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Am Ende der Straße (eBook)

Afghanistan zwischen Hoffnung und Scheitern. Eine Reportage | Mit zahlreichen Schwarz-Weiß-Fotografien vom Hindukusch
eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
399 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-77386-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Am Ende der Straße -  Wolfgang Bauer
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Die afghanische Ring Road. Eine Straße, die real existiert und dennoch ein Mysterium ist. Der 2200 Kilometer lange kreisförmige Highway verbindet die wichtigsten Städte des Landes. Er versprach Einheit und Aufschwung. Seit sechzig Jahren wird an ihm gebaut, doch fertig ist er noch immer nicht. Korruption und Misswirtschaft haben riesige Summen verschlungen. Nach dem Einmarsch der westlichen Truppen wurde die Straße zu einem blutigen Schlachtfeld.

Kaum ein deutscher Journalist kennt Afghanistan so gut wie Wolfgang Bauer. Der Zeit-Reporter war viele Male vor Ort, machte die Schicksale der Menschen in preisgekrönten Reportagen anschaulich. Früh warnte er vor einer Rückkehr der Taliban. Im August 2021 wurde einer seiner engsten Mitarbeiter ermordet.

Nach dem Fall Kabuls kehrt Wolfgang Bauer noch einmal zurück. Er bereist die Ring Road, sucht Orte auf, die er in den letzten 20 Jahren besucht hat - und geht der Frage nach: Warum ist der Westen in Afghanistan gescheitert? Was hat dieses Scheitern mit der milliardenschweren Entwicklungshilfe zu tun? Und wie geht es weiter? Seine Reportage ist eine Parabel über Hoffnung und Scheitern am Hindukusch.



Wolfgang Bauer, geboren 1970, arbeitet f&uuml;r die Wochenzeitung <em>Die Zeit</em>. F&uuml;r seine Reportagen wurde er u. a. mit dem Theodor-Wolff-Preis und dem Prix Bayeux Calvados-Normandie f&uuml;r Kriegsberichterstattung ausgezeichnet. Sein Buch <em>&Uuml;ber das Meer</em> war ein Bestseller und wurde in zehn Sprachen &uuml;bersetzt.

Kilometer 0

Kabul


Mauern aus Knochen

Die Straße beginnt unmittelbar vor dem Flughafen. Sie ist eine afghanische Legende. Die Ring Road. So wird sie meistens genannt. Eine Straße, die fast ein Mysterium ist, obwohl sie real existiert. Nur wenige haben sie jemals komplett befahren. Sie beginnt in Kabul und führt dann in einer gewaltigen Kreisbewegung durch das gesamte Land. Gesamtlänge: 2200 Kilometer. Sie verbindet die wichtigsten Städte Afghanistans. Von Kabul aus führt sie nach Kandahar im Süden, Herat im Westen, Mazar-i-Sharif im Norden. Ein etwa 150 Kilometer langer Seitenarm verbindet die Hauptstadt mit Dschalalabad im Osten. Die Ring Road durchquert die Wüsten des Südens, die Grassteppen des Nordens und das Hochgebirge des Hindukusch. Sie ist die Lebensader des Landes. Alle, die Afghanistan zu einem modernen Nationalstaat machen wollten, haben an ihr gebaut. Der letzte König, Mohammed Zahir Schah, hatte vor siebzig Jahren damit begonnen. Als er nach einer vierzigjährigen Regentschaft 1973 ins Exil gezwungen wurde, führte Mohammed Daoud Khan, der erste Präsident der Republik Afghanistan, das Projekt weiter. In rascher Folge stürzten sich seitdem die Herrscher des Landes, jagten sich gegenseitig davon oder töteten einander, aber der jeweils Nachfolgende, egal welcher Ideologie, baute weiter an dieser einen Straße.

Afghanistan ist eines der letzten Länder auf der Welt, die nie zu einem Staat zusammengewachsen sind. Es ist ein Konglomerat aus 14 Ethnien völlig unterschiedlicher Kulturen – schon die genaue Zahl ist hochumstritten –, die insgesamt 14 Sprachen sprechen, zum Teil einander nicht verstehen, und mächtigen bis zu 7400 Meter hohen Gebirgsriegeln, die das Land topografisch zerschneiden. Afghanistan ist der Sammelbegriff für eine Handvoll Städte und ein Universum an Dörfern, die nur selten Kontakt zueinander haben. Afghanistan war lange das Übriggebliebene, der Rest, die Trümmerhalde zweier Großreiche, des britischen und des russischen, die hier aufeinanderstießen. Die Straße, diese Straße, sollte das ändern. Alle, die in der Vergangenheit an ihr bauten, teilten dieselbe Vision: aus Asphalt, aus Bitumen, aus Schotter eine Nation zu formen.

