Alle(s) Gender (eBook)
Querverlag
978-3-89656-687-4 (ISBN)
Sigi Lieb studierte Diplom-Sozialwissenschaften an der FAU Erlangen-Nürnberg mit interkulturellem Schwerpunkt und volontierte bei der Deutschen Welle in Köln, Bonn und Berlin. Nach Jahren als Journalistin und PR-Beraterin arbeitet sie heute als Beraterin und Trainerin für inklusive, geschlechtersensible und diskriminierungsarme Kommunikation. Auf ihrem Blog veröffentlicht sie Beiträge rund um Gender, Diversity, Sprache und demokratische Debattenkultur. Köln ist die Wahlheimat der gebürtigen Oberfränkin.
Vorwort
Mein 52-jähriges Ich ist wütend: Wieso drängen wir Menschen 2023 noch immer in stereotype Vorstellungen von Mann und Frau? Wieso können Männer, Frauen und Intergeschlechtliche nicht einfach so sein, wie sie sind? Es ist doch völlig egal, wer Rock trägt und wer Hose, High Heels oder Sneakers, wer sich schminkt oder ungeschminkt in die Welt tritt, wer forsch, laut oder dominant ist und wer zurückhaltend, leise oder nachgiebig, wer lieber hämmert oder lieber häkelt. Soll doch jed*er so sein, wie sier möchte.
Die Diskussionen um den Anstieg von Transgender-Diagnosen bewegen sich weitgehend um die Frage, wie Betroffene behandelt werden sollen und ab welchem Alter. Oder sie kreisen um die Frage, ob es eine Laune der Natur ist, Menschen in ‚falsche‘ Körper zu stecken, oder ob sie psychische Krankheiten haben.
Kaum jemand fragt: Was läuft falsch mit unserer Gesellschaft, dass wir Menschen derartigem psychischen Druck aussetzen, dass sie in immer größer werdender Zahl bereit sind, sich gefährlichen Operationen zu unterziehen und lebenslang Hormone zu nehmen? Ist es wirklich der ‚falsche‘ Körper oder eher mangelnde gesellschaftliche Akzeptanz von Vielfalt?
Die Neue Zürcher Zeitung nennt im November 2020 Zahlen der schwedischen Gesundheitsbehörde, wonach in den Jahren 2008 bis 2018 die Zahl der Transgender-Diagnosen von 13- bis 17-jährigen Mädchen um 1500 Prozent gestiegen ist. Ähnliche Zahlen meldet das Tavistock Centre in London, eine Klinik für minderjährige Transgender-Personen. In ihrem Bericht zur Tavistock-Klinik schreibt Gutachterin Dr. Hillary Class, dass die Gesamtzahl von behandelten Minderjährigen im Zeitraum von 2009 bis 2020 von jährlich 50 auf 2500 angestiegen ist. 5000 Kinder und Jugendliche standen danach 2021 auf der Warteliste. Martina Lenzen-Schulte schreibt im Deutschen Ärzteblatt im Dezember 2022: „Konsistent liegen in vielen europäischen und angloamerikanischen Ländern seit etwa dem Jahr 2000 die Prävalenzanstiege bei mehr als 1.000 %.“ Auch in meinen Gesprächen mit Fachleuten in Bochum, Hamburg und Münster wird diese Entwicklung bestätigt.
Was ist hier los? Bin ich trans und habe es 50 Jahre nicht gemerkt? Was genau ist trans? Ich bin 52 Jahre alt, als Frau geboren, und mit meinem Körper ist alles in Ordnung. Trotzdem hatte ich schon meine Periode, als ich notgedrungen akzeptierte, dass aus mir kein Junge mehr wird. Hätte ich mich in der Pubertät unerwartet zum Mann entwickelt, ich hätte gejubelt. Was haben mich die wachsenden weiblichen Rundungen genervt. Wie neidisch war ich auf meine Freundin, die sehr dünn und zu diesem Zeitpunkt noch flach wie eine Flunder war. Und was war ich noch mehr neidisch auf die Jungs, die alles durften, coolere Klamotten trugen, coolere Geschenke bekamen und schmale Hintern mit geraden oder V-förmigen Oberkörpern hatten. Hätte ich damals etwas von Transition gewusst, es wäre eine echte Option für mich gewesen.
