Menschenversteher (eBook)
256 Seiten
Verlagsgruppe Droemer Knaur
978-3-426-46549-3 (ISBN)
Kenza Ait Si Abbou wurde 1981 in Marokko geboren. Ihr Abitur im Spezialzweig 'Wissenschaft' schloss sie 1999 in Fès/Marokko ab. Anschließend studierte sie in Valencia und Barcelona Elektrotechnik und Telekommunikation. 2009 schloss sie den Masterstudiengang in Berlin ab. Von 2011 bis 2021 war sie für die Deutsche Telekom tätig, seit 2018 als Senior Managerin für Robotik und Künstliche Intelligenz. Seit 2021 ist sie bei IBM Deutschland für den Vertrieb von KI-Produkten zuständig. Für ihre Arbeit an der Schnittstelle zwischen Technik und Gesellschaftspolitik wurde sie mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Digital Female Leader Award. 2020 erschien ihr erstes Buch, der Spiegel-Bestseller 'Keine Panik, ist nur Technik' (GU). Kenza Ait Si Aboou ist verheiratet und lebt mit ihrer Familie in Berlin.
Kenza Ait Si Abbou wurde 1981 in Marokko geboren. Ihr Abitur im Spezialzweig "Wissenschaft" schloss sie 1999 in Fès/Marokko ab. Anschließend studierte sie in Valencia und Barcelona Elektrotechnik und Telekommunikation. 2009 schloss sie den Masterstudiengang in Berlin ab. Von 2011 bis 2021 war sie für die Deutsche Telekom tätig, seit 2018 als Senior Managerin für Robotik und Künstliche Intelligenz. Seit 2021 ist sie bei IBM Deutschland für den Vertrieb von KI-Produkten zuständig. Für ihre Arbeit an der Schnittstelle zwischen Technik und Gesellschaftspolitik wurde sie mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Digital Female Leader Award. 2020 erschien ihr erstes Buch, der Spiegel-Bestseller "Keine Panik, ist nur Technik" (GU). Kenza Ait Si Aboou ist verheiratet und lebt mit ihrer Familie in Berlin.
Wie neutral sind Emotionen?
Die Vermessung unserer Emotionen hat unweigerlich auch immer mit der Verschiedenartigkeit der Menschen zu tun. Wir empfinden Emotionen unterschiedlich intensiv, und natürlich drücken wir sie auch unterschiedlich aus. Jeder kennt in seinem Bekanntenkreis Menschen, die schnell weinen, viel lachen oder solche, die eher kühl erscheinen, weil sie sich in der Regel wenig anmerken lassen. Was uns im Alltag ganz schön beschäftigen kann, weil wir oft genug nicht wirklich wissen, wie wir das Gesicht unseres Gegenübers deuten sollen, beschäftigt und fasziniert gleichermaßen auch viele Psychologen.
Wie sehr wir bei Gesprächen mit anderen selbst kleinste Gesichtsbewegungen unbewusst wahrnehmen und wie stark das die Kommunikation und die gegenseitige Anteilnahme beeinflusst, das zeigte eine weitere erstaunliche Studie von David T. Neal and Tanya L. Chartrand, die sie 2011 in der Zeitschrift Social Psychological and Personality Science veröffentlichten. Neal und Chartrand gingen von der Erkenntnis früherer Studien aus, dass Paare, die über viele Jahre zusammenleben, sich immer ähnlicher sehen. Ihre Fragestellung war so einfach wie ungewöhnlich: Was passiert, wenn sich in solchen Beziehungen ein Partner Botox spritzen lässt?
Botox ist ein Nervengift, das dem Alterungsprozess der Haut und insbesondere der Faltenbildung dadurch entgegenwirkt, dass es Teile der Gesichtsmuskulatur lähmt. Es wirkt ein bisschen wie Narkose, mit dem Ergebnis, dass die Haut zwar glatter und jugendlicher wirkt, aber die Menschen auch weniger lächeln können. Diese Erkenntnis ist erst einmal wenig erstaunlich. Wir alle kennen Fotos aus Hochglanzmagazinen, bei denen die Gesichtszüge nicht mehr ganz so junger Celebritys merkwürdig erstarrt wirken. Überraschend ist aber, was mit der partiellen Gesichtslähmung einhergeht, und was wir daraus insgesamt über nonverbale Kommunikation und emotionale Intelligenz lernen.
