Kinder mit auffälligem Verhalten unterrichten (eBook)
142 Seiten
Ernst Reinhardt Verlag
978-3-497-61617-6 (ISBN)
Prof. Dr. phil. habil. Thomas Müller lehrt und forscht als akademischer Oberrat am Lehrstuhl Pädagogik bei Verhaltensstörungen an der Universität Würzburg.
Prof. Dr. phil. habil. Thomas Müller lehrt und forscht als akademischer Oberrat am Lehrstuhl Pädagogik bei Verhaltensstörungen an der Universität Würzburg.
„Was mache ich, wenn …?“ – Eine Einleitung
Spricht man mit Lehrkräften über Kinder mit Verhaltensauffälligkeiten, so kann man bisweilen den Eindruck gewinnen, es werde immer „schlimmer“. Es scheint ein unbestimmtes Gefühl zu geben, dass Kinder zunehmend auffälliger sind und ihre Zahl wächst. Zumindest die Negativqualität der Auffälligkeiten scheint zugenommen zu haben und belastet Lehrkräfte und andere Kinder erheblich – und dies insbesondere vor den Herausforderungen, die ein inklusives Schulsystem mit sich bringt. Doch wie ist es tatsächlich? Ist die Zahl der Kinder mit auffälligen Verhaltensweisen wirklich angestiegen?
Zunahme
auffälligen
Verhaltens?
Diese Frage lässt sich weder eindeutig mit „Ja“ noch mit „Nein“ beantworten. Große Metaanalysen, wie beispielsweise von Ihle und Esser (2002; 2008), aber auch die KiGGS-Studie (Hölling et al. 2008; Klipker et al. 2018) zeigen, dass sich die Zahlen seit den 2010er Jahren nicht wesentlich verändert haben – zumindest dann nicht, wenn man auf Kinder schaut, die psychisch erkranken. Im Großen und Ganzen erkranken etwa knapp 20 % aller Kinder zwischen drei und 17 Jahren an einer psychischen Störung. Nur etwa 10 % „nehmen“ diese Erkrankung „mit“ ins Erwachsenenleben. Auffällig dabei ist: Nicht ADHS, aggressive Verhaltensweisen oder Gewaltbereitschaft führen die Liste der Erkrankungen an, sondern Angststörungen. Diese zeigen sich jedoch nicht immer in Form zurückgezogenen, ängstlichen oder zu schüchternen Verhaltens, sondern werden sicher auch durch aggressives Verhalten zu bewältigen versucht. Daraus lässt sich eine erste wichtige Erkenntnis für die pädagogische Praxis gewinnen: Das, was man an auffälligem Verhalten beobachten kann, ist nicht immer das, wonach es aussieht. Mit den Belastungen der Corona-Pandemie steigen die Zahlen psychisch erkrankter Kinder und Jugendlicher im Jahr 2022 jedoch deutlich an.
Angststörungen am häufigsten
Doch nicht jede psychische Erkrankung äußert sich auch in auffälligen Verhaltensweisen; ebenso wie nicht jede Verhaltensauffälligkeit unmittelbar mit einer psychiatrischen Diagnose in Beziehung gebracht werden kann. Verfolgt man die Statistiken der Kultusministerkonferenz zur Beschulung von Kindern mit emotional-sozialem Förderbedarf in allgemeinbildenden Schulen, so wird deutlich, dass sich ihr Anteil seit 2008 verdreifacht (KMK 2019a) hat.
starke Zunahme emotional-sozialen Förderbedarfs
Dies scheint auf den ersten Blick in direktem Widerspruch zu den hier genannten Metaanalysen zu stehen. Oder ist der Zuwachs mit einer erfolgreichen inklusiven Beschulung dieser Kinder zu erklären?
Dem ist nicht so, denn auch die Zahl der Kinder, die eine Schule mit dem Förderschwerpunkt emotional-soziale Entwicklung besuchen, hat sich im gleichen Zeitraum fast verdoppelt (KMK 2019b) – und das, obwohl etliche Bundesländer gerade diese Schulen im Zuge der Realisierung eines inklusiven Schulsystems abgeschafft oder ihre Zahl deutlich reduziert haben.
Es mögen verschiedene Aspekte sein, die dazu führen, dass einerseits die Zahl der Kinder, die psychisch erkranken, nicht ansteigt, und andererseits die Zahl der Kinder, die als auffällig gelten und denen man einen emotional-sozialen Förderbedarf attestiert, in die Höhe schießt. Sicherlich tragen gesamtgesellschaftliche und politische Entwicklungen erheblich dazu bei. Die Soziologie belegt seit Beginn des 21. Jahrhunderts eindrucksvoll, wie sehr sich westliche Gesellschaften zunehmend exkludierend (Bude / Willisch 2006) entwickeln und wie sie von Sozialstaaten zu Versorgungsstaaten werden, deren Motivation für sozialstaatliche Transferleistungen auf Sicherheitsüberlegungen fußt, nicht aber auf echter Solidarität gründet.
immer mehr Exklusionserfahrungen
Die Zahl der Menschen, die weder gebraucht noch gefragt sind, steigt und damit auch die Gefahr des persönlichen und sozialen Scheiterns (Bauman 2005; Bude 2008). Hinzu kommen globale politische Entwicklungen, in denen Nationalismus und nationalstaatliche Identität eine wachsende Bedeutung bekommen. Damit verändert sich auch die Sicht von Teilen einer Gesellschaft darauf, was (noch) normal ist und was (schon) als auffällig gilt, wer dazugehört und wer nicht, wer passt und wer stört. Dies lässt sich für Kinder mit Verhaltensauffälligkeiten auch an zunehmenden Punitivitätstendenzen ausmachen () sowie an der steigenden Zahl an Plätzen in geschlossenen Unterbringungen, im Jugendstrafvollzug und in forensischen Abteilungen. Zugespitzt formuliert: Wo die Inklusion mit diesen Kindern nicht funktioniert, dort drohen sie, in einer Inklusion der anderen Art, in Institutionen mit Einschluss (lat.: in-cludere) zu verschwinden. Pädagogisch und vor allem mit Blick auf Unterricht, Erziehung und Bildung ist das sehr bedenklich.
