Du fehlst (eBook)
150 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7568-5346-5 (ISBN)
Lotte Anders ist Jahrgang 1958 und in der Mitte Deutschlands zuhause. Seit ihr Mann kurz vor seinem 66. Geburtstag an einer kurzen schweren Krankheit starb, lebt sie allein.
Briefe und Notizen Juli 2019
Liebster,
diesen Brief schreibe ich dir zum Abschied. Ich weiß nicht, wann er fertig wird, vielleicht wirst du schon Jahre tot sein. Ich feile an den Zeilen nicht lange herum, ich schreibe wie es mir gerade in den Sinn kommt und wie ich es fühle. Es ist ein Liebesbrief, den Jede*r lesen darf, vielleicht hilft er mir und anderen Menschen, mit der Trauer um den Partner oder die Partnerin zu wachsen. Wie lange wird es dauern, um alles zu verarbeiten und auf gute und wertschätzende Weise Abschied zu nehmen? Und dann, allmählich, so stelle ich mir ganz naiv vor, kommt das Schöne wieder in den Blick, sodass Erinnerungen die Lebensfreude nähren dürfen und nicht mehr nur wehtun, und du einen neuen Platz in meinem Leben finden kannst. Schöne Hoffnungen, Illusionen? Ich habe keine Ahnung, wohin es mich bringt. Aber es drängt mich, unseren Weg seit den letzten Wochen vor deinem Tod aufzuschreiben. Ein Bild von dir zu zeichnen, dabei irgendwie meine Fassung wieder zu gewinnen und das Schicksal anzunehmen. Es ist meine Sicht der Ereignisse, und bestimmt würdest du manches anders sehen und hättest das eine oder andere daran auszusetzen – das gehört ja zu einer Partnerschaft dazu. Gerade bin ich jedoch glücklich, dass ich all meine Gefühle und Gedanken ausdrücken und festhalten kann. Es soll mich durch dunkle Stunden begleiten und mir manches bewusst machen. Es soll mich ankern in einem Gefühl von völligem Verloren sein. Ich hoffe die Angst lässt nach: es nicht zu schaffen, davor, dass die Trauer niemals geht, oder einfach nicht weiter zu wissen. Am allerschwersten ist das Bedauern um all die verpassten Gelegenheiten und all das, was noch hätte sein können. Das Schreiben hilft, allmählich darüber hinweg zu kommen. Die Wahl der Worte, das „Fassen“, sich mit dem Erlebten befassen, auch das Nachlesen, all das bringt mich ins Fühlen und Wiedererleben und dahin, die Fassung wiederzugewinnen, zu begreifen und letztlich hoffentlich zu heilen.
Deine letzte Geschichte beginnt im April 2019. Von den ersten Wochen jedoch kann ich dir nicht gleich schreiben. In der Zeit deines Krankenhausaufenthaltes habe ich mir zwar schon Notizen gemacht, aber eher aus medizinischen Gründen und um zu verstehen, was die Ärzte vorhaben und wie sie entscheiden. Diese Notizen werde ich erst viel später wieder in die Hand nehmen, wenn der ärgste Schrecken über diese tiefgreifenden und schmerzlichen Erfahrungen etwas abgeflaut sein wird. So beginnt dieser Brief mit deinem Tod. Dir von deinem eigenen Tod erzählen, ist das nicht völlig verrückt? Ich wüsste im Moment sonst noch niemandem von mir zu erzählen. Dafür bist du nach wie vor der beste Ansprechpartner, obgleich ich weiß, dass es letztendlich Selbstgespräche bleiben werden.
An meinem 61. Geburtstag, dem 1. Juni 2019, ein Samstag, erreicht uns morgens um neun Uhr die Todesnachricht durch die Klinik. Du bist seit sechs Wochen dort, nach einer spontanen Blutung im Kleinhirn, die dich in unserem Urlaub in Italien umgehauen hat. Lena, unsere 32-jährige Tochter, und ihre liebste Stefanie sind gerade hier zu Besuch, ich bin so froh darüber! Gestern erst haben wir dich besucht. Irreal alles, das vor allem anderen. Gerd, ein guter Freund, fährt uns in die Klinik. Was geschieht hier? Bin ich das, die da durch die Gänge geht? Du siehst so alt aus, so unendlich erschöpft. Ich sitze an deinem Bett, letzte Worte, was bleibt zu sagen? Schweigen und Leere. Was sie mir berichten über die letzten Stunden wird erst viel später zu mir durchdringen – Erbrechen am frühen Morgen, Aspiration, Wiederbelebungsversuche über eine Stunde lang … die Bilder werden mich noch lange quälen. Eine Obduktion lehnen wir ab – ich suche zu diesem Zeitpunkt keine Erklärungen.
Ich rufe Delf, deinen Bruder an, und meine große Schwester Grete in Marburg. Sie ist mittags schon hier. Delf, seine Frau Anita und ihre Tochter Mona kommen Nachmittags. An meinem Geburtstag? Ausgerechnet? Alles irreal. Seltsam, wattig. Ouzo soll helfen, das bleibt noch viele Wochen so. Ouzo, den du nie mochtest und den du dir, weil wir so gern in Griechenland waren, richtig antrainiert hast. Zwei Tage später, Montag, hast du Geburtstag – nein, falsch: hättest du Geburtstag gehabt! Mit diesen Stolpersteinen beginnt ein langer Weg des Abschiednehmens. Ich hatte Freunde und Bekannte um Sprachnachrichten zu deinem Geburtstag gebeten, um sie dir im Krankenhaus vorzuspielen, als Aufmunterung und Mutmacher. Unvorstellbar, mir die jetzt anzuhören, ich möchte sie überhaupt nicht erhalten! Schreibe also Nachrichten herum, teile mit, was geschehen ist, berichte, informiere, heule, fasse gar nicht, was ich rede und bin am Ende völlig erschöpft. Ich bin froh, als Freunde mir das abnehmen: die Todesnachricht überbringen.
