Arbeite doch, wo du willst! (eBook)
272 Seiten
Penguin Verlag
978-3-641-29634-6 (ISBN)
Arbeiten, von wo man will - seit Neuestem ist das möglich. Ob Coworking-Space im alten Fachwerkhäuschen, umgebauter Van oder stylische Holzhütte im Nirgendwo, die Immobilienwirtschaft hat schon eine passende Bezeichnung gefunden: 'the third place' - der dritte Ort. Immer mehr Menschen schaffen sich eine Alternative zu Büro und Homeoffice und probieren alternative Konzepte aus. Verena Töpper und ihre Familie waren Teil des 'Summer of Pioneers', einem Programm, das Großstädtern ein Probewohnen auf dem Land ermöglichte. Dabei hat sie viele Gleichgesinnte getroffen, die mittlerweile ortsunabhängig arbeiten und das Büro ihrer Träume gefunden haben - und zwar in allen Teilen Deutschlands. Hier stellt sie einige von ihnen vor. Welche individuellen Lösungen gibt es, wo finde ich Remote-Work-Angebote in Urlaubsregionen, wie organisiere ich eine Workation und was mache ich, wenn mein Arbeitgeber keine Flexibilität erlaubt? Neben inspirierenden Porträts gibt es viele praktische Tipps und Adressen, spannende Experten-Interviews und einen Selbsttest: Welcher Arbeitsort passt zu mir?
Mit Bildteil
Verena Töpper, geboren 1982, studierte Publizistik, Amerikanistik und Filmwissenschaft in Mainz, Wien und Washington D.C. und besuchte die Axel-Springer-Akademie. Seit 2011 arbeitet sie als Redakteurin beim SPIEGEL in den Ressorts Karriere und Bildung, für die sie u.a. aus Kenia, den USA und Australien berichtet hat. Zusammen mit Kristin Haug veröffentlichte sie »Mittagspause auf dem Mekong. Auswanderer über ihr neues Leben in 28 Ländern«.
Coworking in Brandenburg
Elbblick für sechs Euro
den Quadratmeter
Katja Evertz, 40, hat immer ein Foto von der Aussicht aus ihrem Büro auf dem Handy dabei: oben blauer Himmel, unten blauer Fluss. 160 Kilometer weiter flussabwärts werden für eine solche Aussicht auf die Elbe Mietpreise von mehr als 20 Euro pro Quadratmeter verlangt – plus Nebenkosten. In Hamburg könnten sie und ihr Mann sich so ein Büro nicht leisten. In Wittenberge zahlen sie dafür nur sechs Euro pro Quadratmeter.
Katja Evertz ist in der Prignitz aufgewachsen, dem äußersten Nordwesten Brandenburgs, dem der SPIEGEL mal einen Artikel widmete, weil dort der am wenigsten fotografierte Ort Deutschlands zu finden ist. Der SPIEGEL hatte damals Fotos von Flickr-Nutzern ausgewertet. 1994 lebten im Landkreis Prignitz knapp 103 000 Menschen. Heute sind es gerade mal noch 76 000.
Wie so viele andere verließ auch Evertz die Gegend nach dem Abitur. Für das Studium zog sie nach Leipzig, nach dem Abschluss wurde sie Onlineredakteurin in einer Kommunikationsagentur. Sie lebte in Kalifornien und in der Schweiz, in Köln, Darmstadt und Frankfurt am Main, betreute den Social-Media-Auftritt der Uni St. Gallen und den Start der Bundes-Alarm-App Nina. Dann hörten sie und ihr Mann vom »Summer of Pioneers«, der Großstädter*innen dazu einlud, für sechs Monate das Leben auf dem Land zu testen – und die beiden tauschten Frankfurt am Main gegen Wittenberge.
»Mal gucken, wie wir die Stadt auf den Kopf stellen. Oder sie uns«, hatte Adriana Osanu, eine Architektin aus Berlin, zum Projektstart im August 2019 dem SPIEGEL gesagt. Vier Jahre später ist klar: Sie und ihre Mitstreiter*innen haben Wittenberge tatsächlich verändert.