zunehmende
Psychiatrisierung
Tendenzen eines immer rigideren Normalitätsverständnisses scheinen sich aber auch in der Psychiatrie selbst zu finden. Frances (2014) belegt eindrucksvoll, wie normale, wenn auch erzieherisch herausfordernde kindliche Entwicklungsphasen, wie beispielsweise die Trotzphase und damit verbundene Wutanfälle, umgedeutet werden zu manifesten psychischen Störungen. Diese Entwicklungen stoßen auf die erheblichen Belastungen, denen Lehrkräfte in der Umsetzung eines inklusiven Unterrichts ausgesetzt sind. Die fachlich-sonderpädagogische Unterstützung, die sie erfahren, ist meist deutlich zu gering, und die Herausforderungen, vor denen sie stehen, wenn es darum geht, Kindern ohne Förderbedarf und Kindern mit höchst unterschiedlichen Förderbedarfen innerhalb einer Klasse gerecht zu werden, sind schier nicht zu bewältigen. Da erscheint es nachvollziehbar, wenn bisweilen dankbar nach der einen oder anderen psychiatrischen Diagnose gegriffen wird. Diese verspricht Eindeutigkeit und vor allem Entlastung, denn zuständig ist dann die Psychiatrie und nicht die Schule.
Hinzu kommt, dass das allgemeinbildende Schulsystem seine Lehrkräfte in ein Spagat zwingt, das nicht auszuhalten ist: Während im Zuge eines inklusiven Unterrichts möglichst individuell und mit Hilfe von Förderplänen auf jedes einzelne Kind eingegangen werden soll, nehmen Technologisierung und Standardisierung zu.
Schule zwischen Individualisierung und Standardisierung
Individueller Förderplan hin oder her: Am Ende schreiben alle Schüler zur gleichen Zeit die gleichen Leistungsnachweise und Vergleichsarbeiten und haben sich Kompetenzrastern zu fügen. Dem Lernen im individuellen Ungleichschritt lässt sich nicht durch ein Leistungs- und Prüfungsverständnis begegnen, das auf Gleichschritt angelegt ist. Dieser Widerspruch wird besonders in der überaus leistungsorientierten Grundschule offensichtlich. Sicherlich läuft ein solches Schulsystem auch Gefahr, darüber erhebliche Verhaltensstörungen mit zu erzeugen.
Natürlich sind gesellschaftliche Probleme und Herausforderungen nicht pädagogisch oder durch die Schule alleine zu lösen, auch wenn gerade die Schule seit Ende des 20. Jahrhunderts mit mehr und mehr Erwartungen diesbezüglich konfrontiert wird. Aber: Gesellschaftliche Probleme bedingen die pädagogische Praxis durchaus mit und bilden sich in dieser ab – und dies nicht unbedingt zum Vorteil von Kindern mit Verhaltensauffälligkeiten. Die Frage „Was mache ich, wenn …?“ schwebt über alldem, und sie ist nicht einfach zu beantworten, wenn auch höchst verständlich ist, dass sie mehr denn je aufgeworfen wird.
Entscheidend ist wohl, dass gerade im Zusammenhang mit Verhaltensauffälligkeiten der Blick nicht ausschließlich darauf gerichtet wird, Defizitäres, Störendes, Auffallendes oder Unangepasstes beseitigen zu wollen. Das verkürzte Pädagogik auf ein pures Reaktionshandeln. Der Blick ist vielmehr immer wieder neu darauf zu richten, was das Kind sein könnte und wie es dabei begleitet werden kann. Dadurch realisiert sich im Ergebnis Bildung.
Im Folgenden wird eine theoretische Grundlage zur möglichen Beantwortung geschaffen: Wichtig erscheint dafür zu klären, mit wem man es zu tun hat, wenn man von Kindern mit Verhaltensauffälligkeiten spricht, und zu klären, wie man über diese Schüler sprechen kann (Kap. 1). Auf dieser Grundlage lassen sich dann Überlegungen für Erziehung (Kap. 2) und Unterricht (Kap. 3) anstellen sowie infolge dessen an konkreten Unterrichtssituationen (Kap. 4) beispielhaft Antwortversuche erarbeiten.
Auf den Punkt gebracht!
−Die Zahl der Kinder mit psychischen Erkrankungen war über Jahre gleichbleibend hoch, steigt mit den Belastungen der Corona-Pandemie jedoch deutlich an.
−Die Zahl der Kinder mit emotional-sozialem Förderbedarf ist immens gestiegen. Die Gründe hierfür sind vielfältig, aber nicht eindeutig klärbar.
−Auffälliges Verhalten ist nicht immer das,...
Erscheint lt. Verlag | 11.7.2022 |
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Reihe/Serie | Inklusive Grundschule konkret |
Zusatzinfo | 6 Abb. 1 Tab. |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sozialwissenschaften ► Pädagogik ► Sonder-, Heil- und Förderpädagogik |
Schlagworte | Hilfestellung • Inklusion • Praxiswissen • Reflexionsaufgaben • Verhaltensauffälligkeiten |
ISBN-10 | 3-497-61617-6 / 3497616176 |
ISBN-13 | 978-3-497-61617-6 / 9783497616176 |
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