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Aus kurzer Distanz (eBook)

Meine Erfolgsprinzipien als Weltschiedsrichter | Ein Blick hinter die Kulissen des Profi-Fußballs und die Kraft der Psychologie
eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
256 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-2896-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Aus kurzer Distanz -  Felix Brych,  Sven Haist
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Der Weltschiedsrichter: Ein Blick hinter die Kulissen des Fußballs  Felix Brych hat in seiner langen Karriere alles erreicht, was man sich als Schiedsrichter wünschen kann. Er hat Bundesliga, Champions-League, Europa- und Weltmeisterschaften gepfiffen. 2017 und 2021 wurde er Weltschiedsrichter des Jahres. Dabei ist Schiedsrichtersein keine dankbare Aufgabe. Der Perfektionsanspruch, höchst emotionale Erwartungshaltungen und extreme Öffentlichkeit einerseits sowie eine starke Präsenz unter Persönlichkeiten auf dem Platz, beständige Kritik der Öffentlichkeit und die notwendige Akzeptanz von Fehlbarkeit andererseits, sind außergewöhnlich. In diesem sehr persönlichen Buch erzählt zeigt Felix Brych von seinen Höhen und Tiefen, zeigt, wie intensiv und individuell seine Vorbereitungen auf die Spiele sind, wie wichtig Psychologie ist, welche Techniken er selbst entwickelt hat und was man auch in anderen Bereichen von einem Schiedsrichter lernen kann.

Felix Brych, geboren 1975, ist promovierter Jurist und deutscher Fußballschiedsrichter. Seit 2004 leitet er Spiele der Bundesliga, seit Januar 2007 ist er FIFA-Schiedsrichter. Seit der Saison 2009/2010 gehört er der Elitegruppe der Schiedsrichter an. 2017 kürte die IFFHS ihn zum Weltschiedsrichter des Jahres, ebenso 2021. Im selben Jahr wurde er auch zum fünften Mal vom DFB als Schiedsrichter des Jahres ausgezeichnet und er erklärte das Ende seiner internationalen Karriere. Er wird aber weiterhin Bundesligaspiele leiten.

Felix Brych, geboren 1975, ist promovierter Jurist und deutscher Fußballschiedsrichter. Seit 2004 leitet er Spiele der Bundesliga, seit Januar 2007 ist er FIFA-Schiedsrichter. Seit der Saison 2009/2010 gehört er der Elitegruppe der Schiedsrichter an. 2017 und 2021 kürte die IFFHS ihn zum Weltschiedsrichter des Jahres. 2021. Ebenfalls 2021 wurde er, nach 2013, 2015, 2016 und 2018, zum fünften Mal vom DFB als Schiedsrichter des Jahres ausgezeichnet. 2021 erklärte Brych das Ende seiner internationalen Karriere. Er wird aber weiterhin Bundesligaspiele leiten

Auf der Tribüne


– Weltmeisterschaft 2018 –

»Ich würde ihn nach Den Haag schicken, damit sie ihm den Prozess machen, wie sie ihn uns gemacht haben«, sagt Serbiens Nationaltrainer Mladen Krstajić nach dem Spiel – über mich. In Den Haag sitzt der Internationale Strafgerichtshof, der die Kriegsverbrecher im früheren Jugoslawien verurteilt hat. Auch das noch, nachdem der Tag ohnehin schon an mir vorbeiläuft.

Ich stehe um 8.45 Uhr auf, und üblicherweise setzt bei mir vor einem Spiel sofort das Bauchkribbeln ein. Die Anspannung, das Adrenalin. Mein Unterbewusstsein fängt an zu arbeiten. Ich erlebe den Nervenkitzel, den ich brauche, um mich auf die anstehende Partie einzustimmen. Ich verspüre Lust auf Stress, das sage ich vor bedeutenden Spielen oft zu meinen Assistenten. Ja, ein Schiedsrichter sollte Lust auf Stress verspüren, weil er gegebenenfalls Spieler sanktionieren oder Elfmeter verhängen muss. Aber diesmal merke ich nichts davon. Sehr merkwürdig! Ich fühle mich ausgelaugt, so kurz vor dem Vorrundenspiel zwischen Serbien und der Schweiz bei der Fußball-Weltmeisterschaft 2018.