Mein 52-jähriges Ich wird stutzig und denkt: Hätte ich mich in den 1980er oder 1990er Jahren zum Mann operieren lassen, hätte ich kein Kind geboren. Mein wunderbarer Sohn wäre nicht auf der Welt. Mit 18 verschwendete ich keine Gedanken an eine potenzielle Elternschaft. Damals wusste ich nicht einmal, ob ich überhaupt Kinder will. Mein Problem war eher, dafür zu sorgen, nicht schwanger zu werden.
Andererseits: Vermutlich hätte ich als Transmann andere Vorteile gehabt. Ich wäre für manche meiner Wesenszüge gefeiert statt kritisiert worden. Und ich hätte es leichter gehabt in Sachen Karriere, weil ich nicht ständig mit Stereotypen über und Erwartungen an Frauen und Weiblichkeit konfrontiert worden wäre. Kurzum: mehr Akzeptanz und weniger Signale, ich solle anders sein, weniger falsche Unterstellungen über mein Sosein. Wer weiß: Vielleicht hätte ich mich als Transmann wohl gefühlt?
Ich weiß heute aber auch: Mein Genderstress rührte nicht von meinem Körper her, sondern von den Erwartungen, die wegen meines Körpers an mich gerichtet wurden. Ständig sollte ich Dinge tun oder lassen, wurde ich gelobt oder kritisiert, weil ich ein Mädchen, eine Frau bin. Wer ich wirklich bin, was ich will, was mich ausmacht, mein Sosein hat offenbar niemanden interessiert. Bis heute werden Mädchen und Jungs geschlechtsspezifisch unterschiedlich behandelt. Nicht nur von den Eltern, sondern von der Gesellschaft, ihren Narrativen und Produkten als Ganzes.
Mädchen werden dahingehend erzogen, schön zu sein, fleißig, sich keiner Gefahr auszusetzen, sich um andere zu kümmern und ihre Interessen hinter denen der anderen zurückzustellen. Jungs sollen stark sein und mutig, nicht weinen und ihr Ding machen. Wenn sie sich durchsetzen, werden sie gefeiert. Durchsetzungsstarke Mädchen gelten schnell als zu fordernd, zu forsch, zu laut.
Bei Kleidung und Style ist es umgekehrt. Hier haben Mädchen mehr Freiheiten als Jungs. Ob Frauen Jeans und Sneakers tragen oder Rock und High Heels oder Rock und Sneakers, interessiert kaum jemanden. Einem Mann in hohen Schuhen und Sommerkleid wird auch heute noch schnell das Mannsein abgesprochen oder ihm wird eine homoerotische Orientierung unterstellt. „No homo“, sagen viele Jungs reflexartig, wenn einer irgendetwas zeigt oder tut, das auch nur einen Hauch von Weiblichkeit in sich trägt. Die Erwartung ist also nicht nur an Genderkonformität gerichtet, sondern auch an ein heterosexuelles Begehren.
Als junge Erwachsene habe ich mit androgynen Stilen gespielt, fand es schick, mein Geschlecht nicht allzu genau zu definieren, neutral zu sein. Was allerdings aufgrund meiner Sanduhr-Figur nur mittelmäßig gelang. Androgyn fühlte sich richtig an. So gefiel ich mir. Aber auch bei Frauen, die sich ‚männlich‘ stylen, urteilt die Gesellschaft schnell. Als ich 1997 die Haare sehr kurz trug, wurde ich von einem Busfahrer in Kalifornien gefragt, warum ich lesbisch sei. Offensichtlich konnte er sich nicht vorstellen, dass Frisur und sexuelle Orientierung keinen Zusammenhang haben.
