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Teilhabeziele planen, formulieren und überprüfen (eBook)

ICF leicht gemacht
eBook Download: EPUB
2022 | 2. Auflage
132 Seiten
Ernst Reinhardt Verlag
978-3-497-61615-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Teilhabeziele planen, formulieren und überprüfen -  Manfred Pretis
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Kinder mit Entwicklungsschwierigkeiten sollen in größtmöglichem Umfang an der Gesellschaft teilhaben. Das ist heute Ziel aller Förder- und Therapiemaßnahmen. Das Bundesteilhabegesetz sowie die ICF sehen vor, dass in allen pädagogischen Handlungsfeldern Teilhabeziele für diese Kinder erarbeitet werden. Dafür sollen Fachkräfte gemeinsam mit Eltern in Teilhabezielen denken und handeln. Viele Fachkräfte müssen sich umstellen. Für sie standen bisher oft fachlich begründete Maßnahmen im Vordergrund anstelle der aktiven Perspektive des Kindes. Beispiele zeigen, wie kontextorientierte Teilhabeziele für Kinder und Jugendliche unterschiedlichen Alters und mit verschiedenen Entwicklungsschwierigkeiten aussehen können.

Prof. Dr. Manfred Pretis, Heilpädagoge und klinischer Psychologe, lehrt transdisziplinäre Frühförderung an der Medical School Hamburg, EU-Projektkoordinator zur Implementierung der ICF in Schulen (www.icf-school.eu), UNICEF Berater.

Prof. Dr. Manfred Pretis, Heilpädagoge und klinischer Psychologe, lehrt transdisziplinäre Frühförderung an der Medical School Hamburg, EU-Projektkoordinator zur Implementierung der ICF in Schulen (www.icf-school.eu), UNICEF Berater.

2 Was braucht Teilhabe?

2.1 Die ICF als Hilfsmittel

Der Begriff der Teilhabe ist beinahe untrennbar mit der ICF verbunden. In diesem Klassifikationssystem stellt Teilhabe / Partizipation eine relevante Gesundheitskomponente dar. Dies fußt auf Vorläufermodellen (WHO 1980), die erstmals in den 1980er Jahren darauf verwiesen, dass Behinderung vor allem ein soziales Konstrukt darstellt (als Ausgeschlossensein von gesellschaftlicher Teilhabe). Bei älteren WHO-Klassifikationssystemen, wie der ICD-10 (WHO 2015), der Klassifikation gesundheitlicher Störungen, taucht dieser Mitgestaltungsaspekt an sozialen Wirklichkeiten kaum auf. Das Formulieren von Teilhabezielen ist ursprünglich auch in der ICF nicht explizit erwähnt. Wie bei Pretis, Kopp-Sixt und Mechtl (2019) bereits diskutiert, scheint die WHO-Grafik somit in der Zielperspektive jeglicher Intervention unvollständig. Wenn Teilhabe die Hauptzielkategorie von Fördermaßnahmen für Menschen mit einem Gesundheitsproblem darstellt, dann müssten sich aus den Wechselwirkungen der einzelnen Gesundheitskomponenten bzw. resultierenden Teilhabebeeinträchtigungen logischerweise Teilhabeziele ergeben. Abbildung 1 bildet diese Schlussfolgerung als Ergänzung der WHO-Grafik ab.

Um in diesen Zielperspektiven zu denken und zu handeln, darf nicht übersehen werden, dass Teilhabe nur einen Aspekt der Hinwendung zu Menschen mit einem Gesundheitsproblem darstellt und dass die fünf weiteren relevanten Aspekte nicht vernachlässigt werden dürfen. Die Reihenfolge der Auseinandersetzung (womit im Gespräch mit den Eltern beginnen?) ist grundsätzlich frei wählbar. Meist wird der Ausgangspunkt, von dem aus sich Fachkräfte gemeinsam mit den Eltern mit der ICF auseinandersetzen, das Gesundheitsproblem des Kindes sein, da dieses meist der Auslöser ist, warum sich Eltern überhaupt an Fachkräfte wenden.

2.2 Teilhabeziele und die Big 6 der ICF

Als die BIG 6 der ICF (Abb. 1), teilweise auch als Big 5 (unter Weglassen der Gesundheitssorge oder Diagnose) bezeichnet, werden jene Gesundheitskomponenten beschrieben, die in der Selbstbefähigung von Menschen (mit einem Gesundheitsproblem) eine relevante Rolle spielen (Pretis et al. 2019). Zwischen diesen Gesundheitskomponenten sind dabei, wie in Abbildung 1 dargestellt, unzählige Wechselwirkungen zu beobachten, repräsentiert durch die Pfeile in beide Richtungen.

Abb. 1: WHO-Grafik ergänzt durch Teilhabeziele (Pretis 2020a, 154)