In der Kommunikation nehmen wir nämlich nicht nur kleinste Gesichtsregungen wahr, wir ahmen sie auch unbewusst nach. Forscher wie David Eagleman versuchten das sogar mit einem sogenannten Elektromyogramm (EMG) zu messen. Damit sind selbst kleinste Veränderungen der Gesichtsmuskulatur erkennbar. Wurden Probanden zum Beispiel Bilder von lächelnden Personen vorgeführt, dann zeigte das EMG Bewegungen im Gesicht der Probanden, die diese Stimmung spiegelten. Es ist wie eine Art stilles Einverständnis, das wie von selbst abläuft. Wenn ich dich sehe und du lächelst, versucht meine Gesichtsmuskulatur, dein Gesicht nachzuahmen. Und wenn meine Muskulatur die deinige nachmacht und ich ebenfalls lächle, erkennt das mein Gehirn und liest aus der Mechanik meiner Gesichtsmuskeln, dass ich offenbar glücklich bin. Der Körper schüttet Glückshormone aus, wir fühlen uns glücklich.
Bei Leuten, die sich mit Botox behandeln ließen, ist demnach auch ein Teil der nonverbalen Kommunikation schwer eingeschränkt – mit einer weitreichenden Konsequenz. In ihrer Studie konnten Neal und Chartrand nachweisen, dass diese Menschen weniger Empathie empfinden können, eben weil sie Gefühlsregungen anderer in ihrem eigenen Gesicht kaum mehr nachahmen können. Mehr noch: Dadurch, dass sie weniger expressiv lächeln können, empfinden sie auch eigene Emotionen schwächer.
Diese Studie finde ich nicht zuletzt deshalb so bemerkenswert, weil sie deutlich macht: Wir zeigen Empathie, indem wir uns im Grunde an die Gesichtsausdrücke der anderen anpassen. Dahinter steckt die zutiefst menschliche Reaktion, Emotionen unseres Gegenübers zu spiegeln, um zum Beispiel Nähe und Einvernehmen zu signalisieren. Das macht die Natur automatisch, das können wir gar nicht so simpel steuern. Aber wir können es messen, zum Beispiel mithilfe von Maschinen mit besonders empfindlichen und hochauflösenden Kameras.
Dieser Forschungsansatz klingt wie ein faszinierend großer Schritt hin zur Entschlüsselung unserer Emotionen. Allerdings: Ganz so einfach ist es nicht. Hinter einem Lächeln kann eine nette oder eine böse Absicht stecken. Ohne Kontext ist es nicht als solches interpretierbar, schon gar nicht in unterschiedlichen Kulturen. Das sagt Lisa Feldman Barrett, Psychologin, Neurowissenschaftlerin und Disruptorin der Branche. In einer Studie aus dem Jahr 2019 warnt sie vor voreiligen Schlüssen aus Gesichtsregungen, die wir zu verstehen glauben. Um diese richtig einzuordnen, müssten vier Kriterien gegeben sein. Zum einen Verlässlichkeit: Ein finsteres Gesicht etwa tritt dann auf, wenn jemand verärgert ist. Außerdem Spezifizität: Ein finsteres Gesicht ist eher selten bei Menschen, die nicht ärgerlich sind. Weiter Verallgemeinerbarkeit: Ein bestimmter Gesichtsausdruck lässt sich nach den Kriterien Verlässlichkeit und Spezifizität bei mehreren Studien und in verschiedenen Bevölkerungsgruppen nachweisen. Schließlich Validität: Eine Person, die diesen Gesichtsausdruck zeigt, muss auch nachweislich im entsprechenden emotionalen Zustand sein.
Diese ziemlich hohen Kriterienhürden wendeten Feldman und ihr Team auf eine Vielzahl von Studien zum Thema an und kamen dabei zu dem Schluss, dass Emotionen, die wir gemeinhin im Gesicht ablesen zu können glauben, bei Weitem nicht so klar und eindeutig sind. Feldman behauptet gar, dass es bislang keinen Hinweis gebe, dass aus der Messung von Gesichtsmuskelbewegungen eine belastbare Form der Diagnostik abgeleitet werden könne. Und Feldman ist mit ihrer Kritik, dass es keine universelle Deutung von Emotionen geben könne, nicht allein. Auch andere Wissenschaftler*innen haben die Arbeit von Paul Ekman kritisiert. Sie werfen ihm vor, eine falsche Grundlage für die Deutung von Emotionen geliefert zu haben, die nun eine ganze Industrie mit offenen Armen übernommen hat. Kate Crawford, eine der anerkanntesten Forscherinnen zum Thema KI-Ethik, warnt in ihrem Buch Atlas of AI vor diesem Phänomen. In einem Artikel in The Altantic5, in dem sie die Arbeit von Ekman kritisiert, schreibt sie: »Es gibt keine belastbaren Beweise dafür, dass Gesichtsausdrücke die Gefühle einer Person offenbaren, aber große Tech-Unternehmen lassen es einen glauben.« Oder anders formuliert von Lisa Feldman auf The Verge6: »Unternehmen können sagen, was sie wollen, aber die Daten sind eindeutig. Man kann einen finsteren Blick erkennen, aber das ist nicht dasselbe, wie Wut zu erkennen.«
»Was für ein Jammer«, würden an dieser Stelle vermutlich viele sagen, die genau auf diese Diagnostik große Hoffnungen setzen, weil sich mit der Vermessung von Emotionen, wie wir später sehen werden, sehr viel Geld verdienen lässt – und in Zukunft noch weit mehr. Tatsächlich aber ist es wohl so, dass Feldmans kritischer Einwurf die Forschung eher angespornt hat, noch präziser zu versuchen, eine Kartografie der Emotionen anzustreben, wie wir Menschen sie in unserem Gesicht ausdrücken. Die Forschung daran jedenfalls geht unvermindert und mit enormen Mitteln weiter. Und sosehr ich Feldmans Einwände nachvollziehen kann, so sehr bin ich auch gespannt darauf, welche neuen Erkenntnisse wir dabei gewinnen werden.
