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Kritische Theorien der Internationalen Beziehungen (eBook)

(Autor)

eBook Download: EPUB
2023
298 Seiten
De Gruyter (Verlag)
978-3-11-047291-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Kritische Theorien der Internationalen Beziehungen - Günther Auth
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Folgenreiche politische Entscheidungen werden in der Medienöffentlichkeit allzu oft isoliert betrachtet und mithin auch extrem klischeehaft repräsentiert. Die Politikwissenschaft bzw. die Wissenschaft der Internationalen Beziehungen wäre in diesem Zusammenhang aufgerufen, sachliche und grundlagentheoretisch aufbereitete Analysen der (internationalen) Politik in den öffentlichen Diskurs einzuspeisen. Stattdessen verlegt sich der amerikanisierte Mainstream auf die Legitimierung der politischen Praxis, die Konstruktion weltanschaulich verkürzter Narrative und/oder scholastische Diskussionen über randständige Details. Das vorliegende Buch unternimmt den Versuch, das Profil einer unabhängigen wissenschaftlichen Perspektive gegenüber der (internationalen) Politik zu schärfen, aus der es interessierten Beobachter/innen möglich wird, angemessene Vorstellungen von den aktuellen realweltlichen Geschehnissen zu entwickeln. Zu diesem Zweck werden im ersten Teil des Buches Grundprinzipien kritischen Denkens rekonstruiert, die im zweiten Teil des Buches mit Blick auf genuin kritische Deutungsmöglichkeiten realpolitischer Geschehnisse veranschaulicht werden.



Dr. Günther Auth ist Lecturer für Politikwissenschaft am Geschwister-Scholl-Institut der LMU München und lehrt seit 1999 neben den Grundlagen des Faches insbesondere im Bereich 'Theorie und Geschichte der Internationalen Beziehungen'.

I Der Begriff des Kritischen


Kritische Theorie hatte in der amerikanisierten Politikwissenschaft und insbesondere im Teilbereich der akademischen Internationalen Beziehungen (IB) schon immer einen schweren Stand. Auf der einen Seite explodiert zwar die Zahl von Publikationen, die sich bei einem ersten Blick auf den Titel als irgendwie ‚kritischʻ erkennen lassen22; wie im zweiten Teil des vorliegenden Buches beschrieben wird, reserviert auch die überbordende Einführungsliteratur in den IB mittlerweile fast immer einen Bereich für die Beschreibung der sogenannten ‚kritischen IB-Theorienʻ. Auf der anderen Seite fahren die gelehrten Diskussionen im IB-Mainstream23 und seinen ‚bestenʻ Zeitschriften24, von wenigen Ausnahmen abgesehen, unverändert innerhalb der normativen und konzeptuellen Leitplanken, die von den weltanschaulich imprägnierten amerikanischen Mainstream-Theorien gesetzt worden sind. Dabei entsteht der Eindruck, dass das Adjektiv ‚kritischʻ lediglich noch im Sinne von critical appraisals/assessments, critical engagements, critical analyses, oder critical perspectives gegenüber Einzelaspekten der paradigmatischen Mainstream-Debatten in den ‚bestenʻ Fachzeitschriften verwendet wird.

Wenn ‚kritische Theorieʻ in den akademischen IB auch als solche ein Diskussionsgegenstand ist, dann geht es oft um ihre vermeintlichen ‚Anwendungsʻmöglichkeiten innerhalb eines bereits kategorial abgesteckten Gegenstandsbereichs. Ähnlich wie nach dem Vorbild der amerikanischen Mainstream-Theorien werden ‚dieʻ kritischen IB-Theorien dabei häufig der Kanonisierung und Formalisierung unterzogen, um sie entweder als abstrakte Modelle zur Erklärung typischer Sachverhalte heranzuziehen, oder um sie für die Illustration normativer Vorstellungen von einer ‚besserenʻ Welt zu verwenden. Dabei wirken Versuche der Rekonstruktion kritischer Theorie/n aus ihren begrifflichen bzw. philosophischen Wurzeln zuweilen altbacken und mithin sogar überflüssig. Der eigentümliche Gehalt des ‚Kritischenʻ müsste, so der im Mainstream geteilte Tenor, überhaupt nicht mehr so umständlich erschlossen werden, da „[p]hilosophy is neither the only source of theory nor the only means of determining what makes a theory critical. […] The point is not to dismiss philosophy, but to recover and defend a mode of knowledge that has almost been forgotten from the repertoire of critical international theory.“25 Angesagt wäre nach dieser Einschätzung die Kultivierung eines rein disziplinimmanenten Verständnisses von ‚Kritikʻ, das sich hauptsächlich oder gar ausschließlich mit einem Blick auf die Beiträge im Feld der sogenannten kritischen IB-Theorie gewinnen lassen würde: kritische IB-Theorie ‚istʻ, was die Vertreter/innen im Feld kritischer IB-Theorie ‚tunʻ. Das Problem der petitio principii, demgemäß erst einmal geklärt werden müsste, wodurch sich besagtes Feld kritischer IB-Theorie überhaupt auszeichnet, wird in pragmatischer Manier einfach als bereits gelöst betrachtet – ein handfester circulus vitiosus.