»Damals war unser großes Thema: Wie halten wir die Menschen hier? Und jetzt kommen ständig neue Leute mit neuen Ideen in die Stadt. Das ist schon erstaunlich und sehr erfreulich«, sagt Martin Hahn, Leiter des Bauamts in Wittenberge. »Die Stadt hat jetzt ein so positives Image – hätten wir das mit Marketingmaßnahmen erreichen wollen, das hätten wir gar nicht bezahlen können.«
Mit dem Landleben-Test für Großstädter*innen hatte es Wittenberge 2019 bundesweit in die Medien geschafft, sogar die BBC berichtete. Endlich ging es mal nicht um sterbende Landstriche, Abwanderung oder rechte Gewalt, sondern um Chancen und Aufbruchstimmung. Genau das habe auch sie angezogen, sagt Stefan Evertz: »Es gibt hier viele Leute, die Dinge möglich machen wollen.«
Seiner Frau Katja und ihm gefiel es so gut in der Prignitz, dass sie ihre Jobs in Frankfurt gekündigt und sich in Wittenberge mit einer Kommunikationsagentur selbstständig gemacht haben. Nun planen und moderieren sie Events für Unternehmen aus ganz Deutschland und bieten Onlinekurse für Social-Media-Manager*innen an – aus ihren Räumen am Hafen in Wittenberge.
Dass sie mitunter große Datenmengen bewegen müssen, sei kein Problem, sagt Stefan Evertz. »Das Internet hier ist superschnell.« Klar, jeden Abend in einem anderen Restaurant essen zu gehen, das sei in Wittenberge kaum möglich. Und auch ein Auto brauche man schon, um von A nach B zu kommen, sagt er. Aber: »Ich vermisse nichts aus der Großstadt.«
Zu der von ehemaligen Teilnehmer*innen des »Summer of Pioneers« gegründeten Community der »Elblandwerker« gehören mittlerweile mehr als 130 Menschen, die in Wittenberge und Umgebung leben oder vorhaben, dort hinzuziehen. Sie treffen sich zum gemeinsamen Arbeiten im Coworking-Space, zu Filmvorführungen und Lesungen – oder auch zur Gartenarbeit, wie an diesem Nachmittag, an dem Adriana Osanu und ihre Mitstreiter*innen zum »Safari Subotnik« mit anschließendem Grillfest eingeladen haben.
Aus dem Ladenlokal »Safari«, das der SPIEGEL noch 2019 mit den Worten »heruntergekommen, zugemüllt, die Wände gestrichen in einem fiesen Grün« beschrieben hat, ist mittlerweile ein kleines Kulturzentrum geworden, der »Stadtsalon Safari«. Die Inneneinrichtung erinnert jetzt an ein Hipster-Café in Berlin: knallbunte Wände, Stühle und Couchtischchen im Stil der Sechzigerjahre, ein antikes Radio und alte Koffer als Deko.
Ein Foto an einer Pinnwand zeugt noch davon, wie der Hinterhof 2019 aussah: Das Gestrüpp war dort so hoch und dicht, dass er kaum betreten werden konnte. Nun gibt es im Innenhof eine Terrasse mit Gartenhütte und Grill, aber das Unkraut wuchert schon wieder; deshalb die Einladung zum »Subotnik«, so nannte man in der DDR unbezahlte, mehr oder weniger freiwillige Arbeitseinsätze.
Zwölf »Elblandwerker*innen« sind gekommen. Die einen jäten, die anderen bauen ein Hochbeet. Es wird gepflanzt und gelacht, später auch gegrillt und mit Sekt gefeiert, denn der »Stadtsalon Safari« ist jetzt ein eingetragener, als gemeinnützig anerkannter Verein. Zwei Jahre haben Adriana Osanu und ihre zwei Mitstreiter*innen dafür gekämpft. Nun haben sie große Pläne: Sie wollen noch mehr leer stehende Räume in der Stadt in Begegnungsorte vor allem für Jugendliche verwandeln.
Probewohnen für 125 Euro die Woche
Plötzlich steht eine junge Frau in der Tür zum Hinterhof, mit einem Baby in der Trage und einem verlegen guckenden Freund im Schlepptau. »Hallo, wir sind gerade mit dem Zug aus Berlin angekommen«, sagt sie und lächelt schüchtern. »Schön, euch alle mal in echt zu sehen.«
Eine Woche lang will die kleine Familie das Leben in Wittenberge testen. Die »Elblandwerker« halten dafür eine Zweizimmerwohnung und zwei WG-Zimmer bereit, 125 beziehungsweise 175 Euro kostet die Wochenmiete, inklusive Arbeitsplatz im Coworking-Space. Die sogenannten »Community«-Wohnungen sind ein weiteres Überbleibsel des »Summer of Pioneers« – und nun für viele Wochen im Jahr ausgebucht.
Auf Instagram und Facebook verfolge sie alle Aktivitäten der »Safari«-Crew, sagt die junge Berlinerin. Sogar den Namen der Zwergpudelhündin, die zwischen den Biertischen herumflitzt, kennt sie schon: Erna. Deren Besitzerin und drei andere aus der Runde springen sofort auf, um Stühle, Teller, Gläser und Besteck für die Neuankömmlinge zu holen.