Emotionen lesen zu können ist, wie schon gesagt, einerseits kulturell geprägt und damit von Land zu Land unterschiedlich. Aber es ist gleichzeitig auch eine anthropologische Konstante, etwas, das allen Menschen zu eigen ist, egal wo sie leben.
Ich bin in Marokko aufgewachsen. Und klar, in Afrika, im Mittelmeerraum – da läuft schon alles, was Emotionen angeht, anders als etwa in Nordeuropa. Die Klischees, dass die Leute dort viel warmherziger, lauter und empathischer sind, vielleicht zu emotional, die stimmen zu einem gewissen Teil. Für mich ist es zum Beispiel wichtig, Menschen anzufassen, wenn ich mit ihnen rede. In Marokko ist es so: Wenn man sich unterhält und sich gut versteht, dann wird viel gestikuliert, das Bein des Zuhörers berührt. Diese Nähe, die man durch Anfassen gewinnt, diese Art, Gefühle zu zeigen, ist dort ein unverzichtbarer Teil der Kommunikation. Idealerweise entsteht daraus der Eindruck, verstanden zu werden, ohne dass es dafür vieler Worte bräuchte. Mit dieser Art des zwischenmenschlichen Austausches bin ich aufgewachsen. In Deutschland musste ich mir das richtig abgewöhnen. Wenn man das hier im ICE mit einer zufälligen Reisebekanntschaft macht, kann das zu Missverständnissen führen, und die Person auf dem Nebensitz verfällt dann in eine Art Schockstarre. Wobei es ironischerweise in Marokko immer so ist, dass man mir vorhält, ich sei so wahnsinnig analytisch. Man hat mir immer gesagt: Du bist ja wie eine Deutsche. Pünktlich, korrekt. Ich weiß schon, ebenfalls Klischees. Aber so wurde ich dort wahrgenommen, vielleicht auch, weil ich Marokko mit achtzehn Jahren verlassen habe, in die Fremde ging und damit, wenn ich zurückkam, diese Fremde offenbar auch in mir trug in einem Verhalten, das Nordafrikaner eher als typisch europäisch wahrnehmen.
Ich habe gelernt, das als Geschenk und als Vorteil wahrzunehmen. In Wahrheit finde ich nämlich die Kombination aus beiden Welten ganz gut. Vielleicht gerade, weil eben auch zwei Herzen in mir schlagen. Einerseits das analytische, logische, strukturierte Denken, das ich mit einem Roboter verbinde. Andererseits das hoch emotionale afrikanische Kind, das in Marokko aufgewachsen ist und dann noch ein paar Jahre in Spanien gelebt hat.
Das spiegelt sich auch in meiner Arbeit, meiner Berufung. Mich fasziniert die Interaktion von Mensch und Maschine – der Brückenschlag zwischen zwei Welten, die sich in den letzten Jahren weit näher gekommen sind,...
Erscheint lt. Verlag | 1.3.2023 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | AI • Algorithmus • Artificial Intelligence • Automatisierung • Beziehung Mensch-Maschine • Big Data • BOT • Chatbots • ChatGPT • Computer • Data Mining • Data Science • Deep learning • digitale Transformation • Diversity • Emotionale Intelligenz • Emotionen • Emotion und Künstliche Intelligenz • Emotion und Technik • Ethik und Technikdesign • Ethik und Technikentwicklung • female empowerment • Gefühle • Gefühle erkennen • Gefühle interpretieren • Gefühle lesen • Gesichtserkennung • Ich war dein Mensch • Informatik • internet of things • KI • KI-Chatbot • Kundenservice • Künstliche Intelligenz • machine learning • Maria Schrader • Medizin • Neuronale Netze • OpenAI • Programmieren • Roboter • Technikentwicklung • Technologie • Telekommunikation • Text-KI • Turing-Test • Werbung |
ISBN-10 | 3-426-46549-3 / 3426465493 |
ISBN-13 | 978-3-426-46549-3 / 9783426465493 |
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