Die gespaltene Republik (eBook)
400 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-491564-7 (ISBN)
Çi?dem Akyol, geboren 1978 in Herne, studierte Osteuropäische Geschichte und Völkerrecht in Köln und in Russland. Nach dem Besuch der Berliner Journalisten-Schule war sie Redakteurin bei der »taz«, anschließend Korrespondentin für die österreichische Nachrichtenagentur APA in Istanbul, von wo sie auch über den Putschversuch 2016 berichtete. Seit Jahren schreibt die Journalistin aus der und über die Türkei u.a. für die »Neue Zürcher Zeitung«, die »Frankfurter Allgemeine Zeitung«, »Zeit Online« und »ntv.de«. Ihr Buch »Erdo?an. Die Biografie« wurde für den NDR-Sachbuchpreis nominiert.
Çiğdem Akyol, geboren 1978 in Herne, studierte Osteuropäische Geschichte und Völkerrecht in Köln und in Russland. Nach dem Besuch der Berliner Journalisten-Schule war sie Redakteurin bei der »taz«, anschließend Korrespondentin für die österreichische Nachrichtenagentur APA in Istanbul, von wo sie auch über den Putschversuch 2016 berichtete. Seit Jahren schreibt die Journalistin aus der und über die Türkei u.a. für die »Neue Zürcher Zeitung«, die »Frankfurter Allgemeine Zeitung«, »Zeit Online« und »ntv.de«. Ihr Buch »Erdoğan. Die Biografie« wurde für den NDR-Sachbuchpreis nominiert.
in ihrem lesenswerten Sachbuch
ein hochaktuelles Buch (...), das die wechselvolle und facettenreiche Geschichte der türkischen Republik von ihrer Gründung bis in die Gegenwart schildert.
Einleitung
Am 29. Oktober 2023, ein halbes Jahr nach dem Erscheinen dieses Buches, feierte die Türkische Republik ihr hundertjähriges Bestehen. Gegründet hat sie ein Kriegsheld, der wenige Monate vor der Staatsausrufung den Unabhängigkeitskampf gewann und das Ende des über sechshundert Jahre alten Osmanischen Reichs einläutete. Mustafa Kemal Atatürk errichtete nach dem Untergang des Imperiums einen Nationalstaat und löste eine radikale Revolution aus. Er modernisierte von oben herab nach westlichem Vorbild Staat und Gesellschaft, zuweilen mit Gewalt. Die von ihm eingeleitete Säkularisierung stieß immer wieder auf Widerstand – und oft wurde die Debatte darüber brutal beendet.
Nach Atatürks Tod wurde in den 1950er Jahren der Grundstein für große Umwälzungen gelegt. Das Einparteiensystem endete, die Wirtschaft machte Fortschritte, die Gesellschaft modernisierte sich unaufhaltsam. In den 1960er und 1970er Jahren nahmen auch politische Radikalisierungen zu: Rechte, islamistische und linke Parteien wurden gegründet, Universitäten wurden zu Orten, an denen sich ideologische Extremisten zusammenfanden, und zu blutigen Schauplätzen wiederholter Eskalationen zwischen Linken, Rechten und dem Staat, der immer wieder durchgriff.
So endete der erste demokratisch gewählte Ministerpräsident der Republik – Adnan Menderes – im Jahr 1961 am Galgen, hingerichtet vom Militär, das im Jahr davor durch einen Putsch die Regierung abgesetzt hatte. Wie Fieberschübe folgten 1971 und 1980 weitere Militärputsche; auch 1997 intervenierten die Generäle und erzwangen den Rücktritt des ersten islamistischen Ministerpräsidenten Necmettin Erbakan. Trotz der politischen Umstürze, der blutigen Minderheitenpolitik, der Wirtschaftskrisen und der nicht selten repressiven Regierungen hat die Republik auch einen beeindruckenden Erfolg erzielt: Aus einem bitterarmen Land ist ein Global Player hervorgegangen.
Unter Ministerpräsident Turgut Özal war in den 1980er Jahren eine fundamentale Wende in der Wirtschaftspolitik erfolgt. Die Industrialisierung wurde entscheidend vorangetrieben, der Türkei gelang der Sprung vom Entwicklungs- zum Schwellenland. Auch die Bevölkerung wuchs enorm. Bei der Staatsgründung 1923 hatte die Türkei 14 Millionen Einwohner – heute leben in der Republik rund 85 Millionen Menschen. Gleichzeitig kam es zu einer demographischen Verschiebung: Lebte der Großteil der Bevölkerung zu Beginn der Republik noch auf dem Land ohne Zugang zu Strom oder Wasser, zog es die Menschen in den folgenden Jahrzehnten massenhaft in die Städte. Allein in Istanbul wohnten 2022 offiziell 16 Millionen Menschen – fast 19 Prozent der Türken. Die Megametropole liegt als einzige Stadt der Welt auf zwei Kontinenten: Europa und Asien.
