Schattenorganisation (eBook)
150 Seiten
Campus Verlag
978-3-593-45437-5 (ISBN)
Stefan Kühl ist Professor für Soziologie an der Universität Bielefeld und Senior Consultant der Firma Metaplan. Er ist Autor von Managementbestsellern wie »Wenn die Affen den Zoo regieren. Die Tücken der flachen Hierarchien« und »Sisyphos im Management. Die vergebliche Suche nach der optimalen Organisationsstruktur«. Zusammen mit Andreas Hermwille betreibt er den Podcast »Der ganz formale Wahnsinn«.
Stefan Kühl ist Professor für Soziologie an der Uni Bielefeld und Senior Consultant der Firma Metaplan. Er ist Autor von Managementbestsellern wie »Wenn die Affen den Zoo regieren. Die Tücken der flachen Hierarchien« und »Sisyphos im Management. Die vergebliche Suche nach der optimalen Organisationsstruktur«. Zusammen mit Andreas Hermwille betreibt er den Podcast »Der ganz formale Wahnsinn«.
2.Zur Bauart hyperformalisierter Organisationen
»Erst wenn du komplett gefesselt bist,
kannst du deinen Geist tatsächlich befreien.«18
Aimee Groth in einem Vergleich der Wirkung von Holacracy mit den Prinzipien von Shibari, einer japanischen Bondage-Kunst (Groth 2018b: 159 f.)
Das Interessante an dem Realexperiment der Holacracy ist, dass entgegen dem allgemeinen Trend zu einer zunehmenden Humanisierung der Organisation auf eine Erwartungsbildung über Rollen gesetzt wird. Rollen sind nach Verständnis der Holakraten »die grundlegenden Bausteine« in der Struktur einer Organisation. Rechte werden nach dieser Vorstellung »nicht an einzelne Menschen« verteilt, sondern an »Rollen«. Diese Rollen würden von Mitarbeitern lediglich »energetisiert« werden (Robertson 2016: 36; siehe auch Robertson 2015b: 38, Kursivsetzung im Original). Unter Rollen wird dabei in der Sprache ein »organisatorisches Konstrukt« verstanden, das von einer Person im »Sinne der Organisation ausgeübt« wird und durch sie »Energie« verliehen bekommt (Xpreneurs 2021: 1.1; siehe auch HolacracyOne 2020: 1.1).
Die Rolle ist für die Holakraten deswegen der primäre Ansatzpunkt, um Organisationen zu gestalten (Laloux 2014: 119; für eine ungenaue deutsche Übersetzung siehe Laloux 2015: 120).19 Es geht in Organisationen, so die Position der Holakraten, »nicht um die Menschen«. Es werde nicht versucht, »die Menschen besser zu machen oder sie mitfühlender oder bewusst werden zu lassen«. Es wird auch »nicht gefordert, dass eine bestimmte Kultur geschaffen« wird oder »die Menschen in eine bestimmte Beziehung miteinander« kommen. Vielmehr werden, so die Auffassung, die »Bedingungen geschaffen, in denen sich persönliche oder kulturelle Entwicklung natürlich entfalten kann – oder nicht, wenn es nicht sein soll« (Robertson 2016: 188; siehe auch Robertson 2015a: 165).
Jetzt ist die Übernahme von einer Rolle in Organisationen erst einmal nichts Besonderes. Mit dem Eintritt in die Organisation wird dem neuen Mitglied eine spezifische Rolle – sei es die Fertigung von Werkzeugteilen, die Führung eines Montageteams oder die Beantwortung von eingehenden Anfragen – zugewiesen. Diese zugeordneten Rollen können dabei durch Veränderungen der Aufgaben, Versetzungen in ein neues Team oder durch den Aufstieg in der Hierarchie verändert werden. Die Besonderheit der Holacracy ist nun, dass Mitarbeiter eine ganze Reihe unterschiedlicher, in verschiedenen Bereichen der Organisation verankerten Rollen einnehmen können. Jedes Organisationsmitglied – in der Terminologie von Holakraten ist von Partnern die Rede – stellt sich ein eigenes Rollen-Potpourri zusammen (siehe dazu auch Sua-Ngam-Iam/Kühl 2021: 43 ff.; Sua-Ngam-Iam 2023b).
Dabei wird jede einzelne Rolle dieses Potpourris detailliert über Zwecke, über Zuständigkeitsbereiche und über Aufgaben definiert. Mit Sinn aufgeladene Zwecke – auch »Purposes« genannt – beschreiben, warum es die Rolle gibt und was mit ihr angestrebt wird. Ein Zuständigkeitsbereich – eine sogenannte »Domain« – definiert den Bereich alleiniger Befugnis der Rolle. Die Aufgaben der Rolle – die »Accountabilities« – definieren die Ziele, die mit dieser Rolle erreicht werden sollen (siehe HolacracyOne 2020: 1.1; Xpreneurs 2021: 1.1; einschlägig Robertson 2016: 41 f.; siehe auch Robertson 2015b: 42 f.). Die Rollenaufgabe werde dabei für jeden Rolleninhaber zu einer »heiligen Aufgabe« erklärt. Wie Mütter oder Väter bei der Erziehung ihrer Kinder müssten sich die Rollenträger in der Holacracy um eine Aufgabe kümmern. Die Aufgabenerfüllung eines Rollenträgers müsse dabei »eine Handlung der Liebe und des Dienens« nicht zum eigenen Wohl, sondern zum Wohle der Organisation und aus einem »freien Willen« der Rollenträger folgen (Robertson 2016: 80; siehe auch Robertson 2015a: 75).
