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Versöhnungstheater (eBook)

Spiegel-Bestseller

(Autor)

eBook Download: EPUB
2023
176 Seiten
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
978-3-446-27733-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Versöhnungstheater - Max Czollek
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Eine kritische Analyse der deutschen Erinnerungskultur: Klug und polemisch seziert Bestsellerautor Max Czollek den Wandel im deutschen Selbstverständnis.
Max Czolleks legendäre Bücher 'Desintegriert euch!' und 'Gegenwartsbewältigung' streuten lustvoll Zweifel an den deutschen Narrativen von Integration bis Leitkultur. Scharf, gewitzt und an jeder Stelle überraschend, schließt Versöhnungstheater diesen Kreis, wenn es nach der aktuellen Erinnerung an die Verbrechen der Vergangenheit fragt. Seit weltweit bewunderten Gesten der deutschen Selbstvergewisserung vom Warschauer Kniefall bis zum Holocaust-Mahnmal hat sich in letzter Zeit einiges verändert: Das Berliner Stadtschloss feiert Preußens Könige, mit dem neuen Militärhaushalt wird eine Zeitenwende beschworen und der Bundespräsident bedankt sich auf Israelreise ungefragt für die 'Versöhnung'. Deutschland ist wieder wer, auch weil es sich so mustergültig an den Holocaust erinnert. Herzlich willkommen zum Versöhnungstheater!

Max Czollek, geboren 1987, ist Autor und lebt in Berlin. Er ist Mitherausgeber des Magazins Jalta - Positionen zur jüdischen Gegenwart und seit 2021 Kurator der Coalition for a Pluralistic Public Discourse (CPPD) für eine plurale Erinnerungskultur. Er hat drei Gedichtbände publiziert, bei Hanser erschienen bisher seine vieldiskutierten Essays Desintegriert euch! (2018), Gegenwartsbewältigung (2020) und Versöhnungstheater (ET: 23.01.2023). 2022 war er Ideengeber und Kokurator der Ausstellung Rache. Geschichte und Fantasie am Jüdischen Museum Frankfurt, deren Begleitband ebenfalls bei Hanser erschien.

Einleitung: Nach knapp achtzig Jahren der Zurückhaltung


Derzeit ereignen sich Krisen in atemberaubender Geschwindigkeit. Keine Blaupause, die in der Schublade liegt, keine Thinktanks, die Zeit hatten, über Jahre Strategien zu entwickeln. Das gilt auch für den Überfall Russlands auf die Ukraine am 24. Februar 2022. Unempfänglich für die Warnungen osteuropäischer Staaten, hatte sich Deutschland zu abhängig gemacht von russischen Rohstoffen und stand nun vor dem Scherbenhaufen einer verfehlten Außen- und Energiepolitik. Ob aus Gier, falschem Kalkül, Mangel an projektiven Fähigkeiten: plötzlich war der Bundestag mit einer weiteren Krise konfrontiert, auf die dringend eine Antwort gefunden werden musste. Bundeskanzler Olaf Scholz schüttelte diese Antwort wenige Tage darauf als »Zeitenwende« aus den hochgekrempelten Ärmeln.1 Zentrales Anliegen seiner Regierungserklärung vom 27. Februar war die Verkündung eines Paradigmenwechsels im Verhältnis zur Bundeswehr und ihrer internationalen sicherheitspolitischen Rolle. Keine Kleinigkeit für das postnationalsozialistische Deutschland.2

Nun wäre es eine Sache gewesen zu sagen, die Aggression Russlands zwingt uns dazu, mehr Geld in die Bundeswehr zu investieren. Etwas völlig anderes ist es, das alles als Paradigmenwechsel zu bezeichnen, zu dem sich fast alle im Bundestag vertretenen Fraktionen begeistert zu Standing Ovations erheben. Tatsächlich hat dieser Umschwung einen langen Vorlauf, der eng mit der Entwicklung der deutschen Erinnerungskultur zusammenhängt. Wobei »deutsch« in diesem Zusammenhang eine Selbstbezeichnung ist, die eine ganze Reihe an Fantasien transportiert, wer »wir« sind und was »wir« richtig gemacht haben. Einen Hinweis darauf lieferte SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil, als er drei Monate nach Scholz’ Rede beim SPD-Parteitag am 21. Juni verkündete, »nach knapp achtzig Jahren der Zurückhaltung« sei es wieder an der Zeit, dass Deutschland international seinen Führungsanspruch einlöse.3 Dass Klingbeil dabei mit der Zeitangabe unzweideutig auf das Ende der Nazizeit verwies, ist kein Zufall, sondern Ausdruck des schiefen Geschichtsverständnisses, an dem die deutsche Erinnerungskultur maßgeblich mitgearbeitet hat. Und Scholz’ Zeitenwende-Rede markierte einen weiteren Höhepunkt einer neuen Phase der Erinnerungskultur, die ich als Versöhnungstheater bezeichnen möchte.