Die meisten Bewohner des Landes fühlen sich zu Europa gehörig. Insgesamt aber liegt die Türkei zu 97 Prozent in Kleinasien, an einer geopolitischen Bruchstelle. Sie ist dank ihrer geographischen Lage ein Bindeglied zwischen Europa und dem Mittleren und Nahen Osten und teilt sich Grenzen mit Iran, Irak, Syrien, Armenien, Aserbaidschan, Georgien, Griechenland und Bulgarien. »Geographie ist Schicksal«, heißt es in der türkischen Politikwissenschaft in Anlehnung an eine dem arabischen Historiker Ibn Khaldun (1332–1406) zugeschriebene Redewendung. Das Land bildet die südöstliche Flanke der Nato und ist somit ein unverzichtbarer Sicherheitsfaktor in einer spannungsreichen Region.
Auf ihrem Weg in die Moderne hat sich die Republik nach Westen ausgerichtet. Seit 1945 ist sie Mitglied der Vereinten Nationen, Deutschland erhielt dort erst 1973 einen Sitz. Im Jahre 1950 trat sie dem Europarat bei, seit 1952 – und damit drei Jahre früher als Deutschland – ist sie Nato-Mitglied, 1973 war die Türkei ein Gründungsmitglied der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit. Seit 1996 ist sie auch Teil der EU-Zollunion. 2005 wurden die EU-Beitrittsverhandlungen aufgenommen. Als einziger Staat der Welt ist die Türkei nicht nur Nato- und OSZE-Mitglied, sondern seit 1969 auch Mitglied der Organisation der Islamischen Konferenz. Als Brückenkopf zwischen West und Ost setzt das Land eigene außenpolitische Akzente, nicht immer zur Freude der westlichen Partner.
Gemäß der Verfassung ist die Türkei ein demokratischer Rechtsstaat. Doch in der Realität war sie nie eine liberale Demokratie. Jahrzehntelang unterdrückten die Kemalisten die Opposition und verachteten die Peripherie. Sie verfolgten Minderheiten, Linke, Kommunisten und den politischen Islam. Für Außenstehende sind die politischen Frontlinien nicht einfach zu verstehen: So waren viele Anhänger Atatürks besorgt, dass das Land bei einem EU-Beitritt eine Sklavin Brüssels würde. Sie versuchten auch, eine Gleichberechtigung der Kurden weitestgehend zu verhindern, weil sie fürchteten, der Staat würde in der Folge zerfallen. Frauen mit Kopftuch passten ebenso wenig in das Weltbild der Kemalisten, die ihnen politische und gesellschaftliche Rechte verwehrten. Aus diesen Gründen ist das gängige westliche Etikett einer linken Sozialdemokratie für die von Atatürk gegründeten Cumhuriyet Halk Partisi (Republikanische Volkspartei, CHP) nicht zutreffend. Die türkische Sozialdemokratie forderte das Eingreifen der Armee, wenn sie einen »inneren Feind« erkannt zu haben meinte, und hielt bei angeblichen Bedrohungen immer die Nationalflagge hoch. Dabei ging es ihr vornehmlich um die Bewahrung ihrer Privilegien.
Nach Jahrzehnten instabiler Koalitionen kam es 2002 zu einem Kulturwandel: Seitdem diktiert mit der Adalet ve Kalkınma Partisi (Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei, AKP) eine islamische Regierung die Regeln. Als Recep Tayyip Erdoğan im Jahr 2003 das Amt des Ministerpräsidenten antrat, versprach er, die »drei Ypsilons« zu bekämpfen – Armut (yoksulluk), Verbote (yasaklar) und Korruption (yolsuzluk).[1] Das Establishment musste miterleben, wie ausgerechnet die nationalkonservative AKP die Ära einer »neuen Türkei« ausrief und mehr als ein Jahrzehnt lang die Gesellschaft liberalisierte, wobei sie die »drei Ypsilons« tatsächlich erfolgreich anging. Die Partei setzte Reformen durch, die das gesellschaftliche Leben positiv veränderten. Lange waren Militär, Justiz und Bürokratie teils mächtiger als die gewählten Regierungen, die AKP hat das Land aus dem Griff dieser Kräfte befreien können. Nach Jahren des politischen Chaos mit kurzlebigen Koalitionen brachte die AKP politische Stabilität. Es entstand eine breite Mittelschicht, Minderheiten wie die Kurden bekamen mehr gesellschaftliche und politische Teilhabe. Zum ersten Mal seit der Gründung der Republik lag die zivile Macht voll bei einer demokratisch gewählten Partei.