Einen ersten grundsätzlichen Denkfehler in diesem Gebaren kann man darin erkennen, dass im amerikanisierten IB-Kontext aufgrund der Orientierung an einem völlig irrtümlichen Verständnis von science und scientific knowledge oft schon eine eher unausgereifte Vorstellung davon herrscht, was eine sozialwissenschaftliche ‚Theorieʻ überhaupt ist bzw. tut und wofür eine solche Theorie eigentlich da ist. Fakt ist nämlich, dass die Meinungen dazu enorm variieren und die ehrlichste Haltung schlicht und ergreifend die ist, dass „[…] we cannot agree about what theory is or should be.“26 Für die einen ist Theorie die abstrakte Vergegenständlichung einer ‚beobachtbarenʻ Praxis27, wobei angenommen wird, dass diese Praxis einer typischen Logik folgt. Das wirft aber die Frage danach auf, wie man diese institutionelle Praxis konkret ‚beobachtenʻ und worin diese Praxis am Ende typischerweise bestehen soll; für die anderen ist Theorie vor allem die Beschreibung der ‚unabhängigen Variableʻ bzw. des ‚kausalen Mechanismusʻ in einem entsprechenden Modell typischer realweltlicher Zusammenhänge28. Das stellt aber sofort die Frage in den Raum, ob es überhaupt sinnvoll und angemessen sein kann, von ‚kausalenʻ Zusammenhängen auszugehen.

Das alles überrascht deswegen, weil der springende Punkt im Umgang mit Theorie selbst im praxisorientierten Mainstream schon seit längerem bekannt hätte sein können, nämlich dass „[…] theory is a picture, mentally formed, of a bounded realm or domain of activity. A theory is a depiction of the organization of a domain and of the connections among its parts.“29 Die Konsequenzen aus dieser Feststellung waren im Mainstream aber offensichtlich schwer zu ziehen. Denn wenn Theorie eine mehr oder weniger komplexe Vorstellung von ‚normalenʻ und erwartbaren Sachverhalten innerhalb eines bestimmten Vorstellungsraums ist, wie wollte man dann diese Vorstellung an einer sogenannten Realität ‚testenʻ, die ja als solche erst über die Theorie vorstellbar wird. Bei jedem Test müssten wir überdies „[…] immer noch mit Urteilskraft bestimmen, ob der Einzelfall einer intendierten Anwendung nahe genug am Normalfall liegt.“30 Eine solche Urteilskraft ist unweigerlich gebunden an eine gewisse Informiert- bzw. Erfahrenheit über die entsprechende ‚Realität, die sich nicht bloß auf die Kenntnis von Zahlen bzw. Statistiken reduziert, „[…] was im Positivismus im Allgemeinen, in der empirischen Sozialforschung und einer ‚evidenzbasiertenʻ Medizin im Besonderen leider immer auch geschieht.“31

