Prävention von Lese- und Rechtschreibstörungen im Unterricht (eBook)
224 Seiten
Ernst Reinhardt Verlag
978-3-497-61718-0 (ISBN)
Dr. Karin Reber, Studienrätin im Förderschuldienst (Sprachheilpädagogik, Informatik) und akademische Sprachtherapeutin (Sprachheilpädagogin M.A.). Dr. Karin Reber ist u.a. Fachbeirätin der Online-Übungssammlung "logopaletti".
Dr. Karin Reber, Studienrätin im Förderschuldienst (Sprachheilpädagogik, Informatik) und akademische Sprachtherapeutin (Sprachheilpädagogin M.A.). Dr. Karin Reber ist u.a. Fachbeirätin der Online-Übungssammlung "logopaletti".
2Pädagogisches Grundkonzept
In diesem Kapitel werden allgemeinpädagogische Grundlagen des Konzepts „Systematischer Schriftspracherwerb von Anfang an“ erläutert: Grundlegend für das Konzept ist der Gedanke, dass sich Unterricht als Feld für Prävention von Lese-Rechtschreibstörungen nutzen lässt, indem seine Qualität optimiert wird (2.1). Dazu sollte er auf Risikofaktoren von Schriftsprachstörungen besonderen Bezug nehmen, was zur Benennung der beiden übergreifenden Unterrichtsprinzipien Sprach- und Aufmerksamkeitsförderung führt (2.2 und 2.3).
2.1Unterrichtsoptimierung: Unterricht als Prävention
2.1.1 Das „Responsiveness to Intervention“-Modell (RTI)
Was ist „Responsiveness to Intervention“?
Das „Responsiveness to Intervention“-Modell (auch „Responsiveness to Instruction“-Modell, RTI-Modell, also „Ansprechen auf Intervention“ bzw. „Ansprechen auf Instruktion“) verpflichtet sich dem Grundgedanken, dass zunächst unzureichende Instruktion und Intervention als Gründe für das Scheitern eines Schülers im Unterricht auszuschließen sind, bevor eine Behinderungsdiagnose gestellt werden darf (Hartmann 2008, 128). In Deutschland wurde dieser Ansatz bisher kaum aufgegriffen (Walter 2008, 203) und ist eher unter den Termini „Systematische formative Evaluation“ bzw. „Curriculumbasiertes Messen“ bekannt.
Ziel des Ansatzes ist es, das Scheitern von Schülern von Anfang an zu verhindern. Prävention muss idealerweise im Bereich der Regelschule stattfinden. Bisher gängige Praktiken gemäß des Diskrepanzmodells, dass Schüler erst eine Förderung (bezahlt) bekommen, wenn ihre Leistungen im Vergleich zum Durchschnitt genügend schlecht sind, entsprechen nicht modernen ethischen Prinzipien. Defizite dürfen sich nicht erst aufbauen müssen („Wait-to-Fail“-Modell, Lyon / Fletcher 2001), um dann im Rahmen einer sonderpädagogischen Intervention behandelt werden zu können, sondern sollten in ihrer Ausbildung verhindert werden. Voraussetzung für einen derartigen Ansatz ist es, die Fähigkeiten der Schüler mit Hilfe verschiedenster Verfahren genau zu beobachten, um überhaupt rechtzeitig intervenieren zu können. Grundthese ist: Je früher Schüler mit Schwierigkeiten identifiziert und mit geeigneten Instruktionsmethoden im Rahmen des Unterrichts versorgt werden können, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie in ihrer Regelschulklasse erfolgreich bleiben können (Mellard 2003, 1). Dies kann allerdings nur gelingen, wenn zum einen die Kinder genau beobachtet werden und zum anderen qualitativ hochwertige Instruktionsprogramme vorhanden sind. Die acht immer wieder aufgeführten zentralen Merkmale von RTI sind (Mellard 2003, 2; Hartmann 2008, 128):
1. Hohe Qualität der Regelschulinstruktion: Die Schüler erhalten bereits in der Regelschule einen qualitativ hochwertigen Unterricht.
2. Unterricht basiert auf Ergebnissen der Forschung: Im Regelschulunterricht werden nur wissenschaftlich validierte Methoden verwendet.
3. Leistungsmessinstrumente für den Einsatz in der Klasse: Leistungsmessung sollte von Regelschullehrern in der Klasse durchführbar sein, die Lehrer sollten nicht auf externe Tests angewiesen sein.
4. Übergreifende Leistungserhebungen bei allen Schülern: Schul- oder gar landesweit werden bei allen Kindern Screenings in den verschiedenen Leistungsbereichen durchgeführt.
5. Ständige Überwachung der Lernfortschritte: Im Sinne einer lernprozessbegleitenden Diagnostik bzw. eines curriculumbasierten Messens werden Lernfortschritte der Schüler laufend unterrichtsimmanent erhoben.
6. Intervention basiert auf Ergebnissen der Forschung: Wenn im Rahmen der Diagnostik Defizite auftauchen, werden individuelle oder standardisierte Trainingsprogramme durchgeführt, die durch wissenschaftliche Studien validiert sein sollten. Grundsätzlich kann die Intensität der Instruktion erhöht oder eine andersartige Instruktionsmethode verwendet werden.
7. Überwachung der Fortschritte während der Intervention: Zur Einschätzung der Effektivität der Intervention werden deren Fortschritte überwacht. Auf diese Weise wird das Ansprechen des Lerners auf die Intervention („Responsiveness to Intervention“) überprüft.
8. Evaluation der durchgeführten Maßnahmen: Genauigkeitsmaße (z. B. Beobachtungsbögen zur Bewertung des Lehrerverhaltens) unterstützen Lehrer dabei, Interventionen in ihrer konsistenten Umsetzung zu beurteilen.