Dennoch ist über keinen türkischen Politiker international und insbesondere in Deutschland derart hitzig debattiert worden wie über Erdoğan. Im Land selbst warnten seine Gegner von Anfang an, er verstecke sich hinter einer angeblich demokratischen Agenda und wolle eigentlich das Land islamisieren. Sie kritisierten seinen populistischen Nationalismus. Für seine Anhänger ist er hingegen eine Lichtgestalt. In den ersten Jahren seiner Regierung gab es viel Positives. Doch dann kamen 2013 die Gezi-Proteste – seitdem ist das Land polarisierter denn je. Spätestens seit dem gescheiterten Putschversuch im Jahr 2016 ist nichts mehr, wie es einst war. Erdoğan hält sich nicht länger mit rechtlichen Erwägungen auf – richtig ist nun, was ihn an der Macht hält. Tausende Menschen wurden verhaftet oder verloren aus politischen Gründen ihre Existenzgrundlage. Oppositionelle werden mit Zensur, Haftstrafen und Hetzkampagnen regierungstreuer Medien bekämpft. Wegen dieser Entwicklung legte Brüssel die EU-Beitrittsgespräche auf Eis. Auch die Kurdenfrage ist weiterhin ungelöst. Die Spannungen zwischen den Säkularisten und den Frommen halten an. Das Wohlstandsgefälle von Ost nach West konnte zwar vermindert, aber nicht behoben werden. Frauen müssen weiterhin für ihre Freiheiten kämpfen. Geblieben sind der autoritäre Staat, Nationalismus und Zentralismus. Die Kemalisten fühlen sich durch die Entwicklungen der vergangenen zwanzig Jahre in ihrem Misstrauen bestätigt.
Anfang 2023 ist die Lage in der Türkei labil. Bei einem verheerenden Erdbeben im syrisch-türkischen Grenzgebiet verlieren Zehntausende ihr Leben. Die Nachrichten bringen Meldungen, dass der Präsident Griechenland mit einer militärischen Intervention drohe oder plane, türkische Truppen in Nordsyrien einmarschieren zu lassen. Auch die Meldung, dass der oppositionelle Bürgermeister von Istanbul, Ekrem İmamoğlu, kurz zuvor wegen Beamtenbeleidigung zu einer Haftstrafe verurteilt worden sei, ist nahezu erwartbar. Der Wert der Lira fällt, die Preise explodieren – die guten Jahre sind eindeutig vorbei. Erdoğans glühenden Anhängern fällt es zusehends schwerer zu erklären, warum sie ihn unterstützen.
So genügt in der Türkei 2023, hundert Jahre nach ihrer Gründung, schon das Setzen eines Like bei einem regierungskritischen Tweet, um im Gefängnis zu landen. Beim Global Peace Index stand die Türkei 2022 auf Platz 145 von 163 Staaten. Reporter ohne Grenzen stufte das Land 2022 auf Platz 149 von 180 Ländern im Ranking der Pressefreiheit ein. Viele Menschen haben Angst – Angst vor der seit Jahren anhaltenden Wirtschaftskrise, Angst davor, sich kritisch zu äußern, Angst vor dem nächsten Erdbeben, denn das Land ist ein Risikogebiet.
Staatsgründer Atatürk...
Erscheint lt. Verlag | 26.4.2023 |
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Zusatzinfo | 1 s/w-Abbildung |
Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | Adalet ve Kalkınma Partisi • Anatolien • Ankara • Büşra Cebeci • Can Dündar • Cumhuriyet Halk Partisi • Demokratie • Diyanet • Islam • Islamismus • Ismet Inönu • Istanbul • Kemalismus • Kurden • Laizismus • Militärputsch • Nationalismus • Orhan Pamuk • Partei der Gerechtigkeit • Pressefreiheit • Republikanische Volkspartei • Säkularisierung • Verfassung • Yasar Kemal • Yaşar Yakış • Zeitgeschichte |
ISBN-10 | 3-10-491564-4 / 3104915644 |
ISBN-13 | 978-3-10-491564-7 / 9783104915647 |
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