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"Wir waren glücklich hier" (eBook)

Afghanistan nach dem Sieg der Taliban - Ein Roadtrip - Ein SPIEGEL-Buch / mit 16-seitigem Bildteil
eBook Download: EPUB
2023
336 Seiten
Deutsche Verlags-Anstalt
978-3-641-29747-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

"Wir waren glücklich hier" - Christoph Reuter
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Unterwegs ins Ungewisse: Die packende Afghanistan-Reportage vom ausgezeichneten Kriegsreporter - mit 16-seitigem Bildteil
»Die Taliban haben über ihr Kampfethos und ihre Kontrollbesessenheit hinaus keine konkreten Vorstellungen. Afghanistan ist eine Art Nordkorea mit Bart und Höflichkeitsanspruch, aber ohne Plan.« Christoph Reuter

Seit zwanzig Jahren berichtet SPIEGEL-Korrespondent Christoph Reuter aus Afghanistan, kaum ein anderer Reporter kennt das Land so gut wie er. Reuter war bis Mitte Juli 2021 in Kabul, kam nach der Machtübernahme der Taliban zurück, blieb als die westlichen Helfer, Soldaten und Journalisten überstürzt abflogen. Mehr noch: Er beschloss, bis in Regionen zu reisen, in die Landesfremde mitunter seit Jahrzehnten keinen Fuß setzen durften. Die Geschichten, die er mitgebracht hat, erzählen von dramatischen Veränderungen, von überforderten Taliban und Menschen, die alles verloren haben und ihr Land trotzdem nicht aufgeben wollen.

Christoph Reuter, geboren 1968, gehört regelmäßig zu den letzten westlichen Journalisten, die aus den Krisenregionen der arabischen Welt wie Syrien, dem Nordirak oder Afghanistan berichten. Der studierte Islamwissenschaftler spricht fließend Arabisch und arbeitete für »Die Zeit« und den »Stern«, seit 2011 schreibt er als Korrespondent für den SPIEGEL. Neben zahlreichen preisgekrönten Reportagen veröffentlichte Christoph Reuter u. a. die Bücher »Mein Leben ist eine Waffe« (2002) über Selbstmordattentäter und, gemeinsam mit Susanne Fischer, »Café Bagdad« (2004) über den Alltag im umkämpften Irak. Für seine Recherchen über den »Islamischen Staat« wurde er u. a. als »Reporter des Jahres« ausgezeichnet, sein Bestseller »Die schwarze Macht. Der ?Islamische Staat? und die Strategen des Terrors« (2015) gewann den NDR Kultur Sachbuchpreis als bestes Sachbuch des Jahres. Für seine Berichterstattung aus dem Krieg in der Ukraine erhielt Christoph Reuter 2022 den Hanns-Joachim-Friedrichs-Preis für Fernsehjournalismus.

KAPITEL 1


Schmachtende Blicke, entsicherte Gewehre im neuen »Emirat Afghanistan«


Von Mazar-e Scharif bis Kabul; September 2021

Die Sonne ging langsam unter im Schilf über dem breit und ruhig dahinfließenden Amudarja. In einer halben Stunde würden die usbekischen Grenzer ihren Posten schließen. Es war ruhig, außer uns war niemand mehr gekommen am frühen Abend des 3. September 2021. Keine Schlange von Einreisenden markierte den Weg, erst eine müde Grenzerin musste uns zeigen, wo wir uns anstellen sollten. Ein paar Meter noch über sommerdürres Gras, dort wartete vor der Brücke der Fahrer eines Kleinbusses und freute sich über zwei letzte Passagiere.

Dann begann die 800 Meter lange Fahrt über die »Brücke der Freundschaft« des großen, sonst belebten Grenzübergangs Hairatan ganz im Norden Afghanistans. Jetzt lag er beinahe verlassen da. Die Brücke war einst gebaut worden von der Sowjetarmee, deren letzter Weg beim Abzug 1989 hier entlanggeführt hatte. Als Allerletzter hatte Generalleutnant Boris Wsewolodowitsch Gromow ihre nördliche Hälfte zu Fuß überquert. Monate später war die Berliner Mauer gefallen, die Sowjetunion implodiert, Afghanistan in Vergessenheit geraten, von den Bürgerkriegsmilizen zerlegt, von den Taliban erobert, 2001 verloren und nun abermals erobert worden.

Unser Kleinbus rollte vorbei an einigen usbekischen Soldaten, dann weiter über die menschenleere Mitte der Brücke, auf der einige verlassene Fahrzeuge den Fahrer zum Slalomkurs nötigten. Es war ein vollkommen legaler Grenzübertritt, ich hatte ein gültiges Visum, wenn auch ausgestellt von der just untergegangenen Republik Afghanistan. Aber ein jähes flaues Gefühl durchzog mich. 19 Jahre lang, seit ich das erste Mal in Afghanistan gewesen war, bedeutete eine Begegnung mit den Taliban wahlweise Lebensgefahr und Entführung oder zumindest eine mühsam verhandelte, konspirative Begegnung, deren Ausgang nie sicher war.