Eine Freundin sagt nur wenige Tage danach: „Vielleicht war das das größte Geschenk, das er dir zum Geburtstag machen konnte.“ Ich verstehe nicht, was sie meint. Erst viel später werde ich darüber nachdenken und begreifen: ja, du hast mich freigegeben. Im Moment aber gibt es nur Leere und verzweifelte Fragen. Jeder Gedanke an dich ist wie ein leerer Raum, ohne Fenster, nichts zum Setzen, tot.
Es ist, als erlebte die ersten Wochen eine Andere. Nicht ich selbst. Es ist viel zu regeln, und immer wieder muss ich erzählen, was geschehen ist. Dabei verfolgen mich die Bilder aus den vergangenen Wochen, wie im Nebel, wie zerstückelt und zerlegt, und zugleich traumwandlerisches Vorwärtsgehen. Noch ganz auf ihn gerichtet: was hat er erlitten, erlebt, einfühlen, mitleiden, was braucht es? Wie trauert „man“? Würdevolles Erinnern, was soll das bedeuten? Was muss ich regeln, entscheiden? Schnell ein eigenes Leben finden? Ausmisten? Endlich viel Raum für mich, und dazu ein leise flüsterndes Gewissen: darf ich so denken? Fühlen? Wie erstarrt ich äußerlich war! Das ist zu dieser Zeit wohl nicht ungewöhnlich, ein Schock, der verhindert, dass die Welle dich völlig aus der Bahn wirft, weil innen deine Welt auseinander bricht. Verträgliche Portionen, irgendwie funktionieren, Minute für Minute kleine Schritte tun, weiter machen. Wenige Worte.
Lena. Den Papa verlieren. Weinen, fühlen, teilen. Doch auch irgendwie Jede allein damit. Möchte sie wissen lassen, wie es mir geht ohne zu überfrachten. Kontakt im Schmerz, und doch muss die Verarbeitung Jede für sich auf ihre Weise leisten. Familie trägt, alle sind ganz nah. Herzliche Begegnungen mit Delf und Anita. Halten, reden, erinnern, Dinge in die Hand nehmen, be-greifen. Ich ahne: den Unterschied zwischen Elterntod, der noch eine gewisse Logik hat, und dem Tod des Partners. Die letztendlich große Einsamkeit ist einer der Aspekte, der immer wieder im Trauerprozess besonders schwer auszuhalten sein wird.
Dann Bestattungsfragen: die guten „Kummers“… was für ein wunderbarer Name für eine Pietät! Auch wenn sie manchmal ein bisschen unübersichtlich agieren, mag ich ihre unkonventionelle Offenheit. Sie haben meine beiden Eltern und Schwiegereltern beerdigt – vertrautes Terrain. Alles geht auf eine Art auch irgendwie leicht. Die Einäscherung ist schon bald möglich, wir erfahren telefonisch den Zeitpunkt, am 5. Juni um elf Uhr, und möchten zu diesem Zeitpunkt zusammen sein: Lena, Stefanie, ich. Die beiden haben ihre Zeit hier spontan verlängert, ich bin sehr dankbar dafür. Zur rechten Zeit sitzen wir beisammen, der Ouzo steht auf dem Tisch, da klingelt es: Ulf und Andrea, alte Freunde, haben sich zu einem spontanen Besuch entschieden … wie schön und wie passend! Tief bewegt stoßen wir an. Seit Wochen schon berührt mich dieser Fluss, dass so unglaublich viele „glückliche“ Zufälle und Umstände uns tragen, trotz all der Angst, Ungewissheit und Quälerei.
Vorbereitungen für die Trauerfeier, Gespräch mit dem Pastor und Delf: Was ist uns wichtig zu sagen, was wird Stephan gerecht? Welches Bild habe ich eigentlich, welches werden wir in die Herzen der Menschen pflanzen? Traueranzeige … Texte, Foto, Abschied formulieren … woher bin ich mir eigentlich so sicher? Urne, Blumenschmuck, Liedtexte und Musik, fühle mich geleitet und sehr erwachsen, irgendwie auch automatisiert. Erfahrungen mit Eltern und Schwiegereltern helfen, wie schon im Krankenhaus. Der Pfarrer zum Abschied: „Sie werden noch viele Phasen durchmachen.“ Da wusste ich noch nicht, was er meinte und hielt es für ziemlich übertrieben!
Liebster,
davon möchte ich dir erzählen: die Trauerfeier in der Kirche am Donnerstag 13. Juni. So viele Freunde, so viele! Bis auf wenige möchte ich alle umarmen, die gekommen sind, weil sie auch mir herzlich verbunden sind. Ich bin erleichtert, dass wir die Christuskirche für die Feier gewählt haben, in jeder Friedhofskapelle wäre es zu eng geworden. Außerdem ist sie, wie du weißt, meine alte Heimat, in der auch mein Vater, der hier Pastor war, noch immer sehr präsent ist. Sie wäre wohl auch deine Wahl gewesen. Da ist Freude… Freude? Berührende Begegnungen und zum ersten Mal das tiefe Gefühl von einer sehr großen Liebe. Im Gottesdienst sehe ich dich auf einer Brücke sitzen. Glücklich,...
Erscheint lt. Verlag | 16.1.2023 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung |
ISBN-10 | 3-7568-5346-2 / 3756853462 |
ISBN-13 | 978-3-7568-5346-5 / 9783756853465 |
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Größe: 312 KB
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