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No Limit (eBook)

Die Neunziger - das Jahrzehnt der Freiheit

(Autor)

eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
384 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-01645-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

No Limit -  Jens Balzer
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Es gibt keine Grenzen mehr: Das glaubt man jedenfalls am Beginn der Neunzigerjahre. Die Berliner Mauer fällt, die Welt ru?ckt zusammen, und sie vernetzt sich. Die ersten Knoten des World Wide Web werden geknu?pft, die ersten Suchmaschinen programmiert. In Berlin wird Techno zum Soundtrack der Wiedervereinigung, Neonfarben beherrschen das Bild, Piercings und Tätowierungen erobern den Mainstream, das Arschgeweih gerät zum stilistischen Symbol der Dekade. Aber unter der heiteren Oberfläche brechen alte Konflikte auf, Gespenster aus der Vergangenheit kehren zuru?ck. Im Osten Deutschlands, aber nicht nur dort, entsteht eine rechte Jugendkultur bislang ungekannten Ausmaßes. Im zerfallenden Jugoslawien geschieht das Unfassbare: der erste Krieg in Europa seit 1945. Der politische Islam wird zur globalen Bedrohung, und das lange Jahrzehnt endet am 11. September 2001 mit dem Anschlag auf das World Trade Center, das auch ein Symbol der spielerischen, globalisierten Postmoderne gewesen ist. In einem großen, farbigen Panorama erzählt Jens Balzer von einem Jahrzehnt, in dem man an die Zukunft glaubte und ans «anything goes» - und in dem doch auch ein neues Zeitalter der Grenzen, der Identitäten und der Kämpfe beginnt.

 Jens Balzer, geboren 1969, ist Autor und Kolumnist, u.a. fu?r «Die Zeit», «Rolling Stone», den Deutschlandfunk und radioeins. Er war stellvertretender Feuilletonchef der «Berliner Zeitung» und kuratiert den Popsalon am Deutschen Theater. 2016 erschien sein vielgelobtes Buch «Pop», 2019 «Das entfesselte Jahrzehnt. Sound und Geist der 70er», über das der «Tagesspiegel» schrieb: «So lehrreich wie unterhaltsam ... Am Ende ist man um nie geahnte Erkenntnisse reicher - und wünscht sich, dass sich der Autor bald das nächste Jahrzehnt vornehmen möge.» 2021 folgte «High Energy.  Die Achtziger - das pulsierende Jahrzehnt» sowie 2023 «No Limit. Die Neunziger - das Jahrzehnt der Freiheit».  

Jens Balzer, geboren 1969, ist Autor und Kolumnist, u.a. für die «Zeit», «Rolling Stone», den Deutschlandfunk und radioeins. Er war stellvertretender Feuilletonchef der «Berliner Zeitung» und kuratiert den Popsalon am Deutschen Theater. 2019 erschien «Das entfesselte Jahrzehnt», seine vielgelobte Geschichte der siebziger Jahre; 2021 folgte «High Energy», eine Gesamtschau der achtziger Jahre und das "Charakterporträt eines Zeitalters" (FAZ). Nun setzt Jens Balzer mit "No Limit" seine große Kultur- und Mentalitätsgeschichte der Gegenwart fort.

Einleitung Der Fall der Mauer und das Ende der Geschichte


Wahnsinn! Freiheit! Wahnsinn! Der Jubel kennt keine Grenzen, als der Mann mit der Dauerwellenfrisur sich im Arbeitskorb eines Krans über die Mauer heben lässt, um minutenlang über den Köpfen der Menschen zu schweben. Zu Hunderttausenden verfolgen sie, wie er zu einer schütteren musikalischen Begleitung, die von Tonband abgespielt wird, sein Lied «Looking for Freedom» singt, zu Deutsch etwa: auf der Suche nach Freiheit. «I’ve been looking for freedom», heißt es darin, «I’ve been looking so long / I’ve been looking for freedom / Still the search goes on» – er sucht nach Freiheit, und das schon sehr lange, und die Suche geht immer noch weiter. Der Mann trägt eine schwarze Lederjacke mit einer Lichterkettenapplikation, die seinen Oberkörper rhythmisch zum Blinken bringt; um den Hals hat er sich einen Schal geschlungen, auf dem eine Klaviertastatur zu sehen ist; außerdem hat er eine Jeanshose aus kunstvoll ausgeblichenem Stoff an, eine «Stonewashed Jeans», wie man das damals nennt. Die meisten der Menschen, die ihn an diesem Abend feiern, tragen ebenfalls Stonewashed Jeans und Dauerwellenfrisuren, manche haben sich Hüte in Schwarz-Rot-Gold aufgesetzt, andere schwenken Flaggen in diesen Farben.

