Revolution an Inn und Salzach (eBook)
212 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7578-8900-5 (ISBN)
Karl Czasny, Jahrgang 1949, Dr. phil., studierte in Wien und Berlin Philosophie, Soziologie und Statistik. Danach arbeitete er zunächst als Betreuer in einem Jugendzentrum der Stadt Wien und später als Soziologe in verschiedenen Bereichen der angewandten Sozialforschung. Er konzentrierte sich dabei zunehmend auf stadtsoziologische Fragestellungen und gründete 1990 gemeinsam mit einigen KollegInnen das Stadt- und Regionalwissenschaftliche Zentrum, an dem er bis 2008 zu den Themen 'Wohnen' und 'Wohnungsmarkt' forschte. 2009 wechselte er zum Magistrat der Stadt Wien ins Referat für Stadtforschung und Raumanalysen, wo er bis zu seiner Pensionierung arbeitete. Neben seiner beruflichen Tätigkeit als Soziologe beschäftigt er sich schon seit den achtziger Jahren mit erkenntnistheoretischen Problemen der Natur- und Sozialwissenschaften. Seit seiner Pensionierung findet er daneben auch immer wieder Zeit für die Arbeit an publizistischen und literarischen Texten. Weitere Texte und Leseproben aus Publikationen von Karl Czasny finden sich auf seiner Homepage. Dort können auch die zuletzt erschienenen Bücher des Autors bestellt werden. Adresse der Homepage: https://erkenntnistheorie.at/
DAS VERGESSENE PARLAMENT
Für mich begann die Geschichte, die ich hier erzählen möchte, in Altheim, einem reizenden oberösterreichischen Städtchen im Grenzbezirk Braunau. Dass sie an diesem Ort für mich begann, heißt zunächst einfach, dass ich sie hier erstmals bewusst registrierte. Zugleich will ich damit sagen, dass sie schon lange davor im Gang war. Schließlich deutet jenes Für mich auch an, dass sie noch immer nicht abgeschlossen ist, und dass ich selbst ein Teil von ihr bin. Natürlich spiele ich in ihr nur eine winzige Statistenrolle. Denn es handelt sich um eine sehr große, um nicht zu sagen ungeheuerliche Geschichte. Und der magische Moment, in dem ich sie als solche erkannte, ereignete sich vor einigen Monaten auf dem Altheimer Stadtplatz.
Bargeld abheben
Auf diesem vor Jahren durch den Bau einer Umfahrungsstraße vom Durchzugsverkehr befreiten Platz findet man einige kleinere Geschäfte und Lokale sowie das alte Rathaus der Stadt. Die großen Lebensmittelketten haben das Zentrum längst verlassen und auch die Stadtverwaltung ist schon in den Siebzigern ein Stück weit zum Rand hin abgewandert. Drei Kreditinstitute jedoch, die Sparkasse, die Volks- und die Oberbank, halten hier noch immer die Stellung. Letztere in einem Haus, das seit dem 17. Jahrhundert Bierbrauer- und Wirtsfamilien gehört. Irgendwann im 19. Jahrhundert heiratete dann ein Herr Raschhofer in eine dieser Familien ein und übertrug dabei seinen Namen auf die bis heute von ihr erzeugten Biere sowie das seither als Raschhoferhaus bekannte Gebäude.
Als zünftige Innviertler Stadt verfügt Altheim trotz einer Einwohnerzahl von nur etwa fünftausend Köpfen noch über eine weitere Familienbrauerei. Ihre Erzeugnisse hören auf den Namen Wurmhöringer und sind unter Kennern bis ins ferne Wien geschätzt. Diese Familie ist für meine Geschichte nicht von Bedeutung. Ich erwähne sie nur deshalb, weil ihre Handelsbeziehungen zur Bundeshauptstadt einen Anknüpfungspunkt für den Hinweis bieten, dass ich selbst Wiener bin und so wie die Mehrweggebinde dieser Brauerei eine unaufhörliche Pendelbewegung zwischen meiner Geburtsstadt und dem Innviertel vollziehe. Und zwar seit gut fünfunddreißig Jahren, also schon viel länger als jede noch so langlebige Bierflasche. Man kann daraus schließen, dass mich, den Wiener, etwas sehr Starkes und mit größter Beständigkeit Wirkendes ans Innviertel bindet, genauer gesagt an Mining, ein kleines in der Nähe von Altheim gelegenes Dorf. Und man ahnt vielleicht auch schon, dass es sich bei dieser so dauerhaft an mir ziehenden Macht womöglich um eine im Dunstkreis von Liebe und Freundschaft angesiedelte Kraft handeln könnte.