Schon am Vorabend, bei der Anreise vom Schiedsrichterquartier in Moskau zum Spielort Kaliningrad, ist vieles anders als sonst. Keine Vorfreude, keine Aufregung, nicht mal Druck empfinde ich. Mir fehlt fast jede belebende Emotion. Ich sitze mit meinen Assistenten im Speisesaal des Hotels, eigentlich immer ein schöner Anlass, bloß diesmal kann ich selbst dem Abendessen wenig abgewinnen. Ich beschäftige mich mehr mit Kaliningrads deutsch-russischer Geschichte als mit der Vorbereitung auf mein Spiel. Mich fasziniert die Historie dieser Stadt: Kaliningrad ist eine russische Exklave, direkt an der Ostsee zwischen Polen und Litauen gelegen. Bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs war Kaliningrad noch das alte Königsberg, frühere Residenzstadt der Preußen. Sogar am Spieltag selbst forsche ich nach den Wurzeln dieses Orts. Zum Mittagessen bestelle ich Königsberger Klopse, aber leider sind sie aus.

Kurz darauf erhalte ich eine Textnachricht von Marco Fritz, einem meiner engsten Schiedsrichterfreunde. Er wünscht mir viel Glück für das Spiel und einen guten Turnierstart. Ich antworte ihm: »Irgendwas ist los heute. Ich bin nicht gut drauf, ich habe ein merkwürdiges Gefühl.« Daraufhin fragt mich Marco direkt: »Felix, bist du satt?«

Satt bin ich sicher nicht, denke ich mir. Denn in meiner Laufbahn möchte ich unbedingt zumindest ein bedeutendes Turnier erfolgreich bestreiten – und das ist mir bisher verwehrt geblieben. Das Ende meiner internationalen Karriere rückt kurz vor meinem 43. Geburtstag langsam näher – und das Ende ist mir ungemein wichtig. Grundsätzlich könnte die WM in Russland mein internationaler Schlusspunkt sein. Wer weiß, was passiert, wenn ich für das Halbfinale oder gar für das Endspiel angesetzt werde? Wahrscheinlich würde ich anschließend tatsächlich international abtreten und nur auf nationaler Ebene in der Bundesliga meine Karriere fortsetzen. Ich rechne mir insgeheim ordentliche Chancen aus, dass ich eine Zusage für eines der entscheidenden Spiele erhalten könnte. Letztlich ist es die Premiere für den Videoschiedsrichter oder »Video Assistant Referee« (VAR) bei einem Fußballgroßereignis. Und ich bin in der glücklichen Situation, mit der technischen Neuerung schon seit einem Jahr vertraut zu sein, weil Deutschland den VAR frühzeitig eingeführt hat.

Die WM 2018 definiere ich als den Höhepunkt meiner Laufbahn. Doch jetzt spüre ich die Anstrengungen meiner langjährigen Karriere, besonders die der abgelaufenen Saison. Ich hatte im Verlauf der zweiten Saisonhälfte überraschend vier anspruchsvolle Partien in der Champions League zu leiten: zwei Achtelfinale sowie je ein Viertel- und Halbfinale – dabei waren damals nur drei Partien üblich. Und am letzten Saisonspieltag in der Bundesliga war ich auch noch für das Duell zwischen dem Hamburger SV und Borussia Mönchengladbach angesetzt – ein besonders anstrengendes Match: Der HSV stand als bis dahin einzig niemals abgestiegenes Gründungsmitglied der im Jahr 1963 eingeführten Bundesliga vor dem Absturz aus der Beletage des deutschen Fußballs. Die Fans versuchten, den Platz zu stürmen, und ich musste den Furor moderieren. Hunderte Polizisten sicherten mit Pferden das Spielfeld ab. Gleichzeitig galt es, die Partie irgendwie über die Bühne zu bekommen. Bei einem Abbruch wäre die Saison eventuell nicht vorüber gewesen. Dann hätte es in Hamburg kein Ergebnis gegeben, und der HSV wäre bei einem Unentschieden oder einer Niederlage des Abstiegskonkurrenten VfL Wolfsburg im Parallelspiel vorerst in der Liga verblieben.

Derart nervenaufreibende Spiele zu Saisonende, wenn ich ohnehin an die Grenze meiner Belastungsfähigkeit stoße, ziehen aus meinem Körper nochmals besonders viel Kraft. Ich nehme zwar den Verschleiß wahr, aber ernsthaft bewusst bin ich mir der Müdigkeit nicht, auch nicht vor dieser Weltmeisterschaft. Vielmehr überwiegt in mir die etwas sorglose Stimmung, dass mich nach den gemeisterten Tumulten in Hamburg jetzt wirklich nichts mehr überraschen kann. Notfalls, rede ich mir ein, pfeife ich die WM halt mit halber Kraft.

