Überforderung (eBook)
144 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-01672-9 (ISBN)
Bettina Stangneth, geboren 1966, ist unabhängige Philosophin. Sie studierte in Hamburg Philosophie und promovierte über Immanuel Kant und das Radikal Böse. Für ihr Buch «Eichmann vor Jerusalem» erhielt sie 2011 den NDR-Kultur-Sachbuch-Preis; die «New York Times» zählte es zu den besten Büchern des Jahres. Bei Rowohlt erschienen zuletzt ihre hochgelobten Essays «Böses Denken» (2015), «Lügen lesen» (2017) und «Hässliches Sehen» (2019) sowie die Bände «Sexkultur» (2021) und «Überforderung» (2022). Stangneth erhielt 2022 den Internationalen Friedrich-Nietzsche-Preis.
Bettina Stangneth, geboren 1966, ist unabhängige Philosophin. Sie studierte in Hamburg Philosophie und promovierte über Immanuel Kant und das Radikal Böse. Für ihr Buch «Eichmann vor Jerusalem» erhielt sie 2011 den NDR-Kultur-Sachbuch-Preis; die «New York Times» zählte es zu den besten Büchern des Jahres. Bei Rowohlt erschienen zuletzt ihre hochgelobten Essays «Böses Denken» (2015), «Lügen lesen» (2017) und «Hässliches Sehen» (2019) sowie die Bände «Sexkultur» (2021) und «Überforderung» (2022). Stangneth erhielt 2022 den Internationalen Friedrich-Nietzsche-Preis.
I. Nicht selten ist das Beste an Archivbesuchen eine Begegnung auf dem zugig kalten Flur, der den Pausenraum ersetzen muss, weil auch so schon nicht genug Platz ist für die Dokumente. Man muss sich gelegentlich erheben und strecken, etwas trinken und vor allem einen Menschen sehen, der offensichtlich noch lebt. Ich habe den großen dicken Aktenordner mit dem üppigen Rosendekor immer noch vor Augen, in dem die junge Frau die Unterlagen für ihr Forschungsthema verwahrte, auch zu einem dieser unsäglichen Orte, deren Namen irgendwann einmal ganz unbeschwert ausgesprochen worden sein müssen. Es hilft, jemanden zu treffen, der weiß, wovon die Rede ist. Warum mein Thema denn Adolf Eichmann sei, wollte sie schließlich wissen, denn er war natürlich auch an dem Ort gewesen, über den nachzudenken es Schadstoffcontainer braucht, einen Abstandhalter, weil auch die tapfersten Historiker irgendwann ausruhen müssen und sich dann wenigstens einbilden können, dass das da auf dem Wohnzimmertisch einfach nur Blumen sind. «Sind Sie mit ihm verwandt?»
Wer lernen möchte, neu oder doch noch einmal anders zu denken, fängt am besten nicht damit an, sich zu fragen, ob etwas persönlich gemeint ist, wenn man es auch interessant finden kann. Der ideale Zustand ist die freundliche Neugier, also die größtmögliche Wachheit, nicht die Angst vor einem möglichen Angriff. Genau hier aber liegt das Problem, sobald es sich um Zeitgeschichtsforschung in Deutschland handelt. Denn natürlich war die junge Kollegin nicht nur neugierig, sondern hatte vor allem vollkommen recht. Wer sich auf den Blick in die Abgründe der Vergangenheit einlässt, weiß genau, dass das ganz wesentlich eine Frage der Beziehungen ist. Entscheidend ist, was uns zu diesem Thema bringt, weil genau davon abhängt, wie weit wir uns wirklich auf das Spiel von Abstand und Nähe einlassen wollen. Oder können. Wenn die Abschirmung zu stark, der Abstand zu groß, der Fokus zu weit ist, kann man noch so viele Archive besuchen, wir werden doch nicht mehr finden als weitere Namen, Daten und Zahlen, weil von vornherein ganze Bereiche einer vergangenen Wirklichkeit außerhalb des Blickfelds bleiben, ohne dass man etwas vermissen würde. Es scheint alles erledigt, wenigstens ganz gut verstanden. Wir sind uns sicher, eine plausible Vorstellung der Ereignisse erarbeitet zu haben – bis jemand eine Frage stellt, die man aufs Neue persönlich nimmt: Warum reagieren die Deutschen auf einen russischen Präsidenten, der die Ukraine überfällt, so eigentümlich? Wie kommt es zu dem Schlingerkurs? Was bringt sie immer wieder vom eigenen Kurs ab?