Große Hoffnungen legten auch die Amerikaner auf den Bau der Ring Road. Mit Asphalt wollten sie den Frieden gewinnen. US-Präsident George W.Bush, der soeben die Taliban niedergeworfen hatte, machte die Ring Road zu einer seiner Prioritäten, Nation-Building im ureigenen Sinne. Es heißt, täglich habe er sich persönlich über die Fortschritte informieren lassen. »Wo die Straßen in Afghanistan enden, beginnt die Herrschaft der Taliban«, zitierte er bei einer Rede den vormaligen US-Oberkommandierenden Karl Eikenberry. »Straßen«, erklärte Bush, »schaffen Jobs für Männer, die sonst von den Taliban rekrutiert werden. Sie fördern Handel. Straßen fördern Unternehmergeist. Unternehmergeist fördert Hoffnung. Und Hoffnung ist das, was die Ideologie der Dunkelheit besiegt.«

So dachte seinerzeit auch der heutige US-Präsident und damalige Senator Joe Biden: »Wie buchstabiert man in Paschtu und Dari das Wort Hoffnung? A.S.P.H.A.L.T

Es kam anders. Die Straße ist bis heute unvollendet. Ihre Geschichte ist die von Korruption und Intrigen. Sie hat weder Wohlstand noch Demokratie gebracht. Wo sie gebaut wurde, war sie bald umkämpft. Der Asphalt, kaum ausgerollt, wurde zum Schlachtfeld. Die heftigsten Kämpfe des Krieges fanden entlang dieser Straße statt. Sie war als Lebensader Afghanistans gedacht und wurde zu seiner Blutspur.

Dieser Straße will ich die nächsten fünf Wochen folgen, so weit es geht. Zusammen mit meinen Begleitern plane ich, was bisher nur wenigen gelang – sie vollständig abzufahren: Die Fahrt wird mich von Kabul aus zunächst in den Osten führen, an den Grenzübergang zu Pakistan, um dann im Uhrzeigersinn der Ring Road nach Ghazni und Kandahar im Süden, nach Herat im Westen, nach Mazar-i-Sharif im Norden und schließlich über Kunduz zurück nach Kabul zu folgen. Bisher waren mir auf meinen Reisen im Land enge Grenzen gesetzt. Unmittelbar hinter dem Ortsrand von Kabul begann der Einflussbereich der Taliban, und auch innerhalb von Kabul war man gut beraten, sich nicht unnötig auf den Straßen aufzuhalten. Zu groß war das Risiko, von Banditen entführt oder ausgeraubt zu werden.

Die Absolutheit, mit der das alte Regime besiegt wurde, hat fast über Nacht eine völlig andere Situation geschaffen. Zum ersten Mal seit Jahrzehnten herrscht Frieden in Afghanistan. Fast überall schweigen die Waffen. Niemand hindert ausländische Journalistinnen und Journalisten am Reisen. Das Land ist im wahrsten Sinne erfahrbar geworden. Im Moment herrscht eine Schockstarre. Große Müdigkeit hat sich über das Land gelegt. Afghanistan sortiert sich neu. Koalitionen zwischen den Stämmen werden neu kalkuliert, Seilschaften im lokalen Machtgefüge neu verhandelt. Die Ruhe nach dem Sturm oder die Ruhe zwischen den Stürmen. Niemand weiß, wie lange sie anhalten wird. Diese Zeit wollen wir nutzen.

Die Reise wird für mich eine Neuerkundung Afghanistans. Sie ist für mich persönlich auch eine Art Zeitreise. Eine Reise in meine eigene Vergangenheit. Die Fahrt ist immer noch ein Wagnis, aber ein kalkulierbares, glaube ich, hoffe ich, sagt man mir. »Solange ich am Leben bin«, sagt mein Fahrer Rafik Hamadi, »musst du dir keine Sorgen machen.« In den nächsten Wochen wird er diesen Satz noch oft wiederholen.