Doch nun war die Begegnung unausweichlich.

Und da standen sie: langbärtig und vor allem langhaarig, manche mit üppigen Locken, bewaffnet und lächelnd. Am Brückengeländer lehnten zwei junge Kämpfer und fotografierten sich gegenseitig im Sonnenuntergang, als sie uns vorbeirollen sahen. Einer schaute herüber mit Augenaufschlag und einem breiten, schmachtenden Lächeln. Eine jähe Geste, als seien wir die erwarteten Gäste einer frivolen Party. Es war absurd.

An der Grenzstation Hairatan warteten zwei LKWs auf Abfertigung. Die Gebäude waren beim Kollaps der alten Regierung fast gänzlich intakt geblieben. Nur das Glas einer Zwischentür war gesplittert. In der Passstube residierte ein stämmiger Kämpfer mit regloser Miene und fast schulterlangem, gescheiteltem Haar, das nach vorn in zwei Spitzen auslief, ungefähr im Stil einer Doris-Day-Perücke. Auf dem Kopf saß die strassbesetzte Kappe im paschtunischen Stil, darüber trug der Mann noch eine Oakley-Sonnenbrille. Gemächlich blätterte er durch die Pässe, trug die Daten eines Lastwagens in eine große Kladde ein, ließ sich Namen und Geburtsorte der Journalisten vorlesen.

Mein Visum für den Grenzübertritt war vom Personal der afghanischen Botschaft in Dubai ausgestellt worden, das sich noch der untergegangenen Republik Afghanistan verpflichtet fühlte. Auch der Einreisestempel war noch ohne Hoheitsabzeichen der Islamisten. Das störte niemanden.

Einer der Männer führte uns zum Röntgengerät für das Gepäck, wo allerdings niemand ernsthaft auf den Monitor schaute, auch durchsucht wurde hier nichts. »Können wir Ihre Taschen tragen?«, fragte stattdessen der Kämpfer. Bis auf den Chef mit dem Stempel und der Sonnenbrille waren alle sehr jung, unsicher, verhielten sich bemüht zuvorkommend. Als stünde man an der Rezeption eines verstaubten Grandhotels, dessen Personal die bedauernswerten Umstände durch größere Servicebemühungen wettmachen wollte.

Das nun war die neue Taliban-Herrschaft. Tage zuvor in Kabul waren noch Tausende, manchmal Zehntausende gegen die Mauern und Stacheldrahtrollen rund um den Flughafen angerannt, waren manche niedergetrampelt, angeschossen, verprügelt worden, um die 170 Verzweifelte draußen, 13 US-Marines und zwei britische Soldaten drinnen ums Leben gekommen beim Selbstmordanschlag des »Islamischen Staates«. Der Kreislauf der Angst, der Bilder und Nachrichten von der Angst, die noch größer werdende Panik der Zurückgebliebenen hatten die Lage wie einen Strudel der Apokalypse aussehen lassen.

Dann hatten die Taliban am 31. August auch den Flughafen übernommen, mit der letzten abhebenden amerikanischen Maschine Minuten vor Mitternacht hatten sich die Tore geschlossen, und nun?

Wir waren mit unserer Einreise nicht ins vollkommen Ungewisse gestolpert. Ein paar Kollegen, Kanadier, Schweizer, Australier, US-Amerikaner, waren unbehelligt in Kabul geblieben, die ganze Zeit. Andere hatten die Route über Usbekistan schon ein, zwei Tage vor uns genommen. Um jetzt einreisen zu können, musste man erst in die usbekische Hauptstadt Taschkent fliegen, konnte dann den Expresszug nach Samarkand nehmen und für die letzten fünf Stunden Fahrt ein Taxi. Alles sei ruhig, antworteten die vorgefahrenen Kollegen auf unsere Fragen. Die Taliban hatten Journalisten aus der Kategorie ungläubige Ausländer in die Kategorie offiziell willkommene Gäste gesteckt, insofern galten unsere Erfahrungen nicht unbedingt für den Rest des Volkes.

Dennoch: Was wir sahen und sehen würden in den nächsten Tagen, Wochen, war nicht das Grauen eines Rachefeldzugs – sondern die allgegenwärtige Angst davor, dass er noch kommen werde.

Der unwirkliche Empfang am Grenzposten blieb keine Ausnahme. Am Ausgang des Geländes saß ein Kämpfer mit schwarzem Turban auf einem Bürostuhl und nickte den Vorbeigehenden zu. Dahinter wartete das Taxi. Viele Geschäfte im Ort Hairatan waren geschlossen. Kinder spielten auf den Straßen, Frauen waren kaum zu sehen. An einem Checkpoint stand ein Humvee, einer jener klobigen, breiten Geländewagen, mit denen amerikanische Soldaten seit 2002 in Afghanistan unterwegs gewesen waren. Später hatte die afghanische Armee sie bekommen, und nun hatten die Taliban sie übernommen. So stand der Humvee nun da, mit Bordkanone und mit Sprühdose aufgetragener Flecktarnmusterung. Die Posten mit AK-47-Gewehren wirkten ratlos, was sie von den ausländischen Journalisten halten sollten, winkten das Taxi einfach weiter.

