Demokratie als Zumutung (eBook)
336 Seiten
Klett-Cotta (Verlag)
978-3-608-11925-1 (ISBN)
Felix Heidenreich ist Philosoph und Politikwissenschaftler. Er forscht zu Fragen der Demokratietheorie, der Kulturphilosophie und der Wirtschaftsethik.
Felix Heidenreich ist Philosoph und Politikwissenschaftler. Er forscht zu Fragen der Demokratietheorie, der Kulturphilosophie und der Wirtschaftsethik.
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Krisendiagnosen im Vergleich
Im Juni 2016 veranstaltete ich eine deutsch-französische Tagung mit britischer Beteiligung. Das Thema lautete: Konstellationen der Souveränität in Europa. Wir hatten uns vorgenommen, der Wiederkehr einer Rhetorik der Souveränität nachzugehen. Nicht nur in Frankreich forderte Marine Le Pen, ihr Land müsse endlich wieder souverän werden. Auch in Großbritannien war im Rahmen der Brexit-Kampagne beständig der Verweis auf Souveränität zu hören. Take Back control!
Seit 2015 war auch in Deutschland der Ruf nach nationaler Souveränität lauter geworden. In einem interdisziplinären Setting wollten wir nachvollziehen, welche ideengeschichtlichen Topoi hier verwendet, welche staatsrechtlichen Fragen hier aufgeworfen und welche Konstruktionsprobleme in der EU damit zu Recht thematisiert wurden. Denn meist war die Rede von der »Souveränität« vor allem gegen die EU gerichtet: Sie zerstöre die nationale Souveränität und damit die nationalstaatliche Demokratie. Wir hörten Beiträge aus dem Staatsrecht und den Medienwissenschaften. Hat die EU wirklich ein Demokratiedefizit? Worin genau besteht es? Wie verhalten sich verschiedene Ansprüche auf Souveränität zueinander? Ist die EU ein Mechanismus, der Nationalstaaten die Ausübung von Souveränität in einer globalisierten Welt allererst ermöglicht? Wie plausibel ist der Begriff überhaupt noch? Das waren unsere Fragen.
In den Kaffeepausen war das anstehende britische Referendum Thema. That’s not going to happen, war man sich einig. »Mit der EU im Rücken können die Briten in Hongkong vielleicht noch ein Wörtchen mitreden, ohne EU sind sie ein Zwerg.« »So blöd sind die Briten nicht.« Doch eine britische Teilnehmerin war vorsichtiger. »Wer weiß, was alles passiert.« Die Unzufriedenheit in ihrer Heimat sei groß. Wer immer nur nach London reise, mache sich keine Vorstellung davon, wie perspektivlos die Lage in manchen Regionen Englands sei, wie tief der englische Nationalismus sitze.
Wenige Tage später kam der große Knall. Boris Johnson feierte seinen Independence Day. Nigel Farage triumphierte. Über Jahre als Spinner verhöhnt, hatte er es allen gezeigt. Die Briten waren raus, und die EU stand da wie ein Verein von Trotteln. Aber auch die Politikwissenschaft hatte Grund für Selbstzweifel. Kaum jemand hatte den Brexit kommen sehen. Und als rund ein halbes Jahr später Donald Trump gewählt wurde, ging die zweite kalte Dusche auf das Haupt der politikwissenschaftlichen Expertinnen und Experten nieder. Niemand hatte dies für möglich gehalten, nicht nur aufgrund der Umfrageergebnisse, sondern weil die Phantasie schlicht nicht ausreichte, sich Trump tatsächlich als Präsidenten auszumalen.
Verantwortlich für diesen Mangel an Phantasie war wohl eine gewisse universitäre Betriebsblindheit. Welcher Akademiker kennt schon die Reality-Show »The Donald«? Selbst der Besitz eines Fernsehers gilt in manchen akademischen Kreisen bereits als untrügliches Zeichen einer gefährlichen Verlotterung. Eine größere Gefahr ist die Projektion rationalen Verhaltens auf eine Wählerschaft, die nach ganz anderen, viel stärker erratischen Kriterien urteilt. Die »Wissenschaft« möchte gerne einen Gegenstand haben, der sich auch für eine rationale Untersuchung eignet: rationale Wähler, strategisch denkende Eliten, langfristige Pläne. Dass viele Wählerinnen und Wähler gar nicht wissen, wen sie wählen, dass Entscheidungen auf Stimmungen und Bildern, nicht auf abgewogenen Präferenzen beruhen, weiß man zwar irgendwie, aber es ist schwer die Konsequenzen zu ziehen.
Sollte man also öfter die BILD-Zeitung, die Gala, das Goldene Blatt lesen, um die Krise der Demokratie zu verstehen? Müssen wir auf die medialen Misthaufen dieser Welt steigen, zu FoxNews, ins deutsche Privatfernsehen, in die Facebook-Gruppen und Chats der Rechtsextremen, um zu verstehen, was geschieht? Mit welchen Mitteln, aus welcher Perspektive, mit welchen begrifflichen, wissenschaftlichen, statistischen Mitteln lässt sich die Krise der Demokratie angemessen beschreiben?