Wenn ein Organisationsmitglied eine Rolle ausfüllt, erhält dieses Mitglied »die Autorität, jede Handlung auszufüllen«, die es als Rollenträger für nützlich hält, um »die Aufgabe der Rolle auszudrücken oder einer ihrer Verantwortlichkeiten nachzukommen« – so gut das mit den »verfügbaren Ressourcen« möglich ist (Robertson 2016: 75; siehe auch Robertson 2015a: 70 f.). Ein Organisationsmitglied kann innerhalb einer Rolle also jede Entscheidung treffen, die »den Sinn und Zweck« dieser Rolle zum Ausdruck bringt (Xpreneurs 2021: 4; siehe auch HolacracyOne 2020: 4). Kurz – das Organisationsmitglied hat bei der Ausübung der Rolle Autonomie, solange es »nicht den Bereich einer anderen Rolle« verletzt (Robertson 2016: 75; siehe auch Robertson 2015a: 70 f.) oder gegen eine der in der holakratischen Verfassung »definierten Regel verstößt« (Xpreneurs 2021: 4; siehe auch HolacracyOne 2020: 4).
Die Besonderheit dieser Betonung auf Rollen mag auf den ersten Blick überraschend klingen, weil letztlich jede Organisation auf die Ausdifferenzierung von Rollen angewiesen ist. Dieses Prinzip der Rollenausrichtung wird jedoch in der Holacracy radikalisiert, indem Aufgaben konsequent nicht an einzelne Personen, sondern explizit an Rollen übertragen werden. Aufgaben werden in Besprechungen dann nicht an »Rebecca«, »Kim« oder »Brian« übertragen, sondern an »Trainer«, »Programm-Designer« oder »Finanzen«. Kollegen werden in den Besprechungen nicht als »Lee«, »Rachel« oder »Phoebe«, sondern als »Marketing«, »Web-Manager« oder »Trainings-Manager« adressiert (Robertson 2016: 39 f.; Robertson 2015b: 40). »Role over Soul« ist die Kurzformel, mit dem sich dieses Prinzip auf den Punkt bringen lässt.20
Durch das Zusammenführen von Rollen entstehen Kreise, die wie die Rollen durch Zwecke, Zuständigkeitsbereiche und Aufgaben definiert werden. Zentral ist dabei auch hier der Gedanke, dass die Kreise nicht aus Personen, sondern aus Rollen bestehen. »Der Kreis ist«, so das Credo der Holakraten, »keine Gruppe von Menschen, sondern eine Gruppe von Rollen«. Ein Kreis ist, so die holakratische Verfassung, ein »Container«, um Rollen »auf einen gemeinsamen Sinn und Zweck« hin zu organisieren (Xpreneurs 2021: 1.3; in der englischen Variante HolacracyOne 2020: 1.3). Ein Kreis hat dabei die Autonomie, »sich selbst zu organisieren, und die Arbeiter aller Rollen, die er enthält, zu koordinieren und zu integrieren« (Robertson 2016: 45; siehe auch Robertson 2015b: 45).
Ausgangspunkt einer holakratischen Organisation ist dabei der sogenannte »Ankerkreis« – auch General Company Circle genannt – der alle anderen Kreise umfasst. Die Oberzwecke dieses Ankerkreises sind dabei identisch mit den Oberzwecken der gesamten Organisation (siehe dazu Robertson 2016: 43 ff.; siehe auch Robertson 2015b: 43 ff.).21 Die Bildung von Unterkreisen innerhalb dieses Ankerkreises dient dazu, verschiedene Rollen zusammenzuführen, die gemeinsam einen aus den Oberzwecken abgeleiteten Unterzweck erfüllen sollen. Diese Unterkreise können dann weiter in Unterunterkreise differenziert werden, die für die Erfüllung der aus den Unterzwecken abgeleiteten Unterunterzwecke verantwortlich sind (siehe dazu Robertson 2016: 46; siehe dazu auch Robertson 2015b: 46). Diese Differenzierung in Sub-Kreise kann so lange wiederholt werden, bis der erwünschte Fokussierungsgrad erreicht wurde.
Abb. 1: Holakratische Basiskreisstruktur
Quelle: Sua-Ngam-Iam/Kühl 2021: 44 nach Robertson 2015: 44
Bei der Bildung eines jeden Kreises wird eine »Führungsgliedrolle« – je nach Sprachregelung auch Lead-Link-Rolle, Circle-Lead-Rolle oder Kreis-Lead-Rolle genannt – geschaffen (siehe dazu Robertson 2016: 46 f.; siehe auch Robertson 2015b: 46 ff.). Die Führungsgliedrolle ist für den »gesamten Sinn und Zweck« des Kreises verantwortlich, solang die Verantwortlichkeiten nicht durch andere Rollenträger im Kreis abgedeckt werden (Xpreneurs 2021: 1.4 oder englisch HolacracyOne 2020: 1.4). Die Führungsgliedrolle jedes Kreises hat die Aufgabe, die Rollen dieses Kreises durch Mitglieder zu besetzen, ihre Passung im Hinblick auf die Rolle zu beobachten und Mitglieder wieder von Rollen zu entfernen, sollte die Passung nicht mehr gegeben sein. Welche Rollen zu besetzen sind, wird in den Kreisen selbst festgelegt. Vorgeschrieben ist lediglich, dass jeder Kreis neben der vom übergeordneten Kreis besetzten Führungsgliedrolle auch eine...
Erscheint lt. Verlag | 8.3.2023 |
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Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sozialwissenschaften ► Soziologie ► Spezielle Soziologien |
ISBN-10 | 3-593-45437-8 / 3593454378 |
ISBN-13 | 978-3-593-45437-5 / 9783593454375 |
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