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Es wäre einmal deutsch (eBook)

Über die postmigrantische Gesellschaft

(Autor)

eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
272 Seiten
Aufbau digital (Verlag)
978-3-8412-3262-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Es wäre einmal deutsch - Naika Foroutan
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Nach der Migration ist vor der Debatte.

Deutschland ist nicht nur faktisch zu einem Einwanderungsland geworden, sondern auch seinem Selbstverständnis nach. Unsere Gesellschaft lässt sich als »postmigrantisch« beschreiben. »Post« steht dabei nicht für das Ende der Migration, sondern für die gesellschaftlichen Prozesse und Kämpfe, die in der Phase nach der Migration erfolgen: politisch, wirtschaftlich, kulturell.
Naika Foroutan hat dazu wegweisende Studien vorgelegt. Sie hat aber auch kontinuierlich Essays publiziert, in denen sie ihre wissenschaftlichen Erkenntnisse mit Alltagsbeobachtungen und -erlebnissen verknüpft. Die vorliegende Auswahl zeigt, wie sich das Sprechen und die Positionen von Menschen mit Einwanderungsgeschichte in Bezug auf Zugehörigkeit verändert haben: erst anklopfend-bittend, dann wütend-polemisch und schließlich gelassen-selbstbewusst.

Foroutans alltagsdiagnostische Texte sind ein Spiegel unserer Gesellschaft.

»Naika Foroutan ist eine Public Scientist im wahrsten Sinne des Wortes, eine Wissenschaftlerin, die in der Öffentlichkeit ihre Befunde nicht leisetritt, damit wir auf den Sesseln nicht in Unruhe geraten.« Andreas Zick, Professor für Sozialisation und Konfliktforschung.



Naika Foroutan, geboren 1971, wuchs im Iran und in Deutschland auf. Sie ist Professorin für Integrationsforschung und Gesellschaftspolitik an der Humboldt-Universität zu Berlin und Abteilungsleiterin am dortigen Berliner Institut für empirische Integrations- und Migrationsforschung (BIM). Sie ist zudem Direktorin des Deutschen Zentrums für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM). Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen die Transformation von Einwanderungsländern in postmigrantische Gesellschaften, Islam- und Minderheitenpolitiken sowie Radikalisierung, Rassismus und Islamismus. Für ihre wissenschaftliche Arbeit erhielt sie u.a. den Fritz-Behrens-Preis für exzellente Forschung.

Vorwort


Als Shermin Langhoff im Jahr 2009 aus einer widerständigen Laune heraus entschied, sie wolle ab jetzt postmigrantisches Theater machen, tat sie das auch, um zu zeigen, dass Migration kein Nischenthema mehr ist, für folkloristische Tänze, Liedgut und Eingeweihte. Sie wollte eine neue Art von Theater schaffen, das bald zu dem innovativsten zählen sollte, was deutsche Performanz anzubieten hatte. Mit einer entwaffnenden Chuzpe begann sie deutsche Kunst umzudefinieren. Vielleicht ahnte sie, dass ihre Art, über Kulturproduktion nachzudenken, sie sich zu greifen und sie als neue deutsche Art der Gegenwart zu setzen, eines Tages tatsächlich beschreiben würde, was das heutige Deutschland der 2020er Jahre ausmachen würde: ein hybrides, von migrantischer Sprache, Performanz, Wut, Lässigkeit und Attitude angetriebenes und neugewordenes, in Teilen ziemlich cooles Land. Vielleicht hoffte sie es auch nur.

Etwa ein Jahrzehnt später – nach harten Aushandlungen um eine sich verändernde, nationale Identität, um gesellschaftlichen Zusammenhalt in hoch pluralen Zusammenhängen und um die Rolle Deutschlands als migrationspolitischer Akteur in der Welt – reflektierte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in seiner Rede zum 60. Jahrestag des Anwerbeabkommens mit der Türkei darüber, was die Konstitution Deutschlands ausmache: Wer ist denn dieses »Wir«? fragte er in den Raum, um die Frage dann entspannt selbst zu beantworten: »Wir sind ein Land mit Migrationshintergrund!« Dies kann durchaus als Zusammenfassung dessen gelten, was Deutschland zu Beginn der 2020er Jahre beschreibt.

