Akteuren und Institutionen in Prozessen strukturellen Wandels
eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
265 Seiten
Campus Verlag
978-3-593-45519-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Institutionalisierungskonflikte in Sozialstaaten -  Lukas Pfäffle
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Mit Blick auf die umfangreiche Literatur zur vergleichenden Sozialstaatsforschung erörtert Lukas Pfäffle in diesem Buch den Nutzen der soziologischen Makrotheorie für die Analyse institutionellen Wandels in Wohlfahrtsstaaten. Es entsteht ein theoretischer Begriffsrahmen, der ein detailliertes Verständnis der Wechselwirkungen zwischen Institutionen und Akteuren ermöglicht. Das Beispiel der »Hartz-Reformen« in Deutschland veranschaulicht das Potenzial dieser Untersuchung: Die hochspezialisierten Diskurse zum Sozialstaat erhalten durch ihre Rückbindung an grundlagentheoretische Fragen zum Verhältnis von Institutionen und Akteuren analytische Qualitätsstandards.

Lukas Pfäffle, Dr. rer. pol., ist wiss. Mitarbeiter am Max-Weber-Institut für Soziologie der Universität Heidelberg.

Lukas Pfäffle, Dr. rer. pol., ist wiss. Mitarbeiter am Max-Weber-Institut für Soziologie der Universität Heidelberg.

2.Der Sozialstaat als Gegenstand der Sozialwissenschaften


Bei der theoretischen Beschäftigung mit dem Sozialstaat besteht eine der grundlegenden Fragen darin, wo die Begriffsbildung ansetzen soll. Die Begriffe Sozialstaat und Sozialpolitik sind keineswegs exklusiv den Sozialwissenschaften vorbehalten. Insbesondere die Wirtschaftswissenschaften und die Rechtswissenschaften sind Disziplinen, die sich ebenfalls mit ihnen auseinandersetzen. Zudem sind diese Termini fester Bestandteil des öffentlichen Diskurses. Eine erste Annäherung an den Begriff wäre daher über das Verständnis von Sozialstaat im politischen Tagesbetrieb möglich. Sozialstaatlichkeit wird dort als einer von verschiedenen Aspekten eines Staatswesens betrachtet. Ein Staat ist nie ausschließlich Sozialstaat. Für die Bundesrepublik Deutschland wird das in Art. 20 GG deutlich. Neben dem Sozialstaatsprinzip sind dort das Demokratie- und das Rechtsstaatsprinzip verankert, weitere Beschreibungen der Bundesrepublik, wie etwa als kapitalistisch/marktwirtschaftlich verfasstes Staatswesen, können hinzukommen. Diese Beschreibungen schließen sich nicht kategorisch aus, sie sind jedoch nicht kongruent. Entsprechend ist nur ein Teilbereich dessen, was gemeinhin als staatliches Wirken gilt, als sozialstaatlich zu erachten. Es schließt sich daran unweigerlich die Frage an, wodurch sich sozialstaatliche Tätigkeit von anderen Staatstätigkeiten unterscheiden lässt: Was macht politisches Handeln zu Sozialpolitik? Fast schon tautologisch mutet dann eine Erklärung an, welche den Sozialstaat über die Anwesenheit von Sozialpolitik definiert (Schmidt 2012, 7). Eine solche Definition verlagert lediglich die Erklärungslast auf den Begriff der Sozialpolitik. Es wäre dann zu klären, wodurch sich Sozialpolitik von anderen Formen des politischen Handelns unterscheidet.

Auch die Feststellung, dass der »Sozialstaat sich mit dem Sozialen befasst« (Lessenich 2012, 9), wirft mehr Fragen auf, als dass sie Klarheit schafft. Die Definitionslast läge auf dem Begriff des Sozialen. Tatsächlich findet sich in Deutschland ein Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS). Viele Tätigkeiten dieses Ministeriums werden gemeinhin dem Sozialstaat zugeschrieben. Jedoch weist der Name des Ministeriums eine Unterscheidung von Arbeit und Sozialem auf. Auch hier schließen sich wiederum einige Fragen an: Ist Arbeits(markt)politik von Sozialpolitik zu trennen? Gibt es Schnittmengen? Wann ist Arbeitspolitik auch Sozialpolitik? Ebenso gibt es noch weitere Ministerien, wie das Gesundheitsministerium oder das Ministerium für Familien, Senioren, Frauen und Jugendliche, deren Tätigkeitsfelder häufig dem Sozialstaat zugerechnet werden. Ob Bildungspolitik als Sozialpolitik betrachtet wird, variiert zudem in unterschiedlichen nationalen Kontexten (Kaufmann 1997, 23) und ebenso, ob es überhaupt eine Vorstellung von Sozialpolitik als eigenem Politikbereich gibt (Achinger 1963, 2 f.). Sozialpolitik kann nicht entlang der organisationalen Struktur von Ministerien abgegrenzt werden. Die häufig machtpolitisch bedingten Zuschnitte von Ministerien und Zuständigkeiten sind nicht sonderlich hilfreich, um Sozialstaat und Sozialpolitik als Begriffe abzugrenzen.

