Moral über alles? (eBook)
272 Seiten
Goldmann (Verlag)
978-3-641-30990-9 (ISBN)
Der renommierte Politikwissenschaftler und Bestseller-Autor Michael Lüders unternimmt eine scharfe, aber sachliche-fundierte Kritik an der heute vorherrschenden Moralisierung politischer Entscheidungen. Er verweist auf die Widersprüchlichkeiten und Gefahren der sogenannten werteorientierten Außenpolitik und plädiert für eine Rückbesinnung auf den politischen Realismus und die selbstbewusste Wahrnehmung nationaler Interessen.
Michael Lüders studierte Politik- und Islamwissenschaften in Berlin und Damaskus und war lange Jahre Nahost-Korrespondent der Hamburger Wochenzeitung DIE ZEIT. Er war Präsident der Deutsch-Arabischen Gesellschaft, in Nachfolge des verstorbenen Peter Scholl-Latour, und Mitglied im Afghanistan-Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestags. Er hält Vorträge über das Spannungsverhältnis zwischen dem Westen und der arabisch-islamischen Welt und ist häufiger Gast in Hörfunk und Fernsehen. Auf YouTube äußert sich Michael Lüders regelmäßig zu aktuellen politischen Themen. Zuletzt erschienen von ihm die Spiegel-Bestseller Hybris am Hindukusch, Die scheinheilige Supermacht und zuletzt bei Goldmann Moral über alles?
YouTube: @michaelluders1787
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Das Böse bekämpfen:
Das Drama um die PCK-Raffinerie in Schwedt an der Oder
Selten nur spiegelt sich Weltpolitik so unmittelbar in der deutschen Provinz wie zu diesen Zeiten in Schwedt an der Oder. Die dort angesiedelte PCK-Raffinerie, die Abkürzung steht für Petrolchemie und Kraftstoffe, ist seit 1963 die zentrale »Anlaufstation« für Erdöl aus Sibirien: Hier endet die »Druschba«-(Freundschafts-)Pipeline. Sie ist mit rund 5300 Kilometern eine der längsten weltweit und verbindet die russischen Ölfelder mit Raffinerien in Ost- und Mitteleuropa. In Belarus teilt sie sich in einen Nordstrang, der via Schwedt vornehmlich Deutschland und Polen versorgt, und in einen Südstrang, der über die Ukraine vor allem Tschechien, die Slowakei sowie Ungarn bedient. Ihre Transportkapazität von 2,5 Millionen Barrel pro Tag machte »Druschba« zu einer Hauptschlagader der europäischen Energieversorgung.
Jedenfalls bis zum 1. Januar 2023. Seither boykottiert die deutsche Seite alle russischen Erdölimporte über diese Pipeline. Eine folgenschwere Entscheidung, denn die Raffinerie in Schwedt, die viertgrößte in Deutschland, hält einen Marktanteil von rund elf Prozent der landesweiten Versorgung mit Kraftstoffen. In der Region Berlin-Brandenburg sind es gar 95 Prozent – Benzin, Diesel, Kerosin für Flugzeuge, Heizöl. Für Westpolen liegen die Zahlen ähnlich hoch. 11,5 Millionen Tonnen Rohöl wurden 2020 in Schwedt raffiniert, 2021 waren es 10,6 Millionen. Eine eigene Zuganbindung, auch zur Versorgung des Flughafens Berlin Brandenburg, sowie der Ausbau der Bundesstraßen B 2 und B 166 zwecks besseren Anschlusses an die Autobahnen unterstreicht die infrastrukturelle Bedeutung der PCK-Raffinerie.
In der Raffinerie selbst arbeiten 1200 Menschen, auf deren weitläufigem Areal sind zahlreiche Zulieferbetriebe und Subunternehmen mit zusätzlich rund 2000 Mitarbeitern angesiedelt. Die Fläche der gesamten Anlage ist größer als die der Stadt Schwedt selbst. Die Raffinerie ist der mit weitem Abstand wichtigste Arbeitgeber in der strukturschwachen Uckermark und einer der wenigen Industriestandorte von Bedeutung in Ostdeutschland.
Diese wenig spektakuläre Bestandsaufnahme lässt den sich dahinter entfaltenden Thriller kaum erahnen. Darin geht es um geopolitische Machtspiele ebenso wie um Wetten auf die wirtschaftliche Zukunft nicht allein Deutschlands. Ferner um Hybris, um den Kampf Gut gegen Böse, um Wunschdenken und Realitätsvermeidung. Und nicht zuletzt um eine Informationspolitik, die der Öffentlichkeit eher Sand in die Augen streut, statt aufzuklären. Das alles auf dem Rücken einer zutiefst verunsicherten Bevölkerung nicht allein in Schwedt, die um ihre Arbeitsplätze und ihre Zukunft bangt.
