Der Stuttgart-Komplex (eBook)
192 Seiten
Klett-Cotta (Verlag)
978-3-608-11930-5 (ISBN)
Florian Werner, geboren 1971 in Berlin, ist Schriftsteller. Er studierte Anglistik, Amerikanistik und Germanistik und wurde 2007 mit einer Arbeit über Rap und Apokalypse promoviert. Er schreibt Sachbücher und Prosa und arbeitet für den Hörfunk. Seine Sachbücher wurden mehrfach ausgezeichnet. Er ist mit Svenja Flaßpöhler verheiratet und lebt, gemeinsam mit seiner Frau und zwei gemeinsamen Kindern, in Berlin.
Florian Werner, geboren 1971 in Berlin, ist Schriftsteller. Er studierte Anglistik, Amerikanistik und Germanistik und wurde 2007 mit einer Arbeit über Rap und Apokalypse promoviert. Er schreibt Sachbücher und Prosa und arbeitet für den Hörfunk. Seine Sachbücher wurden mehrfach ausgezeichnet. Er ist mit Svenja Flaßpöhler verheiratet und lebt, gemeinsam mit seiner Frau und zwei gemeinsamen Kindern, in Berlin.
Die Stuttgarter Republik
An einem Spätsommertag über Stuttgart wird mir alles klar. Ich fliege in etwa tausend Metern Höhe über den Westausläufern des Schönbuchs und nähere mich mit eklatanter Geschwindigkeit dem Stuttgarter Kessel. Zwischen meinen angewinkelten Beinen befindet sich ein Steuerknüppel, vor mir ein Armaturenbrett mit der Aufschrift »Kunstflug und Trudeln verboten!« sowie allerhand Anzeigen, Uhren und Armaturen, die ich nicht verstehe, über meinem Kopf die Plexiglashaube eines Motorseglers, zwei Sitzplätze, ein Propeller, sechzehn Meter Spannweite. Zum Glück fliege ich nicht allein, ungefähr drei Millimeter links von mir sitzt mein Freund Sven, ein erfahrener Flieger, er ist der Pilot, er hat ebenfalls einen Steuerknüppel, kann ihn im Gegensatz zu mir auch bedienen, im Moment unterhält er sich per Bügelmikrofon mit der Luftraumkontrolle des Flughafens.
Stuttgart Tower von Delta-Kilo-Sierra-Foxtrot-Uniform: eine Super Dimona, HK36, zwei Personen an Bord, vom Wächtersberg zum Wächtersberg, VFR, fliegen in 3000 Fuß Richtung Stuttgart, zur Info.
Ich schaue aus dem Fenster, sehe rechts unten die ersten Industrieareale, silbergrau schraffierte Fabrikhallendächer, ausgedehnte Parkplatzlandschaften, ein Autobahnkreuz wie ein Kleeblatt. Das muss Sindelfingen sein, Böblingen, irgendein Ort mit -ingen, vermutlich die Mercedes-Benz-Werke südwestlich von Stuttgart.
Es folgt ein Waldstück, das Laubwerk ist bereits spätsommerlich verfärbt, zeigt das ganze Spektrum wohlig warmer Töne von gelb bis karminrot, Swabian Summer. Eine weitere Autobahn, dann wieder Bäume, von hier oben sieht das Nebeneinander von Asphalt und Natur frappierend harmonisch aus. Wir überfliegen die Solitude, das ehemalige Jagdschloss des württembergischen Königs, einsam auf einer Anhöhe gelegen, dahinter die schnurgerade Achse, die der Herrscher zu seiner Residenz in Ludwigsburg schlagen ließ, ein Schmiss in der Landschaft.