Mehr davon später. Denn zunächst machen wir Halt beim Raschhoferhaus am Stadtplatz Nr. 14, wobei wir feststellen, dass sich an seiner Fassade ein Bankomat befindet. Weil ich fast nie mit meiner Karte zahle, habe ich ziemlich großen Bargeldbedarf und stehe deshalb seit vielen Jahren immer wieder vor diesem Gerät. Sicherlich fiel dabei mein Blick schon oft auf das ebenerdig, unmittelbar neben dem Bankomaten gelegene Fenster, hinter dessen Scheibe sich eine große, dicht beschriebene Informationstafel befindet. Ich interessierte mich aber niemals für das hier Mitgeteilte. Vermutlich bestimmte Details zur Geschichte der Familie Raschhofer und ihres Hauses. Jetzt keine Zeit dafür. Schau ich mir später einmal an ...
Im Moment meines Andockens an die hier zu erzählende Geschichte jedoch blieb mein Blick aus irgendeinem nicht mehr zu eruierenden Grund für einige Sekundenbruchteile an besagter Tafel hängen, sodass die in großen Buchstaben geschriebenen Worte Hier wohnte Eingang in mein Bewusstsein fanden. Aufgrund meines Vorwissens um die Eigentümer des Raschhoferhauses, erwartete ich offenbar in diesem Augenblick, dass nach dem Hier wohnte irgendein Mitglied der Familie Raschhofer genannt werden müsse. Dies war aber nicht der Fall, denn da stand etwas von einem Georg Meindl. Das löste eine kleine Überraschung aus, die nun ihrerseits eine Neugier anstieß. Letztere veranlasste mich dazu, dieser Tafel nach der Beendigung des Dialogs mit dem Geldautomaten erstmals meine ungeteilte Aufmerksamkeit zu schenken. Ich begann zu lesen, und was ich las, ließ heiße und kalte Schauer über meinen Rücken laufen.
Jetzt erfuhr ich nämlich, dass jener hier zu Beginn des 18. Jahrhunderts wohnhafte Georg Meindl zu den wichtigsten Anführern eines Aufstands zählte, in dem das Bayerische Volk um die Jahreswende 1705/06 gegen die Habsburger rebellierte. Letztere hatten im Zuge eines den Spanischen Erbfolgekrieg begleitenden politischen Ränkespiels den Bayerischen König ins Exil getrieben und in seinem Land ein Schreckensregime errichtet, unter dem vor allem die Bauern, aber auch die Städter zu leiden hatten. Die Rebellion entwickelte sich schnell zu einer richtigen Revolution, in deren Verlauf das Volk unter anderem die wichtigsten Städte an Inn und Salzach besetzte. Es brachte so wesentliche Teile Bayerns, insbesondere das Innviertel1 unter seine Herrschaft und machte Braunau zum Zentrum seines Aufstands. Dort konstituierte sich eine aus Vertretern aller Bevölkerungsschichten gebildete Versammlung, welche die bald bis nach München ausufernden Kämpfe steuerte. Und weil hier bereits gut achtzig Jahre vor der französischen Revolution Bauern, städtisches Bürgertum und regionaler Adel gleiches Stimm- und Rederecht besaßen, gilt dies sogenannte Braunauer Parlament unter Historikern als eine der Geburtsstätten der modernen Demokratie. Besagter Georg Meindl aber, der bei der Revolution eine zentrale Rolle spielte, lebte nicht nur einige Jahre lang genau hier, wo ich mein Geld abzuheben pflege, sondern wurde darüber hinaus in unserem Nachbardorf Weng geboren, was ihm wegen seines politisch-strategischen Geschicks den ehrenvollen Kriegsnamen Der schlaue Fuchs aus Weng eintrug.