Als Reaktion auf den russischen Einmarsch in die Ukraine im Februar 2022 haben die westlichen Staaten weitreichende Sanktionsmaßnahmen gegen Russland beschlossen. Offiziellen Verlautbarungen zufolge sollen diese Moskau die finanzielle Basis für seine Kriegsführung entziehen. Sukzessive haben Washington, Brüssel und Berlin ein »Sanktionspaket« nach dem anderen verabschiedet. Zu den wichtigsten Maßnahmen gehören der Ausschluss der meisten russischen Banken aus dem US-dominierten Bankenzahlungssystem SWIFT, das Einfrieren russischer Vermögenswerte auf westlichen Banken im Volumen von rund 330 Milliarden US-Dollar, ferner ein nahezu vollständiges Exportverbot im Bereich Hightech. Hinzu kommen Importverbote russischer Waren, Einreise-, Transit- und Anlandungsverbote für russische Transportunternehmen (zu Land, zur See und im Flugverkehr), der Rückzug westlicher Unternehmen aus Russland sowie, allen voran natürlich, die Sanktionierung sämtlicher Energieträger, der wichtigsten Ressource der russischen Volkswirtschaft: Kohle, Erdöl und Erdgas.
Bleiben wir zunächst beim Erdöl. Zu den zuverlässigen Konstanten westlicher Politik gehört in Krisenzeiten die Beschwörung gemeinsamer Werte und einmütigen Handelns, stets verbunden mit dem Hinweis, man werde sich nicht »spalten« lassen, weder von Putin noch von anderen Oberschurken. Mit der Realität hat dergleichen Rhetorik wenig gemein. Wochenlang hat die Europäische Union hinter den Kulissen mit sich gerungen, um im Juni 2022 ihr sechstes Sanktionspaket einstimmig zu verabschieden. Andernfalls hätte es nicht in Kraft treten können. Ziel war es, die russischen Erdölexporte in die EU vollständig zu unterbinden, wie zuvor schon die Kohleexporte.
Selbstmord? Nein danke.
Allerdings stellte sich Ungarns Ministerpräsident Viktor Orban quer. Er verwies darauf, dass ein Embargo für Ungarn, das seinen Energiebedarf zu 80 Prozent aus Russland bezieht (bei Erdgas sind es fast 100 Prozent), selbstmörderisch wäre. Die möglichen Folgen für sein Land verglich er mit dem Abwurf einer Atombombe. Er stehe dafür nicht zur Verfügung. Daraufhin verständigte man sich in Brüssel auf einen Kompromiss. Bis dato waren zwei Drittel der russischen Erdölexporte in die EU mit Tankern erfolgt, ein Drittel entfiel auf die »Druschba«-Pipeline. Die russischen Tanker-Exporte wurden nach einer Übergangsfrist im Dezember 2022 endgültig sanktioniert und eingestellt.
Der bemerkenswerte Clou: Erdölimporte via Pipeline, sprich: »Druschba«, sind von den Sanktionsmaßnahmen ausdrücklich nicht betroffen, sie bleiben erlaubt. Es gibt diesbezüglich keinerlei Verbote seitens der EU, jedenfalls nicht bis zur Drucklegung dieses Buches. Das ermöglicht vor allem Ungarn, Tschechien und der Slowakei, auch weiterhin preisgünstiges russisches Erdöl über den Südstrang der Pipeline zu beziehen. Nichts und niemand hat folglich die Bundesregierung gezwungen, zumal kein Beschluss aus Brüssel, die russischen Erdölimporte über Schwedt zu beenden. Sie hat es dennoch getan, als Ausdruck ihrer Entschlossenheit, mit dem Reich des Bösen ein für alle Mal zu brechen: politisch, aber auch wirtschaftlich. Der Preis spielt keine Rolle, denn Größeres steht auf dem Spiel: Moral und Werte. Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) räumte bereits im Mai 2022 in einem Interview ein, dass die Folgen des Erdölembargos auch für Deutschland Konsequenzen haben würden, darunter Preiserhöhungen. Dennoch trete er für die Sanktionierung ein, »weil wir uns aus der moralischen Schuld ein Stück weit befreien, (nämlich, M. L.) mit unseren Zahlungen das Regime Putin am Leben zu erhalten.«
Deutschland genießt das Privileg, als einziges westliches Land Moral höher zu bewerten als wirtschaftliche und nationale Interessen – die USA, Großbritannien oder Frankreich halten es eher umgekehrt. Gibt es also eine »moralische Schuld« im Kontext von Handelsbeziehungen? Wenn ja, warum greift diese »Schuld« nicht auch, beispielsweise, bei Rüstungsexporten in den Nahen Osten, zu deren Reduzierung Habeck und sein Ministerium bislang nicht beigetragen haben?