Warum RTI?
Ausgangspunkt für die Hinwendung zum RTI-Paradigma war die aufkommende Kritik am praktizierten Konzept des adaptiven Unterrichts (als Sammelname für Strategien und Verfahren der Differenzierung und Individualisierung; wissenschaftliches Paradigma: „Aptitude Treatment Interaction“; Walter 2008, 202) bzw. v. a. an der klassischen Diskrepanzdefinition im Bereich Lernbehinderung bzw. Legasthenie (vgl. Hartmann 2008; Walter 2008; Sampson Graner et al. 2005). Nach diesem Modell erhalten nur Kinder eine Förderung, die eine signifikante Differenz zwischen Intelligenz und einem anderen Bereich (z. B. Rechtschreiben) aufweisen. Dieses „Wait-to-Fail“-Vorgehen (Lyon / Fletcher 2001) impliziert aber auch, dass Kinder erst dann eine Förderung bekommen, wenn sich die Problematik bereits relativ weit fortentwickelt hat. Ein frühes, präventives Eingreifen wird dadurch ausgeschlossen. Gerade die rechtzeitige Intervention hat sich aber in verschiedenen Lernbereichen (am besten untersucht ist das Lesen) als entscheidend herausgestellt (vgl. Lyon / Fletcher 2001).
Zusätzlich scheint das IQ-Diskrepanzkriterium gerade im Bereich Schriftsprache aus verschiedensten Gründen nicht als robuster Prädiktor geeignet zu sein (Hartmann 2008): Intelligenz wird unterschiedlichst gemessen und die Zweigruppen-Teilung in Legasthenie (normale Intelligenz) versus Lese-Rechtschreibschwäche (unterdurchschnittliche Intelligenz) hat sich als nicht förderrelevant erwiesen, um nur einige Ergebnisse zu nennen.
So entstand der Wunsch, statt später Intervention frühe Präventionsmaßnahmen zu fokussieren. „Nur durch systematische Erhöhung der Instruktionsqualität und durch Messung der kindlichen Antwort auf diese Instruktion können Schlussfolgerungen über die Möglichkeit gezogen werden, dass kindliche Defizite (…) zu den Lernschwierigkeiten beitragen“ (Speece et al. 2003 nach Hartmann 2008, 128). Der Fokus geht also weg von relativ später Intervention und hin zu effektiver Instruktion und dadurch Prävention (Salvato 2006). Dass der RTI-Ansatz erfreuliche Ergebnisse liefern kann, zeigen u. a. Moore-Brown et al. 2005 und Mellard et al. 2004.
RTI-Interventionsebenen
In der Praxis existieren verschiedenste Umsetzungen und Ausprägungen dieser Grundprinzipien mit unterschiedlichen Schwerpunktlegungen (Sampson Graner et al. 2005). Im Folgenden wird daher versucht, allgemeingültige Charakteristika bzw. weit verbreitete Realisierungen darzustellen. Grundlegende Informationen zu theoretischen und praktischen Gesichtspunkten finden sich beim National Research Center on Learning Disabilities (NRCLD, http://www.nrcld.org). Die meisten Umsetzungen wählen ein dreistufiges Modell mit drei verschiedenen Interventionsebenen (Sampson Graner et al. 2005; Hartmann 2008):
1. Regelunterricht (primäre RTI-Ebene)
2. Fokussierte Intervention (sekundäre RTI-Ebene)
3. Spezielle oder sonderpädagogische Intervention (tertiäre RTI-Ebene)
Regelunterricht (primäre RTI-Ebene): Man geht davon aus, dass ein wissenschaftlich fundierter, effektiver Unterricht das Herzstück einer erfolgreichen Prävention ist (Hartmann 2008, 129). Prävention muss dabei in der Regelschule stattfinden: Ihre Aufgabe ist es sicherzustellen, dass alle Kinder einen qualitativ hochwertigen Unterricht erhalten, sodass Störungen gar nicht erst entstehen können. Dies setzt eine hohe Qualifikation der Lehrkräfte in den Bereichen Unterrichtsmethodik und Schülerbeobachtung voraus. Erst wenn derartige unterrichtliche Maßnahmen nicht mehr ausreichen, treten spezielle Interventionen in Kraft. Diagnostisch werden curriculumbasierte Messverfahren eingesetzt, die in regelmäßigen Abständen die Leistungen aller Schüler in den verschiedenen Leistungsbereichen erfassen.
Fokussierte Intervention (sekundäre RTI-Ebene): Wenn sich der allgemeine Unterricht nicht mehr als ausreichend erweist, werden von (spezialisierten) Regelpädagogen fokussierte Interventionen im Kontext der Regelschule durchgeführt. Diese Interventionsebene profitiert vom Wissen der Sonderpädagogik. Im Rahmen der Intervention werden noch nicht beherrschte curriculare Lernziele in idealerweise mehrmals wöchentlich stattfindenden Übungseinheiten erarbeitet und gesichert. Der Pädagoge arbeitet mit einzelnen Schülern oder homogenen...
Erscheint lt. Verlag | 16.1.2023 |
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Zusatzinfo | 64 Abb. 27 Tab. |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sozialwissenschaften ► Pädagogik ► Schulpädagogik / Grundschule |
Schlagworte | Automatisierung • Entwicklungsstörung • Grundschule • Legasthenie • Leistungsstörung • Lernschwäche • Leseverständnis • Literalität • Orthographie • Schreibfehler • Schriftsprache • Schriftspracherwerb • Sprachentwicklungsauffälligkeit • Sprachförderung • Unterricht • Unterrichtsoptimierung |
ISBN-10 | 3-497-61718-0 / 3497617180 |
ISBN-13 | 978-3-497-61718-0 / 9783497617180 |
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