Wir befinden uns am Silvesterabend des Jahres 1989 am Brandenburger Tor in Berlin, es ist das erste Silvesterfest seit Jahrzehnten, das die Menschen aus dem Ostteil und dem Westteil der Stadt wieder gemeinsam feiern können. Von überallher sind sie zusammengeströmt – auch aus dem Ostteil und dem Westteil des restlichen Landes –, um gemeinsam zu tanzen, Sekt zu trinken, Raketen zu zünden. Eine runde Million Menschen soll es am Ende gewesen sein, die sich an diesem Abend in der Berliner Mitte versammelt hat. Sie klettern auf die Mauer, die noch wenige Wochen zuvor Ost- und Westberlin voneinander trennte. Abertausende drängen sich auf dem Pariser Platz vor dem Brandenburger Tor. Dort hat eine Jugendsendung des DDR-Fernsehens eine Videoleinwand errichtet; über diese wird auch der kurze Auftritt des US-amerikanischen Popsängers David Hasselhoff übertragen. Das Lied «Looking for Freedom» hat er zwar schon im Frühjahr 1989 veröffentlicht, und die Bezüge auf weltpolitische Umstürze darin sind eher diffus. Dennoch wird es in Deutschland über Nacht zu einer Art Hymne auf die Wiedervereinigung. «Viele von den Menschen, die mir an diesem Abend zujubelten», so hat sich Hasselhoff später erinnert, «konnten ja gar kein Englisch, weil sie in der DDR aufgewachsen waren. Darum verstanden sie auch gar nicht, was ich da sang.» Einige verstehen schlichtweg «Looking for Frieden», aber das läuft ja irgendwie auf das Gleiche hinaus.

Über das Gerüst, an dem die Videoleinwand des DDR-Fernsehens befestigt ist, kann man auf das Dach des Brandenburger Tors klettern, um sich dort neben die Quadriga – den Streitwagen der Siegesgöttin Viktoria, der von vier Pferden gezogen wird – zu stellen oder zu setzen. Bis zu diesem Abend weht dort noch die Flagge der DDR, schwarz-rot-golden mit Hammer und Zirkel, nun wird sie von den Menschen, die emporgekommen sind, eingeholt und hinunter in die Menge geworfen. Ein paar Jugendliche schmücken die Quadriga ersatzweise mit einer schwarz-rot-goldenen Fahne; später kommt noch eine Europa-Fahne hinzu.

Nach David Hasselhoff tritt die westdeutsche Popsängerin Nena auf und singt ihr Lied «Wunder gescheh’n»: «Wunder gescheh’n / Ich hab’s geseh’n / Es gibt so vieles, was wir nicht versteh’n.» Das Wunder, das hier besungen wird: Das ist nicht nur die Öffnung der Berliner Mauer, die an diesem Abend gerade sieben Wochen zurückliegt. Es ist die Aussicht auf eine Welt ohne Grenzen, auf ein dauerhaftes Ende des Kalten Kriegs und auch darauf, dass aus den kommunistischen Diktaturen des bisherigen Ostblocks liberale Demokratien werden, in denen die Menschen in Freiheit leben; es ist die Aussicht auf ein Jahrzehnt, das im Zeichen der Freiheit steht – und nicht, wie die jetzt zu Ende gehenden Achtzigerjahre, im Zeichen der Angst.

Während der Übertragung der Silvesterfeier im ZDF-Fernsehen erinnert der Kommentator an das Silvesterfest zehn Jahre zuvor, am 31. Dezember 1979. Damals war die Sowjetunion gerade in Afghanistan einmarschiert, die Nato hatte mit der Stationierung neuer Atomwaffen begonnen, «die Achtzigerjahre werden mehr und mehr zum gefährlichsten Jahrzehnt in der Geschichte der Menschheit», so hieß es im Aufruf zur großen Friedensdemonstration im Bonner Hofgarten 1981.

Wie anders die Stimmung an diesem Abend ist. Die USA und die Sowjetunion haben sich auf nukleare Abrüstung geeinigt, der sowjetische Präsident Michail Gorbatschow hat in seinem Land wirtschaftliche und demokratische Reformen angestoßen und die Länder des Warschauer Pakts aus dem Klammergriff des sowjetischen Imperiums entlassen. «Das vor uns liegende Jahrzehnt kann für unser Volk das glücklichste dieses Jahrhunderts werden», sagt der westdeutsche Bundeskanzler Helmut Kohl in seiner Fernsehansprache am Silvesterabend 1989. «Das 20. Jahrhundert endet mit einem unverhohlenen Sieg des ökonomischen und politischen Liberalismus», schreibt der US-amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama in einem Text mit dem Titel «The End of History?», der schon im Sommer 1989 erschienen ist. Fukuyama spricht von der «völligen Erschöpfung lebensfähiger systematischer Alternativen zum westlichen Liberalismus», der Westen, «die Idee des Westens», habe triumphiert. Das zeige sich nicht nur in der hohen Politik und im Erblühen politischer Reformbewegungen in den Ländern des Ostens, sondern vor allem in der «Ausbreitung der westlichen Konsumkultur». In Prag, Rangun und Teheran höre die Jugend mit gleichermaßen großer Begeisterung westliche Rockmusik, in China seien Farbfernseher jetzt allgegenwärtig, und in Moskau hätten westliche Bekleidungs- und Restaurantketten ihre ersten Filialen eröffnet.