Rafik. Er wartet mit müdem Blick vor dem Flughafen auf mich. Häufig wird er für einen Inder gehalten, mit seinem pechschwarzen Haar, dem dunklen Teint. Geboren wurde er in Dschalalabad, der einzigen Stadt Afghanistans mit tropisch-indischem Klima. Über seinem weißen traditionellen Salwar Kameez trägt er eine schwarze Winterjacke mit strahlenförmigem Kunstfellkragen. Eine große Locke fällt ihm oft ins Gesicht, die er wie eine lästige Fliege unentwegt mit einer Handbewegung verscheucht. Ende zwanzig, drei Kinder, das dritte ist vor wenigen Wochen zur Welt gekommen. Er ist ein Rassist, dem alles Fremde zutiefst unheimlich ist, ein Sexist. Mit großer Hingabe erzählt er Witze über Homosexuelle und die schiitische Volksgruppe der Hazara. Rafik mag es deftig, auch beim Essen. Er ist eitel, schnell zu kränken, nicht nachtragend und einer der liberalsten Afghanen, die ich kenne.

Mit an Bord ist Lutfullah Qasimyar, der als Übersetzer die Reise begleitet, nur ein paar Jahre jünger als Rafik, aber völlig anderer Natur. Ausnahmslos gelassen, die Ruhe selbst. Er ist der geborene Vermittler, der in den nächsten Wochen in unserem Toyota immer wieder Konflikte schlichtet. Ein bisschen sieht er sogar aus, er wird es mir verzeihen, wie ein in sich ruhender Buddha. Schon zu Republikzeiten hat er als Übersetzer für Firmen und Institute gearbeitet. Er ist tiefreligiös, verfügt über einen bewundernswerten Verstand und ein fotografisches Gedächtnis. Er kommt aus Badachschan im äußersten Nordosten, ist aber in Kabul aufgewachsen, spricht fließend Dari wie Paschtu. Seit wenigen Wochen erst ist er verheiratet, eine arrangierte Ehe wie die meisten Ehen hier. Fast stündlich ist er mit seiner jungen Frau in Kontakt. »Sorge dich nicht, mein Augenstern«, säuselt er, »es wird nichts passieren.«

Mitglied unserer kleinen Reisegemeinschaft ist auch Kaveh Rostamkhani. Er dokumentiert unsere Fahrt fotografisch.

Die Straßen Kabuls. Rafiks Revier. Exzellente Qualität. Bester Asphalt, oft vierspurig. Der pompöse Auftakt der Ring Road. Rafik kennt jede Abkürzung, nutzt jede Lücke zwischen zwei Staus, um auf fast hundert zu beschleunigen. Im Halbschlaf sehe ich auf die Stadt, die ich noch nie mochte. Wer mag schon diese Stadt? Ihre Einwohner mit Sicherheit nicht. Das Schöne, das es hier einst gegeben hatte, die Altstadthäuser mit ihren entzückenden Gärten, die vielen Bäume, die früher hier blühten, all dies fiel fast ausnahmslos den Kriegen und der Gier zum Opfer. Kabuls Architektur ist brutal.

Über die Stadtmauern, die steil in die Berghänge hineingebaut wurden, heißt es, dass sie deshalb noch stehen, weil die Knochen der Arbeiter in ihr verbaut wurden. Vor 1100 Jahren sollen der tyrannische König Zanburak und sein schrecklicher Bruder Zanbilak Kabul regiert haben. Aus Angst vor Invasionen ließen sie eine gewaltige Mauer errichten und zwangen jede Familie, mindestens einen ihrer Söhne...

Erscheint lt. Verlag 15.8.2022
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Afghanistan • Afghanistan Papers • ashraf ghani • Auslandseinsatz • Bundeswehr • Emran Feroz • Entwicklungshilfe • Fotoreportage • Frieden • Friedensmission • Golineh Atai • Hindukusch • Islamismus • Kabul • kriegsreportage • Kriegsreporter • Missing link • Natalie Amiri • NATO • neues Buch • Prix Bayeux Calvados-Normandie für Kriegsberichterstattung 2021 • Reemtsma Liberty Award 2016 • Reporter ohne Grenzen • Ring Road • Theodor-Wolff-Preis 2021 • War on Terror
ISBN-10 3-518-77386-0 / 3518773860
ISBN-13 978-3-518-77386-4 / 9783518773864
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