Uns werden aufgrund unseres Aussehens zahlreiche Eigen-schaften zugeschrieben. Das ist zunächst normal. Solange die Zuschreibungen zutreffen, ist das okay, weil sie uns in unserer Identität bestätigen. Anders ist es, wenn die Zuschreibungen vorurteilsbelastet und falsch sind. Das fühlt sich schlecht und schmerzhaft an. Natürlich kann ich mich entscheiden, ob ich ein schwarzes Heavy-Metal-T-Shirt oder eine pinke Glitzerbluse trage. Das ist ein Statement. Mein körperliches Geschlecht aber habe ich, ebenso wie meine Hautfarbe, immer dabei. Ob ich will oder nicht.
Was macht das mit Menschen, die ständig mit Erwartungen und Stereotypen von Mannsein oder Frausein konfrontiert werden, die nicht zu ihnen passen? Denen Dinge verwehrt werden, weil sie Mann sind, weil sie Frau sind? Sollten sie ihr Äußeres so anpassen, dass sie von der Gesellschaft in dem Geschlecht wahrgenommen werden, dem sie sozial mehr entsprechen?
Mein 52-jähiges Ich fragt sich: Warum soll ich meinen Körper ändern, damit ich sein kann, wie ich bin? Warum soll ich Hormone und andere Medikamente nehmen, mich gefährlichen Operationen unterziehen, damit ich als Ich akzeptiert werde? Warum soll ich meinen Körper zum Opfer patriarchaler Geschlechtervorstellungen machen?
In meinem Kopf taucht das Bild von Michael Jackson auf, der – wie viele andere Schwarze in den 1980er Jahren – mit Chemie-Präparaten und durch medizinische Eingriffe versuchte, seine Haut zu bleichen. Ziel: mehr gesellschaftliche Akzeptanz. In vielen afrikanischen Ländern benutzen Frauen bis heute gefährliche Bleichcremes, um heller zu werden und damit als schöner zu gelten.
Der Wunsch, im eigenen Sosein akzeptiert zu werden, ist sehr menschlich. Das möchten wir alle. Aber was ist das für eine Gesellschaft, die verlangt, dass wir unsere Körper dafür an Normen und Werte anpassen? Muss nicht eher die Gesellschaft ihre Normen und Werte ändern?
Die Black-Lives-Matter-Bewegung tritt heute zu Recht laut und forsch für gleiches Ansehen und Wertschätzung von Menschen aller Hautfarben ein. Und es ist noch ein weiter Weg, bis die Hautfarbe ähnlich wenig Auswirkung auf die Chancen eines Menschen hat wie die Haar- oder Augenfarbe.
Dass Menschen unabhängig von ihrem Geschlecht erzogen und gesehen werden, dass Männer ohne Diskriminierung geschminkt im Kleid und Frauen ohne sexistische oder misogyne Bemerkungen in den Führungsetagen unterwegs sein dürfen, davon sind wir trotz 250 Jahren Frauenbewegung weit entfernt.
Wenn es darum geht, dass wir als Gesellschaft anerkennen, dass die Natur vielfältiger ist, als es unsere binäre und heterosexuell genormte Ordnung glauben macht, stehen wir am Anfang. Das gilt für Intergeschlechtlichkeit wie für Transgender. Wie definieren wir Geschlecht? Was ist von der Natur vorgesehen? Was erzeugen wir kulturell? Geht es bei Transgender wirklich um Busen und Penis oder eher um die Freiheit, das eigene Sosein zu leben, egal mit welcher körperlichen Ausstattung?
Die gesellschaftliche Debatte ist ideologisch aufgeheizt. Die Konfliktlinie zieht sich nicht nur entlang der üblichen Gräben rechts gegen links oder konservativ gegen liberal. Streit gibt es auch innerhalb der queeren Community und zwischen Transaktivist*innen auf der einen, Feminist*innen und Homosexuellen auf der anderen Seite: Es gibt Interessenskonflikte zwischen Frauenrechten, Homosexuellenrechten, Transrechten und Interrechten. Doch statt diese herauszuarbeiten und Kompromisse...
Erscheint lt. Verlag | 10.3.2023 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung |
ISBN-10 | 3-89656-687-3 / 3896566873 |
ISBN-13 | 978-3-89656-687-4 / 9783896566874 |
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