Wer aus der Großstadt nach Wittenberge zieht, kriegt den Freundeskreis und die Businessnetzwerke gleich mitgeliefert – das ist das unausgesprochene Versprechen der »Elblandwerker*innen«. Sie verbindet der Traum vom städtischen Leben auf dem Land. Ein Traum, den auch viele Prignitzer teilen. Marie Sirrenberg ist eine von ihnen.
Sirrenberg, 30, stammt aus einem Nachbarort von Wittenberge, sie hat in Berlin Business Administration und Internationales Marketing studiert und danach für verschiedene Start-ups gearbeitet. Jahrelang pendelte sie zur Arbeit in die Hauptstadt, bis zu vier Stunden am Tag war sie unterwegs. »Ich war so froh, als ich endlich einen Job ohne Präsenzpflicht gefunden hatte«, sagt sie. »Aber dann saß ich auf einmal den ganzen Tag allein zu Hause und war auch unglücklich. Ich bin ein kommunikativer Mensch, mir hat das Zwischenmenschliche gefehlt.«
Der 2019 für den »Summer of Pioneers« eröffnete Coworking-Space in der Alten Ölmühle von Wittenberge bot ihr genau das, was sie suchte: einen Arbeitsplatz mit schnellem Internet und Kontakt zu anderen.
Der Coworking-Space ist nun in ein unscheinbares Flachdachgebäude im Industriegebiet gezogen. Sirrenberg arbeitet trotzdem noch gern dort. An den meisten Tagen seien dort drei bis sechs der 15 Schreibtische belegt, sagt sie. Und in spätestens zwei Jahren soll der Coworking-Space in das Bahnhofsgebäude ziehen, das die Stadt Wittenberge gerade für 18 Millionen Euro umbaut. Auch das Technologie- und Gewerbezentrum soll in den denkmalgeschützten Bahnhof, drum herum soll »ein Mobilitätsknoten« entstehen – wenn alles gut läuft bis 2025.
Sirrenberg findet das »eine absehbare Zeit«. Sie glaubt an die Zukunft der Stadt. Erst vor Kurzem habe sie über das »Elblandwerker«-Netzwerk eine ehemalige Mitschülerin wiedergetroffen, die sie ganz aus den Augen verloren hatte, erzählt sie. »Ich kenne jetzt einige, die aus Magdeburg, Hamburg oder Berlin wieder zurück in die Prignitz ziehen.«
Die zweifache Mutter hat sich einer Baugruppe angeschlossen, die in Wittenberge auf einem freien Grundstück in Nähe der Elbe Häuser mit insgesamt zwölf Wohnungen bauen will. 14 Mitstreiter*innen sind sie derzeit, eine davon ist Wiebke Lemme, die Architektin, die die Häuser entworfen hat. Die Baugenehmigung haben sie schon, im Herbst 2024 soll das Haus fertig sein.
Drei Wohnungstypen hat die Architektin geplant. Die günstigste ist 70 Quadratmeter groß und kostet voraussichtlich 225 000 Euro. Ein angemessener Preis, findet Sirrenberg: »Ich kenne viele Leute, die gerade bauen und von denen kommt keiner unter 300 000 Euro raus. Alte Häuser bekommt man vielleicht günstiger, aber die müssen dann auch erst mal für viel Geld kernsaniert werden.« Zudem sei die Lage des Grundstücks unschlagbar. »Wenn die Wohnungen schon fertig wären, würden sich die Menschen darum reißen«, ist sie sich sicher.
Wird Wittenberge das neue Prenzlberg?
Tatsächlich beobachtet auch Bauamtsleiter Hahn schon eine Erhöhung des Mietspiegels. Droht Wittenberge jetzt das gleiche Schicksal wie Prenzlauer Berg oder Neukölln – einst heruntergekommene und dann hip gewordene Stadtteile, in denen die Mieten innerhalb weniger Jahre in solche Höhen gestiegen sind, dass den Einheimischen nur noch die Flucht bleibt?
Einige »Elblandwerker*innen« befürchten genau das. Wittenberge habe das Potenzial, zu einem Vorort Berlins und Hamburgs zu werden, sagt Politikwissenschaftler Dominik Seele. »Von Spandau brauche ich länger nach Neukölln als...
Erscheint lt. Verlag | 16.8.2023 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | 2023 • Alternative Lebensentwürfe • alternative Wohnkonzepte • aussteigen • Aussteiger Dorf • Corona • Co-Working • digitale Nomaden • Dritter Ort • eBooks • Entschleunigung • Great Good Place • Homeoffice • Landleben • Nachhaltigkeit • Neuerscheinung • Soziologie • Spiegel Online • Stadtflucht • Summer of Pioneers • third place • Tiny Office • Wirtschaft • Workation |
ISBN-10 | 3-641-29634-X / 364129634X |
ISBN-13 | 978-3-641-29634-6 / 9783641296346 |
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