Die Annahme, dass »unsere Zahlungen« das politische System in Russland am Leben erhalten, zeugt gleichermaßen von erheblicher Selbstüberschätzung wie auch von profunder Unkenntnis der Machtstrukturen in Russland – unbeschadet ihrer fragwürdigen Qualitäten. Gleichzeitig lässt Habeck anklingen, dass die Sanktionen möglicherweise nicht allein dazu dienen, der Ukraine beizustehen, sondern zugleich einen Regimewechsel in Russland herbeizuführen suchen. Diese Wunschvorstellung, eben »das Regime Putin« nicht »am Leben … erhalten« zu wollen, führt der Wirtschaftsminister indes im selben Interview ad absurdum: Das Embargo werde dazu führen, dass die globalen Erdölpreise steigen. Man müsse sehr aufpassen, dass »wir nicht eine Situation entstehen lassen, wo Putin mit weniger Importen trotzdem mehr Einnahmen hat«. Es geht vermutlich eher um »Putins« Exporte, doch hat der Wirtschaftsminister richtig erkannt, dass ein knapper werdendes Angebot den Preis der betreffenden Ware entsprechend erhöht. Und in der Tat, nicht allein die Erdölgewinne Russlands, sondern vor allem die westlicher Mineralölkonzerne sind durch die gegen Moskau gerichteten Boykottmaßnahmen nachfolgend geradezu explodiert – dazu später mehr.
Einerseits sucht der Wirtschaftsminister im Konsens mit westlicher Politik Russland also zu schwächen. Andererseits verhängen die maßgeblichen Akteure Sanktionen, die ihrerseits »dazu führen, dass die globalen Erdölpreise steigen«. Mit entsprechenden Mehrkosten natürlich auch für Deutschland. Indem Russland zusätzliche Einnahmen erzielt, konterkariert Habeck sein propagiertes Ziel, nämlich dem »Regime Putin« die ökonomische Grundlage entziehen zu wollen.
Hilft dieser ideologiegetriebene und letztendlich selbstschädigende Ansatz der Ukraine, die ihrerseits den Südstrang der »Druschba« nicht unterbricht und lieber die Durchleitungsgebühren in Rechnung stellt? Trägt er dazu bei, den Krieg zu beenden? Schadet er Russland mehr als Deutschland? Oder verhält es sich eher umgekehrt? Den Preis für diese Politik zahlen nicht zuletzt die Menschen in Schwedt, die zu Recht um ihre Arbeitsplätze fürchten.
Was also tun mit der PCK-Raffinerie, wie ihre Pleite und Schließung verhindern? Woher das Erdöl nehmen, das dort anstelle des russischen verarbeitet werden soll? Diesen für die deutsche Energieversorgung insgesamt zentralen Fragen ist das Wirtschaftsministerium mit erstaunlicher Nachlässigkeit und erkennbar ohne Plan nachgegangen. Um das Ergebnis vorwegzunehmen: Auf absehbare Zeit fährt man in Schwedt (energie-)politisch auf Sicht. Die Produktion wurde im Januar 2023 offiziellen Angaben zufolge um 30 Prozent reduziert, die überschüssigen Angestellten arbeiten in...
Erscheint lt. Verlag | 21.6.2023 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | 2023 • Annalena Baerbock • Außenpolitik • Bundesregierung • Debattenbuch • eBooks • Energiekosten • Feministische Außenpolitik • Gaspreisbremse • Gaspreise • Inflation • Menschenrechte • Neuerscheinung • Olaf Scholz • Russischer Angriff • Russland-Ukraine Konflikt • Sanktionen • Ukraine-Russland-Krieg • Waffenlieferungen • Wirtschaft • Wirtschaftskrise |
ISBN-10 | 3-641-30990-5 / 3641309905 |
ISBN-13 | 978-3-641-30990-9 / 9783641309909 |
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