Anpassung (eBook)
240 Seiten
Suhrkamp Verlag
978-3-518-77478-6 (ISBN)
In der Moderne dominierte der Glaube, die Welt ließe sich gestalten und der Fortschritt sorge quasi automatisch für ein besseres Morgen. Erderwärmung, Wachstumskrise und subjektive Überlastungen haben diesen Optimismus erschüttert. Heute geht es in erster Linie darum, die Katastrophe abzuschwächen. Und selbst wenn dies gelingen sollte, werden wir mit dem Wandel umgehen müssen. Fragen der Selbsterhaltung überlagern dann jene der individuellen und kollektiven Selbstentfaltung. Anpassung wird zum Leitmotiv der Gesellschaft.
Auch die Corona-Pandemie hat gezeigt, dass wir im Angesicht der Interdependenz und der ökologischen Gefahren nicht länger der grenzenlosen Emanzipation huldigen können. Stattdessen, so Philipp Staab, wird die nächste Gesellschaft vor allem mit der Stabilisierung einer prekär werdenden Ordnung befasst sein. Daraus resultiert allerdings eine Krise des Selbst- und Zeitverhältnisses, auf die auch die Linke eine Antwort finden muss.
<p>Philipp Staab, geboren 1983, ist Professor für die Soziologie der Zukunft der Arbeit an der Humboldt-Universität zu Berlin.</p>
322. Von Selbstentfaltung zu Selbsterhaltung
Gemeinsam müssen wir ein Territorium finden, das für uns alle bewohnbar ist. Darin liegt die neue Universalität.
Bruno Latour (2017)1
Anpassung kann als Leitmotiv einer Gesellschaft gelten, die im Begriff ist, in ihrer Selbstwahrnehmung und den entsprechenden sozialen Praktiken Selbsterhaltungsprobleme gegenüber einem modernen Programm der Selbstentfaltung in den Vordergrund zu rücken. Damit ist freilich keineswegs gesagt, dass Individualisierungsdynamiken zum Stillstand kommen, noch nicht einmal, dass diese sich abschwächen müssen. Worum es geht, ist lediglich, die zentrale Strukturdynamik einer solchen Gesellschaft zu erschließen, indem man die Perspektive von einem modernen Emanzipations- auf ein einstweilen noch unbestimmtes Adaptionsprogramm verschiebt. Dabei ist zunächst festzuhalten, dass Anpassung weder ein neues Phänomen noch eine genuin mit der Moderne verbundene Praxis ist. Allerdings entwickeln moderne Gesellschaften Anpassungsdruck nach einer eigenen Logik, die es zu analysieren und heuristisch von einer Adaptionspraxis zu unterscheiden gilt, die sich von Selbsterhaltungsproblemen her versteht.
Beginnen wir bei der Bestimmung dieser Unter33schiede mit den stabilen Grundeigenschaften gesellschaftlicher Adaption, kann konstatiert werden, dass sich Gesellschaften eigentlich immer Anpassungsprobleme stellen. Umstände oder Ereignisse, die außerhalb der Kontrolle der einzelnen Gesellschaftsmitglieder liegen, erzwingen die Adaption ihrer Praxis an die vermeintlich »äußeren« Irritationen. Anpassung ist also Veränderung. Aber Anpassung ist keine freie Entscheidung. Da sich die Rahmenbedingungen menschlichen Lebens stetig verändern, ist die Notwendigkeit, sich anzupassen, sowohl menschheitsgeschichtlich als auch im Kontext alltäglicher Lebensführung der Normalfall. Für »ursprünglichere« Gesellschaften stellen wechselnde Umweltbedingungen das wohl größte Anpassungsproblem dar. Der Mensch kann nur jagen und sammeln, pflanzen und ernten, wo und wann die wechsellaunige Natur es erlaubt: Eine Veränderung der Bedingungen erzwingt Adaptionen.
Mindestens drei Merkmale sind für derartige ursprüngliche Konstellationen der Anpassung charakteristisch. Erstens sind die betreffenden Probleme gesellschaftsextern, sie entstehen also jenseits der Verfügungsgewalt der jeweiligen menschlichen Gemeinschaften oder werden zumindest so wahrgenommen. Verhandlungen mit diesen Problemen oder Gefährdungen sind daher ausgeschlossen. Zweitens ist Anpassung in solchen Zusammenhängen vor allem eine Praxis der Selbsterhaltung, denn ohne erfolgreiche Anpassung ist das Überleben bedroht. Drittens fal34len in dieser Konstellation individuelle und kollektive Adaption zusammen. Selbsterhaltung findet in Gemeinschaft statt. Die Wandlung Einzelner reicht daher nicht aus, wenn es um die Anpassung kollektiver Lebensweisen geht.
In modernen Gesellschaften verhält es sich zunächst ähnlich. Als Formationen, die sich nur dynamisch stabilisieren können,2 ist Veränderung ihr Geschäft. Dynamische Stabilität – gewonnen durch konstantes wirtschaftliches Wachstum, technische Beschleunigung, kulturelle Innovationen und die ständige Revidierbarkeit von als verbindlich geltenden Entscheidungen3 – bedeutet, dass die Menschen sich einem permanenten Wandel und den ihn sichernden Normen und Regeln fügen müssen. Anpassung ist auch hier Normalzustand und Bedingung des nun stark beschleunigten gesellschaftlichen Lebens: Eine hohe Reisegeschwindigkeit ist nur möglich, wenn Verkehrsregeln grundsätzlich akzeptiert werden, für den Erfolg am Arbeitsmarkt muss man sich erst der Schule und dann den Strukturen des Berufsfelds fügen, neue Technologien kann man nur nutzen, wenn man sich an die Verwendungsregeln hält etc.