Echte Vorfreude auf meine zweite WM nach 2014 in Brasilien stellt sich angesichts meines eng getakteten Terminkalenders nicht ein. Kurz nach der Partie in Hamburg, und noch weit vor dem Eröffnungsspiel, muss ich bereits nach Russland aufbrechen. Entsprechend schleppend und mühsam verläuft die Vorbereitung. Durch die Einführung des Videoassistenten stehen unzählige Trainingseinheiten auf dem Programm, und die Zahl der Schiedsrichter erhöht sich deutlich von 25 auf 36, dazu kommen 63 Assistenten – für insgesamt 64 Turnierspiele. Diese Gruppengröße habe ich so nicht erwartet.

Auch mit den Gegebenheiten vor Ort werde ich diesmal nicht richtig warm. Ich ziehe mich vorwiegend auf mein Hotelzimmer zurück – und fühle mich zumindest dort einigermaßen aufgehoben. Lieber wäre ich allerdings länger in München geblieben, bei meiner Freundin Andrea. Unsere Verlobung ist für die Zeit nach der WM anvisiert. Erstmals nimmt das Schiedsrichterdasein also für mich nicht mehr ausschließlich die eine tragende Rolle in meinem Leben ein. Das stärkt mein Selbstbewusstsein zusätzlich. Ich genieße die wunderbare Momentaufnahme und fühle mich endlich in meinem Leben angekommen. Doch zugleich erschwert mir das, für die WM in Schwung zu kommen und das Eigenleben des Turniers aufzugreifen. Ich lasse das Training ein wenig schleifen, weil es mir ziellos vorkommt, so viele Tage vor dem Eröffnungsspiel.

Dabei ist das Training eigentlich unentbehrlich, um mich zu fokussieren und in einen Zustand der Bereitschaft zu versetzen. Bis auf einen öffentlichen Medientag, bei dem Journalisten aus aller Welt anwesend sein dürfen, finden alle Übungseinheiten hinter verschlossenen Türen statt. Zugelassen sind nur Volunteers und Auswahlteams aus der Gegend rund um Moskau zur Simulation von Spielsituationen. Nach den Trainings eilen jeweils auffallend viele Helfer auf mich zu und fragen nach Fotos. Bereits am Tag meiner Ankunft in Moskau erkennen mich mehrere Polizeibeamte vor dem Hotel. Ich bin augenscheinlich einer der wenigen Unparteiischen bei diesem Turnier, der über eine solche Popularität verfügt. Das verleitet mich dazu, mich für nahezu unangreifbar zu halten. Ich bin etwas zu entspannt – ein Zustand, der mir als Schiedsrichter noch nie gutgetan hat.

Denn ich muss immer auf der Hut sein, um mögliche Fallstricke vorauszuahnen: Jedes Spiel birgt seine eigenen Tücken. Ich bin überzeugt, die WM trotz der Widrigkeiten zu meistern. Zumal die Qualifikation als einziger DFB-Schiedsrichter schon eine Auszeichnung ist. Vielleicht macht mich das tatsächlich ein bisschen satt, wie Marco Fritz andeutet. Aus meiner Bequemlichkeit würde mich derzeit wohl nur eine frühe Spielansetzung reißen – aber die erhalte ich nicht. Das Glück scheint eben nur der Tüchtige zu haben, und wirklich tüchtig bin ich für meine Verhältnisse gerade nicht.

Während die Nationalteams in der Vorrunde jeweils frühzeitig über ihren Spielplan in Kenntnis sind, muss ich abwarten, was passiert. Ich erhalte meinen Dienstplan intern immer erst drei Tage vor den Partien. Anlässlich meiner ersten WM in Brasilien hatte ich angefangen, ein wenig Spanisch zu lernen, und das in den vergangenen Wochen sogar noch einmal intensiviert, weil mir signalisiert wurde, dass ich der Mann für die wichtigen Latino-Spiele sein könnte. Schon frühzeitig absolvieren die südamerikanischen Länder Argentinien, Brasilien und Uruguay ihr Auftaktspiel, ebenso steht das Europa-Spitzenduell zwischen Portugal und Spanien an.

Doch als die Ansetzungen für die Referees veröffentlicht werden, findet sich mein Name nicht auf der Liste. Welch Enttäuschung, denn das heißt, dass ich zunächst auf der Ersatzbank sitze und wesentlich länger auf meinen Turniereinstieg warten muss als angenommen. Es gibt für mich weiterhin kein konkretes Ziel, auf das ich hinarbeiten könnte. Aus meinem Team ist zumindest Mark Borsch als Assistent des Videoschiedsrichters...

Erscheint lt. Verlag 27.4.2023
Co-Autor Sven Haist
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Entscheidungen • Fußball • Resilienz • Stressbewältigung
ISBN-10 3-8437-2896-8 / 3843728968
ISBN-13 978-3-8437-2896-6 / 9783843728966
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