Wie sie zustande kam, die Neuerzählung dieses Landes, in einem Prozess des Haderns, sich Wehrens, des Erkennens und Benennens der Migrationsfrage, habe ich im letzten Jahrzehnt als Migrationsforscherin betrachtet und beforscht. Aber ich habe diese Entwicklung auch als Bürgerin begleitet, beschimpft, belächelt und umarmt, aus Gründen auch beweint. Zusammen mit vielen anderen Kolleg:innen, Kulturschaffenden, Aktivist:innen. Dieses Buch versammelt Essays, Aufsätze, Vorträge und Stellungnahmen, die rückblickend als Chronik eines Jahrzehnts postmigrantischer Aushandlungen gelesen werden können. Sie spiegeln auch in ihrer Tonalität die Veränderung der migrantischen Frage in Deutschland.

Das Postmigrantische und seine Gegner


Zeitgleich zum Entstehen des postmigrantischen Theaters am Ende der Nullerjahre braute sich 2009 ein Sturm zusammen, der die Identitätsfindungsdebatten der nachfolgenden 2010er Jahre maßgeblich prägen sollte. Thilo Sarrazin, SPD-Mitglied, Angehöriger des Vorstands der Deutschen Bundesbank und ehemaliger Finanzsenator von Berlin, gab in einem langen Interview für ein Kulturmagazin den Anstoß zu einem gesellschaftspolitischen Diskurs, der die völkisch nationalen Abwehrstrategien und ihre politische Organisationskraft für das Jahrzehnt prägen sollte. Die Frage danach, was Deutschland ausmache und ob sich diese Imagination gerade selbst abschaffe, wurde dabei vor allem entlang der muslimischen Zugehörigkeit zu Deutschland gestellt. Sie korrelierte in großen Teilen mit der Diskussion darüber, ob Deutschland ein Einwanderungsland sei und wenn ja, wie viele und welche Migranten dazu gehören könnten, damit Deutschland noch Deutschland bleibe? Es war recht deutlich zu erkennen, dass diese Lesart von Identität, Kultur, Nation von einer Logik geleitet wurde, wonach diejenigen, die später dazugekommen sind, sich an die Fiktion eines alten, etablierten und homogenen Gefüges anzupassen hatten.

In Gegenposition dazu sollte das Präfix post- nicht nur die ewige Frage nach dem Einwanderungsland mit Ja beantworten, sondern gleichsam ein affirmatives Ausrufezeichen dafür sein, dass das ganze Land, und somit auch seine »Eingesessenen«, seine Sprache, Kultur und Politik, sich nach der Migration veränderten – und nicht nur die Eingewanderten. Nach der Migration und über die Migration hinaus entsteht ein neuer persönlicher, gesellschaftlicher, politischer, rechtlicher und kultureller Beziehungszusammenhang, den wir heute Deutschland nennen und morgen auch, selbst wenn die Menschen, die in diesem Morgen leben, anders aussehen und heißen, als es im Gestern üblich war. Das Postmigrantische forderte reale gesellschaftliche Veränderungen über das Symbolische hinaus. Das Versprechen des Grundgesetzes, in dem mit Artikel 3 allen Menschen dieses Landes Gleichheit versprochen wird, sollte empirisch umgesetzt werden, aus dem Moralischen heraus ins Politische treten und Gleichberechtigung für einen großen Teil der migrantischen Bevölkerung schaffen. Denn nach Jahrzehnten der Einwanderung waren viele immer noch von höherer Armut, geringeren Löhnen, weniger Bildungsaufstiegen, schlechteren Wohnungen und mehr Diskriminierung im Alltag betroffen.

Während sich dieses postmigrantische Deutschland in den 2010er Jahren formulierte und formte, wurde die damit einhergehende produktive Aushandlung und wer dabei mitsprechen darf, aktiv angegriffen. Nicht allein diskursiv, wie oben beschrieben, sondern auch objektiv und todbringend – mit beinahe 50 rassistischen Morden, die sich in dieses antagonistische Jahrzehnt mit eingeschrieben haben.