Weil sie nie wieder Krieg wollten, sagt der nachsichtige Beobachter aus der Ferne. Wer sich in einen Krieg gestürzt und dann gleich noch einen zweiten angezettelt, zwei große Kriege angefangen, auf jeden Fall aber beide verloren hat, erinnert sich vielleicht lieber nicht daran, dass andere dafür kämpfen, sterben und töten mussten, dass Deutschland heute eine freiheitlich-demokratische Rechtsordnung hat. So naheliegend das ist, es erklärt doch nur den generellen Widerwillen gegen jedwedes Gemetzel, den die allermeisten Menschen teilen. Wer die Ursachen dafür sucht, wann und unter welchen Umständen die Denkungsart entstand, die sich jetzt so offensichtlich als Hemmnis des Handelns erweist, kann dabei nicht stehenbleiben. Wenn Sie mir tief genug in die unmittelbare deutsche Nachkriegszeit folgen mögen, dann lässt sich dort etwas ausleuchten.
Von Sebastian Haffner, der 1978 das zurecht gerühmte Buch Anmerkungen zu Hitler geschrieben hat, stammt der schlichte Einwand, dass sich der Blick in diese Zeit nur wenig lohnt. «Die Geschichte der Deutschen von 1945 bis 1949, also vom Kriegsende bis zur Gründung der Bundesrepublik und der DDR, ist eigentlich nicht deutsche Geschichte, sie handelt nicht davon, was die Deutschen machten, sondern was man mit ihnen gemacht hat.»
Es ist nicht wenig darüber geschrieben worden, wie die Menschen nach dem Krieg lebten, wie sie Hunger litten, froren, an ihrem Überleben verzweifelten. Aber was hätte man über die entmachteten Deutschen, das geschlagene Volk, viel mehr sagen sollen, als dass die Herrenmenschen nun die Ruinen eines tausendjährigen Reichs bewohnten, oft hungerten, keine Wohnung hatten, millionenfach mit den tragbaren Resten ihres Lebens durch die Reste ihres Landes fliehen mussten, sehr kalte Winter oft nicht überlebten und auch sonst so viele Ursachen für Traumata sammelten, dass sie ihr eigenes Elend mehr beschäftigte als die Verbrechen, die in ihrem Namen verübt worden waren? Einen Krieg verloren zu haben und von den Siegermächten überwacht und verwaltet zu werden – das ist eindeutig kein erstrebenswerter Zustand und auch eindeutig sehr viel uninteressanter, als es Hitlers Deutschland in den zwölf Jahren davor war.
Dass die Geschichte den Machern gehört, weil nur sie Berichtenswertes bewegen – oder etwas aufrichtiger: weil sie Dokumente und Spuren mit einer Zuverlässigkeit hinterlassen, die man als Historiker sehr nützlich findet –, gehörte lange zu den Selbstverständlichkeiten allen Nachdenkens über die Vergangenheit und sorgt noch heute für eine armselige Vorstellung von dem, was Geschichtsschreibung zu verhandeln hat. Der gewöhnliche Mensch hat wenigstens exemplarisch gewöhnlich zu sein, damit auch von ihm oder gar ihr die Rede ist. Aber es gibt noch etwas viel Eigentümlicheres. Sie erkennen es sofort, wenn Sie sich jetzt die Frage stellen, die Sie vorhin noch mir stellen wollten: Wer ist gemeint mit «die Deutschen»?
1945 jedenfalls war die Bevölkerung der vier Besatzungszonen nur auf den ersten Blick homogen, sosehr Hitler und seine Bande sich auch bemüht hatten, alles «aus dem Volkskörper zu entfernen», was ihnen auf irgendeine Weise anders vorkam oder andere Vorstellungen von Staat und Gesellschaft äußerte. Der heute wieder einmal besonders gefürchtete «Riss durch die Gesellschaft» ist nichts im Vergleich zu dem Splittermeer nach der vollständigen Kapitulation. Niemals wieder glichen die Menschen so sehr dieser Ansammlung von Monaden mit fest geschlossenen Fenstern. Dieser Ausnahmezustand brachte ein Denken ganz eigener Prägung hervor, das bis heute erkennbar ist, auch wenn man nicht mehr weiß, wie man selber zu diesem Denken kam.