Die Straße nach Mazar-e Scharif führte durch Dünenlandschaft, an vielen Stellen blockierten Sandwehen die halbe Straße. Die viertgrößte Stadt Afghanistans war innerhalb eines Tages fast kampflos an die Taliban gefallen, ein ganzes Armeecorps hatte nach vorherigen Verhandlungen kapituliert. Vielleicht erklärte das die momentane Milde der neuen Machthaber: Nicht mal die Mosaike ihres Erzfeinds Ahmad Schah Massud an den Kreisverkehren hatten sie bislang zerstört oder übermalt. Massud hatte während der ersten Taliban-Herrschaft in den 1990er-Jahren erfolgreich seine Heimat, das Pandschschir-Tal, ja den ganzen Nordosten Afghanistans gegen deren anrückende Truppen verteidigt. Zwei Tage vor den Terrorangriffen vom 11. September 2001 war er von zwei Selbstmordattentätern von al-Qaida umgebracht worden, was ihn vollends zum Helden aller Gegner der Taliban gemacht hatte. Nun schaute sein Abbild, lächelnd wie stets, auf deren Rückkehr.

Im siebengeschossigen Hotel Ghazanfar wirkte die doppelte Sicherheitsschleuse vor dem Eingang obsolet, waren die einstigen Bombenleger doch nun selbst die Regierung. Die Rezeptionistin, die hier im Juli noch gearbeitet hatte, war verschwunden. Der Rezeptionist fragte, ob man ihn nach Deutschland mitnehmen könne. Wenn nicht jetzt, dann vielleicht auf dem Rückweg?

Kaum in den Zimmern angekommen, krachte minutenlang Gewehrfeuer in den Himmel. Warum die Taliban in die Luft schossen, blieb unklar. Erst kursierte das Gerücht, die letzte Widerstandsbastion im Pandschschir-Tal sei gefallen. Was nicht stimmte. Dann hieß es, die Ernennung der neuen Regierung werde gefeiert. Doch auch die war noch nicht einberufen.

Warum auch immer, die Taliban schossen begeistert selbst mit schwerem Kaliber in den Nachthimmel, in Mazar, Kabul und anderen Städten. Allein ins Emergency Hospital in Kabul wurden nach Angaben der dortigen Ärzte 17 Tote, etwa 40 Verletzte eingeliefert, die von den herabregnenden Geschossen des Freudenfeuers getroffen worden waren.

Nach den Schüssen wurde es still in Mazar-e Scharif. Rund um die berühmte Blaue Moschee, wo sonst im Sommer die Menschen in der Abendkühle flanierten, war es leer. Der Wirt einer Hähnchenbude verweigerte einen Tisch, beim Kebab-Stand um die Ecke war es genauso. Im Emirat war die Sperrstunde angebrochen. Männer mit langen Holzknüppeln gingen durch die Straßen, sagten nichts, ignorierten uns Ausländer.

Noch vor Sonnenaufgang ging es weiter nach Süden, durch die leere Stadt, einen kleinen Umweg nehmend über das außerhalb gelegene Westtor, wo Anfang Juli das Erscheinen eines einzelnen Taliban-Kämpfers die ganze Stadt in Angst versetzt hatte. Jetzt standen dort zwei, schauten kurz in die Autos, winkten uns und alle weiter. Nach einer Viertelstunde begann die Reise durchs Unbekannte. Denn das Land jenseits des Westtors, die Provinz Baghlan und die Berge nördlich vom Salang-Tunnel, Afghanistans wichtigste Nord-Süd-Verbindung, waren seit Jahren, ja anderthalb Jahrzehnten für Westler zu gefährlich gewesen, um dort mit dem Auto durchzufahren. Wer nach Mazar kommen wollte, nahm das Flugzeug, auch viele Afghanen taten es. Soldaten sowieso,...

Erscheint lt. Verlag 12.4.2023
Zusatzinfo farbige Abbildungen / 16 Seiten Farbbildteil / Vorsatzkarte
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte 2023 • Armut • Außenpolitik • Bundeswehr • Bürgerkrieg • Dürre • eBooks • Emirat • Entwicklungshilfe • Flüchtlinge • Frauenrechte • Hanns-Joachim-Friedrichs-Preis • Hunger • Islamischer Staat • Islamismus • Kabul • Kandahar • Neuerscheinung • Reisebericht
ISBN-10 3-641-29747-8 / 3641297478
ISBN-13 978-3-641-29747-3 / 9783641297473
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