Als das besiegte Deutschland sich Ende der 1940er Jahre anschickte, zwei neue deutsche Staaten zu gründen, waren sich die Regierenden einig, dass man damit auch eine Wiederholung der Katastrophe verhindern wollte, die der Nationalsozialismus für Deutschland, Europa und die Welt bedeutet hatte. Während sich die DDR zum antifaschistischen Staat erklärte und Nationalsozialist*innen zumindest in den ersten Jahren aus allen sichtbaren Positionen entfernte, schlug der erste Bundeskanzler der BRD Konrad Adenauer einen anderen Weg ein, der sich zwischen symbolischer internationaler Wiedergutmachungspolitik und nationalen Amnestiegesetzen bewegte, auf deren Grundlage eine Strafverfolgung oder auch nur gesellschaftliche Debatten weitgehend ausblieben. Das war die erste Phase der westdeutschen Erinnerungskultur, die ungefähr zwei Jahrzehnte andauerte.

Gut möglich, dass sich die westdeutsche Gesellschaft in den folgenden Jahrzehnten beim Umgang mit der Nazivergangenheit auch darum dynamischer als die DDR zeigte, weil zu Beginn mehr liegen geblieben war. Jedenfalls markierte der Kniefall Willy Brandts vor dem Ehrenmal des jüdischen Ghettos in Warschau am 7. Dezember 1970 den Beginn der zweiten Phase der Erinnerungskultur. Diese war gekennzeichnet durch ein verändertes Verhältnis der westdeutschen Gesellschaft zu ihrer Gewaltgeschichte: Man rief Gedenktage aus und hielt bewegende Reden, schuf Denkmäler, rekonstruierte Synagogen und jüdische Friedhöfe und gründete Museen. Dieser neue Umgang mit der Geschichte ging einher mit einem neuen Selbstverständnis als Nation, das Bundespräsident Richard von Weizsäcker in seiner berühmten Rede vom 8. Mai 1985 auf den Punkt brachte: Man verstand sich fortan nicht mehr als besiegtes, sondern als befreites Deutschland.4

Von heute aus gesehen wird deutlich, dass diese erinnerungskulturelle Entwicklung zugleich den Auftakt bildete für eine »Wiedergutwerdung Deutschlands« in der Gegenwart, die sich nach dem Aufgehen der DDR in der BRD 1990 zur gemeinsamen Erzählung des glücklich vereinigten Deutschlands verdichtete.5 Damit läutete die Vereinigung die dritte Phase des deutschen Erinnerns ein: das Versöhnungstheater. Diese Weiterentwicklung fand auf Basis der in den Jahrzehnten zuvor etablierten (west)deutschen Erinnerungskultur statt, die zum Ausgangspunkt einer neuen Normalität erklärt wurde, die sich in den Jahrzehnten darauf als Forderung nach einem unverkrampften Nationalismus, in der Gründung von Heimatministerien, bei Bauprojekten wie der Rekonstruktion der Frankfurter Altstadt oder des Berliner Stadtschlosses äußerte. Die Verbindung zur Erinnerungskultur offenbart sich aber auch darin, dass die Verantwortlichen fortwährend Bezug nehmen auf die vermeintlich beispielhafte Aufarbeitung der nationalsozialistischen Verbrechen, selbst wenn der konkrete Anlass gar nicht direkt damit verbunden ist.

