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Von Volkstümlern und Falschspielern (eBook)

Der Populismusvorwurf in Deutschland
eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
374 Seiten
Campus Verlag
978-3-593-45444-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Von Volkstümlern und Falschspielern -  Jan-Holm Sussieck
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Bereits seit über 40 Jahren ist der Vorwurf des Populismus ein beliebtes Mittel im demokratischen Schlagabtausch politischer Gegner. Anhand der empirischen Auswertung seines Einsatzes im Deutschen Bundestag geht Jan-Holm Sussieck der Frage nach, wer ihn wem gegenüber formuliert und analysiert seinen Inhalt und Zusammenhang. Die Annahme, vor allem Außenseiterparteien wie die AfD würden in dieser Form stigmatisiert, hält nicht stand. Zugleich deckt das in der aktuellen Politikwissenschaft vertretene Verständnis von Populismus, so die Erkenntnis, nur einen kleinen Teil dessen ab, was darunter verhandelt wird. Um seiner Verwendung in der politischen Praxis analytisch gerecht zu werden, schlägt der Autor vor, gerade auch die vielen alltäglichen Populismusvorwürfe innerhalb des politischen Mainstreams soziologisch ernstzunehmen.

Jan-Holm Sussieck, Soziologe und Politikwissenschaftler (M.A./M.Ed.), ist Studienrat am Gymnasium Lohne und Lehrbeauftragter an der Fakultät für Soziologie der Universität Bielefeld.

Jan-Holm Sussieck, Soziologe und Politikwissenschaftler (M.A./M.Ed.), ist Studienrat am Gymnasium Lohne und Lehrbeauftragter an der Fakultät für Soziologie der Universität Bielefeld.

Populismus in der soziologischen und politikwissenschaftlichen Forschung


Systematisierung des »Schillernden«


Der Forschungsstand zum Populismusbegriff beziehungsweise -konzept ist gleichermaßen durch Einheit und Vielfalt gekennzeichnet: Seine Einheit besteht in einer übergeordneten Perspektive auf den Gegenstand, die ich im vorherigen Kapitel als ›essentialistisch‹ bezeichnet habe. Erst innerhalb dieses (unausgesprochenen) Paradigmas findet man eine Varianz an Zugängen zum Thema, die folgende Aussage noch immer angemessen erscheinen lässt: »Where it has been dealt with systematically, populism as a concept has found little agreement surrounding it« (Taggart 2000: 10; dies mit berechtigten Einschränkungen, auf die zu sprechen zu kommen sein wird, auch für Gegenwart unterstützend, Lewandowsky 2022: 23). Denn auch in der wissenschaftlichen Debatte bringt sein »schillernde[r]« (z.B. Wielenga/Hartleb 2004: 7), nicht leicht und eindeutig zu fassender Charakter eine freilich kaum überraschende Vielfalt an definitorischen Merkmalen mit sich.

Populismus wird schon historisch und/oder weltregional in ausgesprochen zahlreichen Varianten und begrifflichen Zuschnitten verhandelt: Man denke z.B. an den bereits thematisierten US-amerikanischen agrarian populism oder die russischen Narodniki des 19. Jahrhunderts, die lateinamerikanischen sogenannten ›populistischen Regime‹ des 20. Jahrhunderts oder die Bewegungen und Parteien seit den 1990er Jahren in Europa, die häufig unter der Kategorie ›Rechtspopulismus‹ subsummiert werden. Es ist deshalb keine triviale Frage, ob sich Populismus überhaupt hinreichend abstrakt bestimmen lässt, sodass er all diesen Phänomenen ein einheitliches analytisch-semantisches Dach zu bieten hat: Pointiert stellt Paul Lucardie (2011) die Frage, ob die Täuferbewegung des 16. Jahrhunderts, die manchmal in der Literatur als ›protopopulistisch‹ bezeichnet wird, so vieles mit der Partij voor de Vrijheid des 21. Jahrhunderts gemeinsam habe, »dass man beide auf den Begriff des Populismus bringen könnte?« (S. 17). Und kann man das, was man als Populismus beobachten will, am besten als Politikstil, Ideologie, Doktrin, Regimetyp, Parteientyp, Syndrom oder Diskurspraxis fassen? Eher selten wird dabei überhaupt versucht, Definitionen und Typologien der bestehenden Literatur zu systematisieren (vgl. aber Priester 2011).

Mudde/Kaltwasser (2017) unterscheiden sechs Verständnisse von Populismus:

1. Populismus als – durchaus progressive – soziale Bewegung (hier gefasst als »popular agency approach«, der wesentlich auf die ›originäre‹ populistische Farmerbewegung in den USA des 19. Jahrhunderts abzielt); 2. Populismus als Mechanismus der Kollektivformation und Essenz der Politik schlechthin (siehe dazu genauer unten, Kapitel 2.2); 3. Populismus als ein spezifischer wirtschafts- und sozialpolitischer Ansatz (auf ein massives deficit spending folgt eine Hyperinflation); 4. Populismus als politische Strategie einer Führerfigur, die sich durch eine direkte und unvermittelte Ansprache Massenunterstützung sichern will; 5. Populismus als folkloristischer Stil (»disrespecting the dresscode and language manners«), der die Aufmerksamkeit der Medien zu maximieren ersucht und somit auf politische Unterstützung hofft (»political communication approach«); 6. Populismus als Set von bestimmten, angebbaren Ideologemen. (Einem solchen ideenbezogenen Ansatz hängen die Autoren selbst an, wie im Übrigen auch die meisten der neueren Arbeiten zum Populismus in dieser Kategorie zu verorten wären.)