Wie und mit welchem Recht man so etwas behaupten kann? Man schaut noch einmal auf das, was die Geschichtswissenschaft über diese Zeit weiß, verzichtet, so gut es geht, auf alle schnellen Urteile und stellt vor allem die ethischen Fragen zurück. Man versucht stattdessen, die historischen Daten über die Bedingungen des Lebens in dieser Zeit so nah an sich herankommen zu lassen, dass ein lebendiges Bild entsteht. Und dann hört man sich selber beim Denken zu. Was esoterisch anmuten könnte, ist tatsächlich eine Arbeitsweise der Philosophie: Wer Denkweisen erkennen will, muss sie im Denken realisieren und dann vergleichen, wie sich das Selbst- und Weltverständnis durch den Wechsel der Denkungsarten unterscheidet – oder kann einem Philosophen zuhören, der gelernt hat, inwiefern sich das Denken unter bestimmten Bedingungen notwendig vom Denken unter anderen Umständen unterscheidet. Dann geht es nicht um die Frage, was, sondern wie die Menschen denken. Dass man davon weniger hört, liegt daran, dass es bei den Philosophen meist auch nicht anders zugeht als bei den Historikern: Das Denken der Macher, der bekannten Gestalten einer Zeit, scheint auch ihnen wichtiger oder doch attraktiver. Aber das bedeutet natürlich nicht, dass die Arbeitsmethoden der Philosophie sich nicht als ebenso nützlich erweisen, wenn man sie auf das alltäglichere Denken anwendet. Doch weil das hier keine theoretische Einführung in den Nutzen der Inversion pragmatistischer Erkenntnistheorie zur Analyse von Denkungsarten werden soll, nähern wir uns einfach ganz praktisch «den Deutschen» der Nachkriegszeit.
Mit dem Tod Adolf Hitlers zerfiel nicht nur die sagenhafte «Volksgemeinschaft», so wie Marionetten durcheinanderfallen, wenn man dem Puppenspieler die Fäden durchschneidet. Es durften auch all diejenigen wieder sichtbar werden, die nicht zu Hitlers Deutschland gehörten, also nur mit einigem Glück sein «Reich» überlebt hatten. Für Sozialdemokraten, Kommunisten, für Menschen irgendeiner unerwünschten Abstammung wie Juden, Sinti und Roma, für Homosexuelle, eingeschleppte Zwangsarbeiter, Anhänger nicht christlicher oder zu christlicher Glaubensgemeinschaften, für Kriegsgefangene und jeden, der Hitlers Deutschen sonst nicht gefallen hatte, war der 8. Mai 1945 tatsächlich ein Tag der Befreiung und nicht selten die Wiederbegegnung mit denen, die sie diskriminiert oder denunziert hatten oder nicht für sie eingestanden waren. Gemeinsames Leid und Elend verbinden auf besondere Weise, die Befreiung jedoch nötigt zu neuen, anderen Bindungen. Wer sich also die Befreiten als homogene Gruppe vorstellt, sollte noch etwas näher herangehen. Aber auch diejenigen, die kurz zuvor noch begeistert «Ein Volk, ein Reich, ein Führer!» geschrien hatten, waren ohne den Führer und in den Resten des Reichs nicht selten noch innerhalb der Familie auf je eigene Weise unglücklich.
Sie erinnern sich? Wer lernen will, muss die Abschirmung senken. Rund 65 Millionen Menschen zählten die Alliierten im Jahr 1946, knapp 700000 davon steckten in Lagern fest, um sich herum und zwischen ihnen eine Völkerwanderung, auf der Suche nach Verwandten, nach einer Wohnung, nach Arbeit. Stellen Sie sich vor, wie es ist,...
Erscheint lt. Verlag | 14.3.2023 |
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Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | Aussenpolitik • Debatte • Deustchland • Essay • Ethik • Europa • Haltung • Krieg • Philosphie • Politik • Putin • Russland • Streitschrift • Ukraine • Ukraine Buch • Ukraine Konflikt • Wladimir Putin |
ISBN-10 | 3-644-01672-0 / 3644016720 |
ISBN-13 | 978-3-644-01672-9 / 9783644016729 |
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