Das bedeutendste Ereignis dieser Art findet einen Monat nach den Silvesterfeierlichkeiten in Moskau statt. Am 31. Januar 1990 eröffnet am Puschkinplatz die erste sowjetische Niederlassung der Fast-Food-Kette McDonald’s. Erstmals kann die russische Bevölkerung dort in den Genuss von fettigen Hackfleischplatten in weichen Brötchen gelangen, von frittierten Kartoffelschnitzen und von Mischgetränken aus Speiseeis, Milch und Obst, sogenannten McShakes, und sie scheint sehnsüchtig darauf gewartet zu haben. Über dreißigtausend Menschen stehen am ersten Tag vor der Tür, so viele wie noch nie bei der Eröffnung eines McDonald’s-Restaurants; und noch über mehrere Wochen müssen Sicherheitskräfte die Publikumsströme regeln. Mitten im Herzen von Moskau, nur wenige Gehminuten vom Kreml entfernt, prangt nun das große gelbe «M», das Zeichen des Kapitalismus.

Damit beginnt auch das Zeitalter einer globalen Friedensordnung: Denn noch nie haben zwei Staaten Krieg gegeneinander geführt, in denen es jeweils McDonald’s-Filialen gibt. Das glaubt jedenfalls der US-amerikanische Wirtschaftswissenschaftler Thomas Friedman herausgefunden zu haben, der daraus seine Theorie der «Golden Arches», der Goldenen Bögen, entwickelt. Das Ende des Kalten Kriegs habe die Grenzen geschliffen, die einer dauerhaften Globalisierung der Wirtschaft und der Kultur noch im Wege standen; dafür sei die globale Ausbreitung von McDonald’s das beste Symbol. Wobei die Filialen der Restaurantkette nur die Vorhut bildeten für eine Globalisierung, die noch wirkmächtiger sei: die digitale Vernetzung, den globalen Siegeszug der Informationsgesellschaft. «Dank der Informationsrevolution ist keine Mauer mehr undurchlässig. Wenn wir alle wissen, wie die jeweils anderen leben, entsteht eine völlig neue Dynamik in der Weltpolitik», schreibt Friedman in dem Buch «The Lexus and the Olive Tree», in dem er am Ende des Jahrzehnts seine Theorie der Goldenen Bögen weiterentwickelt. «Wenn Leute sehen können, dass andere Menschen Möglichkeiten haben, die ihnen selbst nicht zur Verfügung stehen, wird es für Politiker schwieriger, sie ihren Bevölkerungen vorzuenthalten.»

Der US-amerikanische Präsident GeorgeH.W.Bush sieht die Epoche einer neuen Weltordnung heraufziehen. «Hunderte von Generationen haben nach dem Weg zu einem dauerhaften Frieden gesucht, Hunderte von Kriegen überspannten die Menschheitsgeschichte. Heute aber können wir dabei zusehen, wie eine neue Welt geboren wird», sagt er im September 1990 in einer Rede vor dem Aspen Institute in Colorado mit dem Titel «Toward a New World Order». In dieser Welt werde es keine unaufhebbaren Gegensätze mehr geben, es werde eine Welt ohne Diktaturen und Autokratien sein, in der «Rechtsstaatlichkeit das Gesetz des Dschungels ersetzt. Eine Welt, in der Nationen die gemeinsame Verantwortung für Freiheit und Gerechtigkeit anerkennen. Eine Welt, in der die Starken die Rechte der Schwachen respektieren.»

Zwei Monate später, im November 1990, erscheint das Album «Crazy World» der deutschen Rockband Scorpions, auf dem sich auch der Titel «Wind of Change» findet. Darin beschwört der Sänger Klaus Meine das Wunder einer grenzenlos gewordenen Welt: «The world is closing in / And did you ever think / That we could be so close like brothers? / The future’s in the air, I can feel it everywhere / I’m blowing with the wind of change» – die Welt rückt zusammen, und hättest du je gedacht, dass wir uns einmal...

Erscheint lt. Verlag 13.6.2023
Zusatzinfo Mit Abbildungen
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte 11. September 2001 • 90er • Anything goes • Ende der Geschichte • Ende des Kalten Krieges • Fall der Berliner Mauer • Feminismus • Freiheit • Gesellschaftsbild • Internet • Jugoslawienkriege • Kapitalismus • Konsumgesellschaft • Körperpolitik • Kulturgeschichte • Liberalisierung • Love Parade • Musikfernsehen • Neunziger Jahre • Nirvana • Personal Computer • Politisches Sachbuch • Postmoderne • Rassismus • Techno • technokultur • Wiedervereinigung • Windows 95 • World Wide Web
ISBN-10 3-644-01645-3 / 3644016453
ISBN-13 978-3-644-01645-3 / 9783644016453
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