Der Politikwissenschaftler Yascha Mounk stellte 2016 in einem immer noch bemerkenswerten Artikel dem eigenen Fach ein schlechtes Zeugnis aus: Verliebt in die eigenen Methoden, die Korrelationsanalysen und Rationalitätsmodelle, sei seine Disziplin betriebsblind geworden.[1] Nicht zu wenig, zu viel komplizierte Methodik sei das Problem.
Diese Verunsicherung über die angemessene Arbeitsweise des Faches muss man im Hinterkopf behalten, wenn man die politikwissenschaftliche Debatte über die Krise der Demokratie rekonstruieren will: In vielen Fällen unterscheiden sich nicht erst die Folgerungen und Ergebnisse, sondern bereits die Werkzeuge fundamental. Wer Zahlen sehen will, wird anderes finden als jene, die auf Symbole, Gefühle, politische Phantasien, das sogenannte »politische Imaginäre« blicken. Die Tatsache, dass der Aufstieg Trumps weite Teile des Fachs so kalt erwischt hat, sollte durchaus Anlass dazu geben, das wissenschaftliche Instrumentarium in Frage zu stellen, mit dem in der Regel über Demokratie geforscht wird.
Die Anfeindung von innen
Januar 2020. Der Blick in die Nachrichten bietet ein nahezu apokalyptisches Bild. Soeben ist der iranische General Soleimani in Bagdad durch eine amerikanische Drohne getötet worden. Der Iran kündigt Vergeltungsmaßnahmen an. Auf den Straßen Teherans und Kermans, der Heimatstadt des Generals Soleimani, schwören Hunderttausende Anhänger den Amerikanern Rache. Doch damit nicht genug. Der amerikanische Präsident droht dem Iran, als Reaktion auf mögliche Angriffe kulturelle Ziele anzugreifen. 52 sollen es sein – genau die Anzahl der amerikanischen Geiseln, die einst in der Botschaft in Teheran festgehalten wurden und deren Demütigung im Nachgang der iranischen Revolution wie eine offene Rechnung zwischen den beiden Regierungen steht.
Vor dem inneren Auge stehen die Bilder der berühmten Moscheen von Isfahan, die Ruinen von Persepolis, die Wüstenstadt Yazd. Die Welt horcht auf. Könnte das eine Falschmeldung gewesen sein? Oder hat tatsächlich der Präsident der USA, der, so wird stets gesagt, ältesten Demokratie der Welt, mit Taten gedroht, die unzweifelhaft als Kriegsverbrechen zu werten wären? Taten, die die USA auf dieselbe Stufe wie die Taliban stellen würden, deren Zerstörung der Buddha-Statuen von Bamiyan 2001 ihren Ruf als Barbaren nährten, auf dieselbe Stufe wie den IS, der mit der Zerstörung vom Palmyra einen weiteren Mosaikstein in ein Schreckensbild legte?
August 2020. Dieses Mal befinden wir uns nicht in den USA, sondern in Deutschland, in Berlin, auf der Treppe des Reichstagsgebäudes. Ein Samstag, der 29. August. Soeben wurde eine Demonstration gegen die Corona-Maßnahmen aufgelöst. Plötzlich überwinden rund 400 Rechtsextreme mit Reichsflaggen die behelfsmäßigen Absperrungen vor dem Reichstagsgebäude und stürmen die Treppe. Die Polizei ist nicht nur überrumpelt, sondern vor allem unterbesetzt. Mit großem Mut stellen sich einige wenige Beamte der Meute in den Weg. Später wird sich herausstellen, dass es sich bei dieser Attacke keineswegs um eine spontane Aktion handelte. Gegen die Heilpraktikerin Tamara K. werden Ermittlungen wegen »aufwieglerischen Landfriedensbruchs« eingeleitet. Sie stand kurz zuvor vor der russischen Botschaft zwischen Reichskriegsflaggen und Neonazis am Mikrophon. Sie wähnt sich offenbar im Kampf gegen eine kommende Corona-Diktatur und hatte im Milieu der »Reichsbürger« für den Sturm des Parlaments plädiert. Fotos zeigen eine junge Frau aus der Eifel mit Meditationsarmband und langen Rastafari-Haaren. Nun heizt sie dem Mob ein und ruft dazu auf, sich das »Hausrecht« »zurückzuholen«. Die Bilder aus Berlin gehen um die Welt. Selbst der Bundespräsident...
Erscheint lt. Verlag | 23.7.2022 |
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Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | aktive Bügerbeteiligung • Bürger als Citoyen • Demokratie • Demokratiebewegung • Freiheit • Freiheitsdenken • Politikverdrossenheit • Politische • Populismus • Postdemokratie • Rechtspopulismus • Wahlpflicht |
ISBN-10 | 3-608-11925-6 / 3608119256 |
ISBN-13 | 978-3-608-11925-1 / 9783608119251 |
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