Die viel entscheidendere Frage ist angesichts solcher Schwierigkeiten dann jedoch, warum wir überhaupt davon ausgehen sollten, Theorie/n der internationalen Beziehungen wären in einem szientistischen Sinn quasi-experimentell an einer vorgängigen Wirklichkeit zu prüfen bzw. zu ‚testenʻ, die als solche ja erst über die Theorien der internationalen Beziehungen ihre Gestalt/en erhält. Offensichtlich ist es mit einer allzu handwerklich motivierten Fokussierung auf beobachtbare ‚Tatsachenʻ, wie zum Beispiel ‚Kriegʻ, und ihre vermeintlichen ‚Ursachenʻ, wie zum Beispiel die Abwendung einer ‚Bedrohungʻ, für wissenschaftliche Zwecke nicht weit her, solange der betreffende ‚Gegenstandʻ als Teilaspekt eines imaginierten Ursache-Wirkung-Zusammenhangs nicht analog zum wirklichen Vorgehen in den Naturwissenschaften – gedanklich – über den Rekurs auf anerkannte Kanones der Sinnzuschreibung bzw. intersubjektiv geteilte Verstandeskategorien und geltende ‚Projektionsnormenʻ zu einem potenziellen Träger von Bedeutung gemacht wird32.

Und solange die besagten Kanones der Sinnzuschreibung bzw. die intersubjektiv geteilten Verstandeskategorien und geltenden ‚Projektionsnormenʻ nicht von informierten bzw. erfahrenen Werktätigen einer gemeinsamen wissenschaftlichen Praxis anerkannt werden und dort frei von allen berechtigten Zweifeln sind, solange die Parameter des wissenschaftlichen Tuns noch nicht einmal innerhalb dieses Kontextes zweifelsfrei geklärt sind, gibt es schlicht und ergreifend keine Welt der beobachtbaren Tatsachen und Ursachen. Da sich die ‚bestenʻ Fachvertreter/innen der IB in den USA und Großbritannien schon seit Beginn der disziplinären Beschäftigung mit den internationalen Beziehungen durch ein mehr oder weniger ‚praxisnahesʻ33 Verständnis ausgezeichnet und sich in ihrem Tun äußerst erfolgreich gegen diese bis auf Kant und Hegel zurückreichende Einsicht verschlossen haben, ist es dem kollektiven Gebaren im amerikanisierten Mainstream der Disziplin auch nie so recht gelungen, sich über diesen Sachverhalt in seiner ganzen Tragweite vollständig ‚bewusstʻ zu werden.

Das ändert freilich nichts daran, dass sozialwissenschaftliche Sachverhaltsbeschreibungen der internationalen Beziehungen immer schon theoriegeleitet im Sinne raumzeitlich eingebetteter Vergegenständlichungen von Phänomenen gewesen sind, die als solche auf soziokulturell vermittelte und zumeist stillschweigend mitgedachte ‚Relevanz- und Orientierungsrahmenʻ verwiesen haben, mitsamt ihren vielfältigen begrifflichen Formen der Anschauung. Erst durch diese haben sie für die Sprecher/innen und ihre Zuhörer/innen bzw. Leser/innen ihren spezifischen Sinn erhalten – und zwar völlig unabhängig davon, was von dem in Rede stehenden Sachverhalt tatsächlich jemals irgendwie ‚beobachtetʻ wurde34. Erst die Einübung kategorialer Anschauungsformen erlaubt es, eine Vergegenständlichung von realweltlichen Phänomenen vorzunehmen und über die sachverständige Einpassung in ein entsprechendes Zeichensystem kommunizier- und intersubjektiv nachvollziehbar werden zu lassen. Was mit dem Wort ‚Theorieʻ gemeint ist, bezieht sich unweigerlich auf diesen ganzen zusammenhängenden Komplex von θεωρία als die Summe von Parametern, Kategorien, Konzepten und Denkfiguren, mitsamt dem zumeist unausgesprochenen Vorstellungsraum, der seinerseits an eine Informiert- und Erfahrenheit gebunden ist, die auf die Sprache der Lebens- und Alltagswelt zurückverweist und damit immer auch eine soziokulturelle Prägung besitzt.

Was nun in Bezug auf diesen ganzen Komplex der ‚Theorieʻ der...

Erscheint lt. Verlag 26.4.2023
Reihe/Serie De Gruyter Studium
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung Vergleichende Politikwissenschaften
Schlagworte Feminism • Historischer Materialismus • International Relations • Kritische Theorie • Postkritik • Postmodernism • Poststrukturalismus • Theorien der Internationalen Beziehungen • theory • theory of imperialism • world systems theory
ISBN-10 3-11-047291-0 / 3110472910
ISBN-13 978-3-11-047291-2 / 9783110472912
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