Wieder Wald, weitere Straßen, ein paar Sportplätze. Zu unserer Linken grüßt, stramm wie ein Torwächter, der Bismarckturm auf dem Killesberg, rechts unten türmen sich die Weltkriegstrümmer des Birkenkopfs – dann öffnet sich der Abgrund: die Stuttgarter Bucht, ein gewaltiger Krater, als hätte ein Titan nach Diamanten gewühlt und dabei eine Wunde in den Keuper gerissen, Gesteinssplitter glitzern … ach nein, es ist nur die Abendsonne, die sich hier und da in schrägstehenden Fensterscheiben spiegelt.
Wir fliegen über den Rand, der Boden scheint innerhalb von Sekunden um mehrere hundert Meter abzusacken. Und dann, mit einem Mal, für einen flüchtigen, fiebrigen Augenblick, verstehe ich beim Anblick des unter mir liegenden Talkessels alles.
Petrischale der Republik
Natürlich gibt es auch andere Städte, die für sich in Anspruch nehmen, einem von Menschenhand geformten Gefäß zu gleichen: Die berühmteste ist vermutlich New York, eine Stadt, der gern nachgesagt wird, es handele sich bei ihr um einen melting pot – wobei der Begriff Schmelztiegel nicht auf die Topographie abzielt, New York ist bekanntlich topfeben, sondern auf die ethnische Durchmischung der Stadt. Das bekannteste Beispiel im deutschsprachigen Raum dürfte das Ruhrgebiet sein, das von seinen Bewohnern wahlweise als Kohlenpott, Ruhrpott oder schlicht Pott bezeichnet wird – aber man muss schon seine ganze Phantasie zusammennehmen, einen sehr weit gefassten Pott-Begriff haben oder vielleicht schlicht aus Norddeutschland stammen, um in dem flachen Becken, an dessen Südrand die Ruhr entlangsickert, ein Gefäß zu erkennen. Hinzu kommt die Unschönheit des Begriffs: Ein Pott ist ein Gefäß, in dem man bestenfalls Kohlen transportiert und schlechtestenfalls hineinpullert – zugegeben: Manche Leute trinken auch ihren Kaffee daraus. Stuttgart hingegen, das ist gerade in der Draufsicht aus dem Flugzeug unzweifelhaft zu erkennen, liegt in einem stattlichen Kessel.
Ein Kessel, das ist ein Gefäß, in dem man etwas kocht: Eintopf. Suppe. Gulasch, eine Bouillabaisse, einen Zaubertrank – auf jeden Fall ein Gericht, dessen Zutaten zusammen mehr sind als die Summe ihrer Teile, in dem etwas Neues entsteht. Begreift man das Wort in diesem Sinn, so ist Stuttgart der Inbegriff der Kesselhaftigkeit: Es ist aktuell der Ort in der Bundesrepublik, an dem sich die Zukunft dieses Landes zusammenbraut. Wollte man es etwas feinstofflicher, naturwissenschaftlicher formulieren, könnte man auch sagen: Stuttgart ist eine Petrischale; was hier keimt, wird demnächst auch im Rest der Republik virulent werden.
Hier wurde nicht nur die erste Motorkutsche der Welt zusammengeschraubt und folgerichtig mit dem ADAC auch der größte und einflussreichste Automobilclub Europas gegründet. Hier dampfen nicht nur die Schornsteine von Daimler, Porsche und Bosch. Hier liegt auch die Wiege der Waldorfschulbewegung, welche mittlerweile zu einem globalen Bildungsimperium angewachsen ist. Auch der Internationale Frauentag hatte hier seinen Ursprung, und die Partei Die Grünen stammt ebenfalls von hier: Das erste Treffen von Anhängern der ökologischen Bewegung, das schließlich in die offizielle Gründung der Partei münden sollte, fand 1979 in Sindelfingen statt.