Die Polarisierung der 2010er Jahre entstand nicht nur durch die Gleichzeitigkeit einer produktiven Neudefinition der deutschen Einwanderungsgesellschaft und den Widerständen dagegen. Tatsächlich hatte es auch schon in den 1990er Jahren rassistische Morde in Deutschland gegeben und die integrationspolitischen Zugeständnisse der 2000er hatten zu jenem offensiven Backlash geführt, der sich in Sarrazins Buch Deutschland schafft sich ab als einem der meistverkauften Bücher seit dem Zweiten Weltkrieg dokumentiert. Der Unterschied zwischen den Nuller- und den Zehnerjahren lag allerdings darin, dass in den Zehnerjahren migrantische Agency »von« Eingewanderten und ihren Nachkommen proaktiv einleitete und formulierte, was das »Neue Deutschland« ausmachen sollte, während das Jahrzehnt nach dem Millennium noch eines der Benevolenz und Reaktanz war, in dem vor allem »für« Migranten gedacht und gehandelt wurde.

Das Millennium hatte mit einem Schock begonnen: Der 11. September 2001 hatte das Vertrauen in die eigene Verteidigungskraft des Westens erschüttert und auch in Deutschland zu einer sicherheitspolitischen Verschärfung geführt. Vor allem Muslime wurden durch die Sicherheitspakete des damaligen Innenministers Otto Schily, durch Rasterfahndungen und Racial Profiling in eine Position des Dauerverdachts und des kollektiven, symbolischen und sozialen Ausschlusses gebracht. Nicht, dass es zuvor eine besondere Zuneigung zu dieser Gruppe gegeben hätte: Ausländerliebe als Wort hatte in Deutschland auch vorher nicht existiert, im Gegensatz zu seinem Antonym. Aber nach fünf Jahren verschärfter antimuslimischer Sicherheitspolitik auf internationaler Ebene und dem Schrecken des »Homegrown Terrorism« in England, Holland und Frankreich dämmerte dem damaligen Innenminister Wolfgang Schäuble, dass er den Beobachtungen zu einer sich entfremdenden zweiten Generation muslimischer Eingewanderter etwas entgegensetzen musste. Mit der Deutschen Islamkonferenz 2005 und seiner Aussage »Der Islam gehört zu Deutschland«[1]  leitete er eine politische Kehrtwende ein. Der Diskurs über die Zugehörigkeit des Islam zu Deutschland dominierte allerdings weiterhin Fragen nach nationaler Identität und Zugehörigkeit. Angela Merkel folgte Schäubles Annäherungspolitik gegenüber der migrantischen Bevölkerung in Deutschland ein Jahr später mit dem ersten Deutschen Integrationsgipfel. Die neue Linie der Nullerjahre hieß »Integration ist keine Einbahnstraße«, und in hoch dynamischen Etappen begannen die Aushandlungen darüber, was dieser Aussage in der Realität folgen sollte.

Kurze Erinnerung an die neuere Migrationsgeschichte


Der Migrationshistoriker Klaus Bade kommentierte damals lakonisch, dass nun in wenigen Jahren das nachgeholt werden sollte, was in den 50 Jahren zuvor versäumt worden war. Tatsächlich war sein Vorwurf der verschlafenen Integrationspolitik...

Erscheint lt. Verlag 19.6.2023
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte AfD • Alltag • Almans • BIM • DeZIM • Einwanderungsland • Essays • Feminismus • Flucht • Flüchtlinge • gesellschaftliche Prozesse • Gleichheit • Identität • Islam • Juden • Kopftuch • Migranten • Migration • Migrationsforschung • Migrationspolitik • Muslime • Pluralismus • postmigrantisch • Repräsentation • Sarrazin • Selbstverständnis • Soziologisch • Zugehörigkeit
ISBN-10 3-8412-3262-0 / 3841232620
ISBN-13 978-3-8412-3262-5 / 9783841232625
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