Die lebensweltlichen Begriffe sind daher ungeeignet, um zu einer präzisen Bestimmung von Sozialstaatlichkeit zu gelangen. Sie verweisen aber bereits auf Herausforderungen, vor denen ein theoretischer Begriff des Sozialstaats steht. Dazu zählen die Heterogenität und Varianz des Gegenstands (Rieger 1999, 10). Die Varianz besteht sowohl soziokulturell als auch historisch. In verschiedenen Ländern haben sich unterschiedliche Varianten von Sozialstaaten etabliert. Insofern ist fraglich, was ihnen allen gemein ist, damit sie als Sozialstaat gelten. Darüber hinaus verändern sich Sozialstaaten auch im Zeitverlauf. Sprich, ein allgemeiner Begriff des Sozialstaats muss in der Lage sein, die historische und soziokulturelle Varianz seines Gegenstands zu berücksichtigen. Hinzu kommt, dass selbst in einem soziokulturell und historisch abgegrenzten Rahmen das Material heterogen ist. Innerhalb eines Sozialstaats existieren zur gleichen Zeit verschiedene Maßnahmen, die unterschiedliche Ziele verfolgen, nebeneinander. Teilweise widersprechen sich diese Maßnahmen, und dennoch werden sie gleichermaßen als Teil des Sozialstaats verstanden. Der Sozialstaat und die ihn konstituierende Sozialpolitik müssen somit als inhärent konflikthaft verstanden werden.

Ansätze, die den Sozialstaat über spezifische Zwecke oder Ziele zu bestimmen versuchen, stoßen dann auf diverse Hemmnisse in der Begriffsbildung. Indem der Sozialstaat auf bestimmte Zwecke festgelegt wird, werden gerade seine historische und soziokulturelle Varianz sowie sein inhärent konflikthafter Charakter verkannt. Die jeweiligen Zwecke werden auf diese Weise ahistorisch, da sie über den Zeitverlauf konstant als Ausdruck von Sozialstaatlichkeit festgesetzt werden. Dies verkennt die Historizität des Gegenstands. Außerdem sind andere Ziele und Zwecke, die regelmäßig im Kontext von Sozialstaatlichkeit auftreten, mit diesen Zielen in Beziehung zu setzen. Wodurch werden bestimmte Ziele von der Definition aus- und abgegrenzt? Auch inhaltliche Widersprüche im Sozialstaat können mit einem Begriff, der auf letzte Zwecke ausgerichtet ist, nicht erfasst werden. Konfligierende Ziele müssten in diesem Fall kategorisch aus dem Begriff ausgeschlossen werden.

Bevor die Bestimmung des Sozialstaats vor dem Hintergrund der hier skizzierten Herausforderungen vorgenommen wird, werden bestehende theoretische Zugänge zum Sozialstaat vorgestellt. Die Konfrontation dieser Zugänge mit den hier aufgezeigten Herausforderungen der Begriffsbildung ermöglicht bereits, die theoretischen Grenzen und Probleme dieser Zugänge zu debattieren. Aufbauend auf dieser Diskussion werden die methodologischen Bedingungen einer adäquaten Begriffsbildung diskutiert. Die Unterscheidung der Zugänge erfolgt hier allerdings entlang ihrer Erklärungsstrategien sozialstaatlicher Dynamik und nicht danach, wie sie den Begriff des Sozialstaats definieren. Eben weil Letzteres häufig lediglich implizit in den theoretischen Ausführungen mitschwingt, ist eine Differenzierung entlang dieser Dimension nicht zielführend. Allerdings dient die Darstellung der Erklärungsstrategien auch dazu, die impliziten Annahmen über die Eigenheiten des Sozialstaats offenzulegen. Die primäre Unterscheidung der Erklärungsstrategien besteht darin, ob sie vorwiegend strukturelle oder kulturelle Faktoren zur Erklärung sozialstaatlicher Dynamiken zu Rate ziehen. Innerhalb dieser beiden Gruppen bestehen noch weitere Differenzierungen, die in der Folge ausgeführt werden.

2.1Strukturelle Zugänge zur Analyse von Sozialstaaten


Die diversen strukturellen Ansätze eint, dass die Sozialstaaten aus sozialen Strukturen abgeleitet werden. Je nach Zugang werden dabei unterschiedliche Strukturen als maßgeblich definiert. An dieser Stelle sollen nun möglichst knapp funktionalistische, machtressourcenbasierte, institutionalistische und polit-ökonomische Zugänge hinsichtlich der in ihnen enthaltenen Begriffe von Sozialstaat und der Konzepte seines Wandels vorgestellt werden.2

Funktionalistische Erklärungsansätze versuchen bestehende Sozialpolitik aus »ihren inhaltlichen Funktionen« (Lenhardt/Offe 1977, 113) zu erklären. Der Sozialstaat stellt dabei eine funktional notwendige Kompensationsfunktion in industrialisierten Gesellschaften dar. Sozialstaatlichkeit entsteht in dieser Perspektive und in der Reihenfolge, in der soziale Problemlagen aufgrund der Industrialisierung auftauchen. Der Grad der industriellen Entwicklung und der Ausbau des Sozialstaats stehen demnach in einem direkten Zusammenhang, wobei erstere den letzteren erklärt. Zu solchen funktionalistischen Erklärungsansätzen zählen marxistische Zugänge, für die der Sozialstaat ein notwendiges Stabilisierungsmoment kapitalistischer Ökonomien darstellt, ohne dass die internen Widersprüche des Kapitalismus allzu deutlich zu Tage treten würden. Der Staat kanalisiert die internen...

Erscheint lt. Verlag 21.6.2023
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Soziologie Allgemeine Soziologie
Schlagworte Bürgergeld • Hartz IV • Historischer Institutionalismus • individuelle Idiosynkrasie • Institutioneller Wandel • Kontingenz • soziologische Makrotheorie • Soziologische Theorie • Wechselwirkungen zwischen Institutionen und Akteuren • Welten des Wohlfahrtskapitalismus • Wohlfahrtskapitalismus • Wohlfahrtsstaat
ISBN-10 3-593-45519-6 / 3593455196
ISBN-13 978-3-593-45519-8 / 9783593455198
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