Noch grundsätzlicher gilt: Als lernende Geschöpfe beobachten wir andere, ahmen nach, erkennen die an uns gerichteten Erwartungen und bemühen uns, ihnen zu entsprechen. Anpassung steht in diesem Zusammenhang schlicht für das Versprechen, dass Gesellschaft überhaupt möglich ist. Schon ein kurzer Blick in das Wörterbuch der Soziologie lehrt, dass 35Anpassung zunächst »Veränderung von Eigenschaften, Gewohnheiten, Orientierungen und Verhaltensformen« bedeutet; aus diesem Grund stellt sie eine grundlegende Voraussetzung dar
für die Teilhabe an wechselseitigen sozialen Beziehungen und für die Mitwirkung und Funktionsübernahme in arbeitsteiligen Systemen, d. h. für die Bewältigung sozialer Kooperations- und Umwelterfordernisse und damit für das prinzipielle Weiterbestehen menschlicher Gesellschaft überhaupt […].4
Für einen Teil der modernen Soziologie ist Anpassung daher unabdingbar, da sie grundlegende Probleme löst, oder, besser gesagt: das basale Problem von Gesellschaft schlechthin. Diese Soziologie entwirft sich ausgehend von der Grundfrage, wie Gesellschaft möglich ist. Dass Menschen friedlich miteinander leben, dass sich in Gesellschaften soziales Vertrauen und arbeitsteilige Strukturen ausbilden, ist ihr keineswegs selbstverständlich, sondern stellt vielmehr das ursprüngliche Rätsel dar, dem sie sich widmet. Dahinter liegt das vom Leitsoziologen der transatlantischen Nachkriegszeit, Talcott Parsons, so titulierte »Hobbesian problem of order«.5 Die Entstehung von Gesellschaft ist erklärungsbedürftig, weil sie erst einmal ein Problem zu lösen hat: Vor den gesellschaftlichen Strukturen gibt es keine Sicherheit für das eigene Leben. Selbst das stärkste Individuum, wie es bei dem Philosophen Thomas Hobbes heißt, kann durch die List des Schwächsten oder mit36hilfe von Allianzen überwältigt und getötet werden.6 Wenn wir davon ausgehen, dass Menschen durch Kooperation mehr erreichen können als alleine, wie können sie sich unter solchen Bedingungen der Unsicherheit auf ein Miteinander einlassen? Hobbes bringt an dieser Stelle bekanntlich die Figur des Gesellschaftsvertrags ins Spiel. Über ihn verpflichten sich die Menschen, das Monopol legitimer Gewalt auf den Staat zu übertragen. Adaption an dessen Regeln garantiert im Anschluss die Sicherheit der Bürger voreinander.
Dabei haben unterschiedliche Soziologen vor und nach Parsons eine Lösung des hobbesschen Ordnungsproblems konzeptualisiert. In der klassischen Soziologie ist insbesondere Émile Durkheim hervorzuheben, weil er sich nicht nur mit der Frage gelingender Ordnung, sondern auch mit den Folgen ihrer Erosion befasst hat. Bei Durkheim wird soziale Ordnung in modernen Gesellschaften vor allem über funktional differenzierte Strukturen der Arbeitsteilung reproduziert.7 Über die Wahrnehmung der Rolle, die ihre eigene Arbeit für das Ganze spielt, erkennen sich die Einzelnen als notwendiger Teil eines Zusammenhangs, der ihre soziale Existenz sichert. Im Effekt entwickelt sich eine »organische« Form von Solidarität, weil klar ist, dass – um bei Durkheims Bild zu bleiben – kein einzelner Teil des Gesellschaftskörpers ohne die jeweils anderen leben kann. Geteilte Normen, die insbesondere in funktional differenzierten Berufen ausgebildet werden,8 sichern 37dabei soziale Kooperation und die Integration der Einzelnen.
Dies ist freilich nur möglich, weil sich die Menschen den entsprechenden Regeln und Normen anpassen. In der frühen Version von Parsons' berühmtem AGIL-Schema sind dementsprechend neben den Aspekten Zielerreichung (goal attainment), Integration und Latenz (im Sinne der dauerhaften Aufrechterhaltung von Wertmustern usw.) unter dem Stichwort der Anpassung (adaptation) all jene individuellen Verhaltensweisen gemeint, die aktiv erbracht werden müssen, damit sich ein Handlungssystem erhalten kann.9 Die Richtschnur des entsprechenden Verhaltens bilden Werte, die dem kulturellen System entspringen und von denen aus sich das jeweils angezeigte adaptive Verhalten bestimmen lässt. Sind die Individuen Teil desselben kulturellen Systems, bedeutet dies nichts anderes, als dass weitgehender Konsens über die für die Stabilisierung sozialer Ordnung als notwendig erachteten Verhaltensanpassungen besteht. Die Folge ist, dass Konformität herrscht oder, wie es bei Parsons heißt: »Order in this sense means that process takes place in conformity.«10
Von misslingender Anpassung geht demnach...
Erscheint lt. Verlag | 10.10.2022 |
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Sprache | deutsch |
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Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
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ISBN-10 | 3-518-77478-6 / 3518774786 |
ISBN-13 | 978-3-518-77478-6 / 9783518774786 |
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