So ist es auch kein Zufall, dass das Humboldt Forum im Berliner Stadtschloss am 20. Juli 2021 eröffnet wurde. Der 20. Juli ist nämlich das Jubiläum des Stauffenberg-Attentats, an dem eine Reihe vormaliger Gefolgsleute Hitlers 1944 versuchte, ihren Führer aus dem Weg zu räumen. Dass Stauffenberg mit der Neueröffnung der ethnologischen Sammlungen Berlins in der ehemaligen Residenz der preußischen Könige überhaupt nichts zu tun hat, ist symptomatisch für das Versöhnungstheater. Und auch Klingbeils Phrase »nach knapp achtzig Jahren der Zurückhaltung« fällt in diese Kategorie. Einen ersten Höhepunkt erlebte das Versöhnungstheater bereits mit der Fußballweltmeisterschaft 2006. Dieses national und international gefeierte mediale Großereignis war eine kollektive, lustvolle Bejahung eines neuen deutschen Nationalempfindens. Kritik wurde damals mit einem energischen »Es ist ja nur Fußball« vom Tisch gewischt. Entscheidend war aber auch hier der Verweis auf die Jahrzehnte einer Erinnerungskultur, mit denen man den eigenen Nationalstolz legitimierte, oder sogar erklärte. Die Worte sind anders, die Melodie ist dieselbe.

Als Olaf Scholz am 27. Februar 2022 von der Zeitenwende sprach, wehte Begeisterung durch den Bundestag. Wie bei der Fußballweltmeisterschaft 2006 wurden auch die deutschen Feuilletons und Talkshows von der Hochstimmung ergriffen, nur dass diesmal nicht die Nationalmannschaft, sondern die Opferbereitschaft und Mannhaftigkeit der ukrainischen Soldaten gepriesen wurde, die den deutschen Männern insbesondere in Großstädten angeblich fehle. Mich beeindruckte in diesen Wochen die Mühelosigkeit, mit der die Menschen ihre Ernst-Jünger-Rhetorik aus der Schublade zogen, nachdem sie sich und anderen jahrzehntelang eingeredet hatten, dass sie mit diesem Deutschland nichts mehr zu tun haben wollten. Was war passiert, dass der erinnerungspolitische Aufbruch der 1968er-Generation ein halbes Jahrhundert später in die Sehnsucht nach einer neuen nationalen Normalität mündete? Und wie konnte es sein, dass ihre Sehnsucht bis heute das öffentliche Gespräch über Erinnerungskultur dominiert, wenn wir doch wissen, dass neben den Nachkommen der Täter*innen auch Menschen in Deutschland leben, die andere Ängste, Sehnsüchte und Bedürfnisse mit sich herumtragen?

Der folgende Essay ist der Erkundung dieser Fragen gewidmet. Er beginnt mit einer Rekonstruktion der unterschiedlichen Phasen der Erinnerungskultur, bevor er sich der Gegenwart des Versöhnungstheaters zuwendet. Eine zentrale Einsicht dieser Rekonstruktion lautet, dass die zweite Phase der Erinnerungskultur sich ab den 1970er Jahren vor allem in einer Intensivierung symbolischer Handlungen manifestierte, die aber keine echte Übernahme von Verantwortung bedeuteten — etwa in Form von Entschädigungen, Rückübertragungen oder Verurteilungen wegen Mordes. Dieses Auseinanderklaffen von symbolischer Ebene und Realität ist unterdessen so normal geworden, dass man Ereignisse wie den rasanten Aufstieg einer...

Erscheint lt. Verlag 23.1.2023
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte 4. Juli • Achim Doerfer • Amnestiegesetze • Antidiskriminierung • Antijudaismus • Antirassismus • Antisemitismus • Auschwitz • auschwitzprozesse • Befreiung • Bestseller • BlackLivesMatter • Desintegriert euch! • Deutschland • Drittes Reich • Einer musste die Täter ja bestrafen • Entnazifizierung • Erinnerung • Erinnerungskultur • Erinnerungspolitik • Fritz Bauer • Gedächtnis • Gegenwart • Gegenwartsbewältigung • Geschichtsrevisionismus • Hanau • Holocaust • Humboldt Forum • Identitäre • Identitätspolitik • Integration • Judentum • Jüdische Identität • jüdische Rache • Konrad Adenauer • Konzentrationslager • Leitkultur • Nationalsozialismus • Neonazi • Nürnberger • Opfermythos • Preußen • Prozesse • Rache • Rechtsradikalismus • Ronen Steinke • Schoa • Schwarze Menschen • Shoa • Sophie Scholl • Stadtschloss • Stauffenberg • Streitschrift • Terror gegen Juden • Universalismus • Vergangenheitsbewältigung • Vernichtung • Versöhnung • Weiße Rose • Weizsäcker • Widerstand • Willy Brandt • Yad Vashem • Zeitenwende
ISBN-10 3-446-27733-1 / 3446277331
ISBN-13 978-3-446-27733-5 / 9783446277335
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