Braunau, das Betlehem der Nazis, eine Wiege der modernen Demokratie? Und Minings verschlafenes Nachbardorf Weng der Geburtsort eines großen Revolutionärs, dem laut Infotafel in der Fachliteratur Beredsamkeit und Gewandtheit, militärisches Talent und Führungsqualitäten, Tapferkeit, Entschlossenheit und Schlauheit zugesprochen werden? Das konnte doch nicht wahr sein! Eben jenes Weng, das mir stets so langweilig erschienen war, dass ich ihm im letzten Sommer ein kleines Scherzgedicht gewidmet hatte. Es trägt den Titel Meer oder weniger und geht so:
Weng im Innkreis
is a weng weng.
Weng am Mea
warat a weng mea.
Als ich die Informationstafel am Raschhoferhaus las, schämte ich mich ein wenig (a weng) vor Weng und bat Braunau um Verzeihung. Am schlimmsten aber, wirklich sehr verstörend empfand ich den Umstand, dass ich bisher von alldem nichts gewusst hatte. Ich, der politisch denkende und an Geschichte interessierte Soziologe. Wie war das bloß möglich?
Meine starke Erregung bei der Lektüre der Tafel am Raschhoferhaus erklärt sich aber nur zur Hälfte aus dieser von Scham und Verstörung begleiteten Einsicht über die offensichtliche Blindheit, mit der ich seit Jahrzehnten durchs Innviertel spaziere. Zugleich damit stieg nämlich ein angenehmes Gefühl in mir auf. Und um dieses verständlich zu machen, muss ich jetzt kurz auf den zuvor beiseitegeschobenen Wirkungskomplex von Liebe und Freundschaft zu sprechen kommen. Seine Kräfte machten den eingefleischten Wiener zum Fernpendler und bescherten ihm neben der Gattin, zwei Söhne, sowie eine Reihe guter Freundinnen und Freunde, die allesamt innviertlerisch sprechen, also Oa statt Ei und Muich statt Milch sagen. Er mag diesen wunderlichen Dialekt, weil er auch die Menschen mag, die ihn sprechen. Und so schmerzt es ihn, den politisch links gestimmten Zuagroasten, wenn er an die Bilder denkt, die man üblicherweise mit dem Namen Braunau verbindet. Noch viel mehr schmerzt ihn aber, dass es die Bevölkerung dieser Region nicht schafft, sich energisch von der Last dieser schrecklichen Vergangenheit zu befreien, ja dass man nicht einmal begreifen will, wieso das nicht und nicht gelingt.
Als ein sehr um Braunau bemühter Historiker im Jahr 2016 in einem von der Zeitschrift profil publizierten Kommentar rätselte, warum sich diese Stadt trotz aller Anstrengungen von Bürgerinitiativen und Gemeindevertretern nicht von ihrem schlechten Image lösen kann, schrieb ich einen Leserbrief, in dessen Tonfall der eben erwähnte Schmerz deutlichen Ausdruck findet:
In profil Nr. 24 vom 13.6.2016 beklagt man sich darüber, dass Braunau als Geburtsort von Adolf Hitler trotz vieler gut gemeinter Initiativen noch immer unter dem Stigma des "Geburtsorts des Bösen" zu leiden habe. Dabei ist die Sache doch so einfach. Anstatt sich den Kopf über weitere einschlägige Aktivitäten zu zerbrechen, muss man ja nur darauf verweisen, dass die Menschen dieser Region ihre Lektion aus den schrecklichen Erfahrungen der jüngeren Vergangenheit gelernt...
Erscheint lt. Verlag | 17.1.2023 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung |
ISBN-10 | 3-7578-8900-2 / 3757889002 |
ISBN-13 | 978-3-7578-8900-5 / 9783757889005 |
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