Damit ist zwar ein hilfreicher erster Eindruck vermittelt – und der Fairness halber muss man berücksichtigen, dass genau dies mit der betreffenden Publikation erklärtermaßen beabsichtigt ist. Eine trennscharfe Abgrenzung der Zugänge untereinander ist bei näherer Betrachtung jedoch insofern nicht gegeben, als man sich etwa Punkt 5 als Ergänzung zu 4 vorstellen kann usw. Das ist weniger Versäumnis der Autoren, die dies auch selbst reflektieren (»various aspects are compatible with our own ideational approach«, S. 4), als Kennzeichen der Literaturlage selbst: Zahlreiche Populismusforscherinnen arbeiten mit mehrdimensionalen Versatzstücken, etwa primären und sekundären definitorischen Merkmalen (vgl. z.B. Decker 2011: 40 oder Lewandowsky 2010: 19), die sich nicht nur einem einzigen der von Mudde und Kaltwasser unterschiedenen Zugänge zuordnen lassen. Das lässt es mit Blick auf die hier verfolgten Erkenntnisinteressen vorteilhaft erscheinen, nicht Forschungszugänge als Ganze (oder ihnen zugeordnete Autoren) in den Blick zu nehmen, sondern stattdessen auf die Ebene einzelner, als charakteristisch für Populismus ausgemachter Merkmale zu schauen. Schließlich sind diese es, die sich eventuell bei der Analyse des politischen Gebrauchs wiederfinden beziehungsweise anderen Verwendungsweisen gegenüberstellen lassen22 (im Folgenden als nummerierte Subskripte dargestellt). Dies muss nicht schlicht als offene Liste erfolgen: Die in der Literatur teils prominent, teils singulär vertretenen, teils miteinander zu vereinbarenden, teils sich widersprechenden Merkmale lassen sich anhand zweier sogleich zu erläuternden Dimensionen kreuztabellieren23.

Einerseits unterscheiden sich Aufstellungen von Charakteristika des Populismus dahingehend, ob dieser über bestimmte inhaltliche Einstellungen, Aussagen, Programme usw. beschrieben werden kann oder aber ob diese eher als Variable zu betrachten seien und es stattdessen auf formale Aspekte ankomme, die als Indikatoren für Populismus herangezogen werden. Näherungsweise könnte man die Unterscheidung auch als ›was?‹ vs. ›wie?‹ wiedergeben.24

Die wissenschaftlichen Konzeptionen von Populismus unterscheiden sich weiterhin hinsichtlich des Basalitätsgrades, auf den sie rekurrieren. Dabei geht es um die Frage, ob die entsprechenden Kennzeichen dauerhafte Akteursmerkmale sind, sodass in recht allgemeiner Hinsicht etwa von genuin ›populistischen Parteien‹ gesprochen werden kann: Namentlich Zaslove (2008) fasst Populismus als »new party type«, während in anderen Zusammenhängen auch eher flüchtige (Einmal-)Handlungen – etwa bestimmte öffentliche Aussagen – als populistisch qualifiziert werden können, die aus wissenschaftlicher Sicht kein langfristiges Anhaften der Populistenkategorie an dem betreffenden Akteur begründen. Man stellt sich Populismus dann als zeitweilige, das heißt möglicherweise vorübergehende »Beimischung« (Priester 2007: 20) zur ›gewöhnlichen‹ Politik25 beziehungsweise »bloße[] populistische[] Mobilisierungen konservativer, liberaler und sozialistischer Akteure« (Rensmann 2006: 68) vor, die überdies zum Teil strukturell bedingt erscheinen und insofern nur in begrenztem Maße einzelne politische Akteure voneinander unterscheiden lassen.

Die Behauptung »Die – wie eng oder wie weit gefasste – ›politische Mitte‹ gilt fast ausnahmslos und eo ipso des Populismus unverdächtig« (Faber/Unger 2008: 7, kursiv JHS) ist jedenfalls als empirische Aussage sowohl mit Blick auf die allgemeine Öffentlichkeit als auch auf die akademische Debatte schlicht unzutreffend, auch wenn manche Forscher der Meinung sind, es sei »wenig sinnvoll, Mitglieder der politischen Elite als eigentliche Gegner von Populisten in das Konzept des Populismus einzubeziehen« (Priester 2011: 187) und insofern nicht über die Kategorie des Dauerhaften hinaus von Populismus reden wollen. Problematisch ist an solchen Formulierungen, dass sie nicht zwischen analytischen Zuordnungen und Selbstinszenierungen der beforschten Akteure unterscheiden (Wer ›ist‹ in einem empirischen Sinne die politische Elite? Wann gehört man dazu? Wann und wie finden Übergänge statt? Kann es ›Populisten an der Regierung‹ aus definitorischen Gründen überhaupt geben?). Damit sind die Sinne dafür geschärft, dass sich Populismusmerkmale zumindest in manchen Fällen auch hinsichtlich der Frage unterscheiden lassen, ob nur eine bestimmte Gruppe von Politikern beziehungsweise Parteien überhaupt in den Blick der Forschung geraten kann. Denn wenn Populismus beispielsweise als »machtstrategisch relevantes...

Erscheint lt. Verlag 21.6.2023
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Soziologie Spezielle Soziologien
Schlagworte Bundestag • Demagogie • illegitime Volksorientierung • Opportunismus • Politische Kommunikation • Politische Soziologie • Populismus • Populismusvorwurf • Populismusvorwürfe • Populismuszuschreibungen
ISBN-10 3-593-45444-0 / 3593454440
ISBN-13 978-3-593-45444-3 / 9783593454443
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