In der Tat war Stuttgart gerade in jüngster Vergangenheit immer wieder eine Keimzelle für gesellschaftliche, politische und künstlerische Entwicklungen, seien sie nun progressiv oder reaktionär. Auf dem Höhepunkt der Finanzkrise 2008 erinnerte Angela Merkel bei einer Rede in Stuttgart an die Umsichtigkeit der »schwäbischen Hausfrau« – diese gilt seitdem als Sinnbild für eine solide Haushaltspolitik, ja als Deutschlands austerity postergirl. Wenig später entstand hier als Antwort auf die umstrittenen Baumaßnahmen für den unterirdischen Bahnhof »Stuttgart 21« die erste postmoderne Protestbewegung in Deutschland, deren Teilnehmer (je nach politischer Gesinnung der Beobachter) als Wutbürger gescholten oder zu Mutbürgern geadelt wurden. 2020 kam die Stadt wieder in die Schlagzeilen, als im Zuge der Proteste gegen die Corona-Eindämmungsmaßnahmen der Bundesregierung mit »Querdenken 711« ein weiteres heterogenes Protestbündnis gegründet wurde; der Begriff Querdenken ist seitdem, in diesem in Stuttgart geprägten Sinn, in ganz Deutschland verbreitet.
Unterdessen wurde Winfried Kretschmann, nicht zuletzt infolge der Auseinandersetzungen um Stuttgart 21, in das Amt des baden-württembergischen Ministerpräsidenten gewählt: Er führt damit als erster Grüner eine deutsche Landesregierung, ein Modell, das mittelfristig auch auf Bundesebene Schule machen könnte. 2013 bekam Stuttgart mit Fritz Kuhn zudem als erste Landeshauptstadt einen grünen Oberbürgermeister – das utopische Potenzial wie auch das realpolitische Scheitern lassen sich anhand dieser beiden Amtsinhaber studieren. Schließlich beherbergt die Region Stuttgart weiterhin eines der führenden Automotive Cluster der Welt, der verbrennungsmotorgetriebene Individualverkehr hat hier quasi Grundrechtsstatus. Zugleich ist die Luft in der Stadt, auch wegen der Kessellage, notorisch schlecht: Die Luftqualitätsmessstelle Am Neckartor gilt als »Deutschlands schmutzigster Feinstaub-Messpunkt«.
Auch die Musik ist in den letzten Jahren düsterer, rauer geworden: Nachdem »Benztown«, wie die Stuttgarter Hip-Hop-Crew Die Krähen die Stadt einst taufte, in den Neunzigerjahren als Brutstätte meist gut gelaunten deutschsprachigen Sprechgesangs berühmt war, gilt die Stadt seit ein paar Jahren aufgrund der hohen Anzahl an postpunkig-krachenden Gitarrenbands als »das neue Seattle«. Gruppen wie Die Nerven, Human Abfall, Jauche, All diese Gewalt oder Karies liefern keine tanzbaren Beats und abgefeimten Reime, sie bevorzugen stattdessen düstere Moll-Tonarten, die Lautstärkeregler sind auf 11 gedreht, die Texte abgründig wie der Stuttgarter Kessel.
Das Gefühl ist gänzlich verschwunden,
Die Wellen tragen Knochen ans Land,
Du kannst sie alle haben,
Ich denke, das ist okay,
raunt Sänger und Multiinstrumentalist Max Rieger von All diese Gewalt; der Song, aus dem diese Zeilen stammen, heißt nicht von ungefähr »Unfertige Stadt«.
Der Stuttgart Komplex
Auch Stuttgart ist unfertig, unabgeschlossen, unablässig im Wandel begriffen: Das berühmte Diktum des Kunstkritikers Karl Scheffler, die Stadt sei »dazu verdammt: immerfort zu werden und niemals zu sein«, trifft mittlerweile besser auf Stuttgart zu als auf Berlin, auf das es...
Erscheint lt. Verlag | 24.9.2022 |
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Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | Anthroposophie • Automobilindustrie • Die Grünen • Ökologie • Querdenker • Stuttgart • Wutbürger |
ISBN-10 | 3-608-11930-2 / 3608119302 |
ISBN-13 | 978-3-608-11930-5 / 9783608119305 |
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Größe: 3,6 MB
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