2.2.1 Teilhabe und Gesundheitssorgen

Wenn im Folgenden von Teilhabebeeinträchtigungen und relevanten Teilhabezielen die Rede ist, beziehen sich diese Ziele in der Regel auf Gesundheitsprobleme oder auf bestehende Diagnosen. Das können beispielsweise von den Eltern erlebte Auffälligkeiten oder Sorgen sein: „Unser vierjähriger Sohn spricht zu Hause noch nicht.“ Das kann auch Diagnosen betreffen wie z. B. Q87, das Prader-Willi-Syndrom (sonstige angeborene Fehlbildungssyndrome) oder Sorgen von Fachkräften, z. B. von der Kita-Erzieherin, dass der Junge in der Kita so unaufmerksam wirkt. Werden in weiterer Folge Teilhabeziele für ein Kind formuliert, so sollte ein logischer Zusammenhang mit der Gesundheitssorge bestehen. Die Gesundheitssorge der Kita-Erzieherin (hier: die Aufmerksamkeitsspanne des Kindes) hängt somit logisch mit einem möglichen Teilhabeziel in der Kita (z. B. Einzelaufgaben abzuschließen) zusammen. Wenn die Diagnose F80 (umschriebene Entwicklungsstörung des Sprechens und der Sprache) vorliegt, so liegt der Fokus der Teilhabe auf der Kommunikation. Wenn die Diagnose Prader-Willi-Syndrom lautet, kann ein Fokus auf dem Teilhabeaspekt Selbstversorgung, im Speziellen „Essen“, und auf dem „Lernen“ liegen, da bei Kindern mit Prader-Willi-Syndrom beides potenzielle Gesundheitssorgen darstellen, die aus der Diagnose resultieren. Diese logischen Zusammenhänge verweisen darauf, dass bei der Erstellung von Teilhabezielen zwar die hochindividuelle Situation eines Kindes oder eines Jugendlichen mit Entwicklungsschwierigkeiten sprachlich zu berücksichtigen ist, dass aber die Gesundheitssorge oder Diagnose genauso in logischem Einklang mit erwarteten Teilhabebeeinträchtigungen stehen sollten. Denn Diagnosen oder Gesundheitssorgen der Eltern geben in der Regel auch eine (evidenzbasierte) Richtung der Intervention vor.

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Das Berücksichtigen von Gesundheitssorgen bei der Formulierung von Teilhabezielen hebt die Wahrscheinlichkeit, evidenzorientierte Strategien zu finden und den Behandlungserfolg zu heben.

Dabei geht es natürlich um die jeweils hochindividuelle Situation eines Kindes in seinem Umfeld, gleichzeitig aber auch um belegbares Erfahrungswissen, welche Teilhabebeeinträchtigungen bei welcher Diagnose zu erwarten sein könnten und welche Interventionen als erfolgreich angesehen werden. Dabei kann es auch hilfreich sein, sogenannte ICF-Core-Sets (z. B. einzelne Syndrome betreffend) nach Vorliegen einer Diagnose zu verwenden, um sich zu erwartender Teilhabebeeinträchtigungen bewusst zu werden. Solche existieren z. B. für Kinder mit Autismus (Castro / Pretis 2016) oder für Kinder mit Zerebralparese (Schiariti et al. 2014). Tabelle 5 zeigt mit einiger Wahrscheinlichkeit relevante (diagnosenassoziierte) Teilhabeaspekte, die in der Förderung bei unterschiedlichen Diagnosen eine Rolle spielen könnten.

Tabelle 5 kann als Hilfsmittel dienen, bei speziellen Gesundheitssorgen oder Diagnosen solche assoziierten Aspekte zu berücksichtigen. Generell berührt jedoch der Zusammenhang zwischen Teilhabe und Diagnosen beziehungsweise Gesundheitssorgen ein generelles philosophisches Thema in der Förderung von Menschen mit Gesundheitsproblemen: Es stellt sich die Frage, inwiefern Interventionen die Aufgabe verfolgen sollten, Defizite und Symptome so weit wie möglich zu reduzieren bzw. auszugleichen oder ob andererseits ein ressourcenorientierter Fokus nicht eher dazu dienen sollte, nicht betroffene Teilhabebereiche zu stärken. Überspitzt formuliert könnte dies in der Frage münden: Soll bei einem Kind mit Autismus a) seine Interaktions- und Kommunikationsfähigkeit verbessert werden, da in beiden Bereichen Teilhabebeeinträchtigungen zu beobachten sind, oder sollen b) bestehende Stärken des Kindes, z. B. ein spezielles Interesse an Zahlen, unterstützt werden?

Tab. 5: Gesundheitssorge, Diagnose und mögliche Teilhabebeeinträchtigungen

Gesundheitssorge (z. B. vonseiten der Eltern)

Diagnose

Teilhabeaspekt

Unser Kind soll in der Schule mit dem Lehrstoff „mitkommen“.

Q90 (Down-Syndrom)

Lernen

Unser Kind soll lesen lernen, Antworten geben, wenn es gefragt wird und mit anderen Kindern spielen.

F84 (tiefgreifende Entwicklungsstörung, Autismus)

Kommunikation, Interaktion

Unser Kind soll sich selbstständig bewegen können.

G81 (Hemiparese und Hemiplegie)

Mobilität, Selbstständigkeit, Selbstversorgung

Unser Kind soll überleben, unser Kind soll sich bewegen.

P07 (Störungen im Zusammenhang mit kurzer Schwangerschaftsdauer und niedrigem Geburtsgewicht, in weiterer Folge als extreme Frühgeburtlichkeit bezeichnet)

Interaktionen

Lernen, Mobilität

BEISPIEL

Klaus ist ein fünfjähriger Junge aus München. Er wird von seiner alleinerziehenden Mutter betreut. Klaus beschäftigt sich am liebsten mit Legosteinen, die er nach Farben ordnet. Die Mutter von Klaus beschreibt ihn eher als vorsichtiges und zurückgezogenes Kind. Die Entwicklungsschwierigkeiten von Klaus wurden erstmals in einer U-Untersuchung angesprochen: Klaus kommunizierte im Alter von 30 Monaten mit drei bis vier Einzelwörtern und forderndem Zeigen. Die Mutter verwies auf eine mögliche familiär bedingte verzögerte Sprachentwicklung, da auch der Vater ähnliche Sprachentwicklungsschwierigkeiten zeigte, die sich jedoch bei Eintritt in die Schule nicht mehr als relevant erwiesen. Im Alter von vier Jahren nahm die Mutter von Klaus Logopädie in Anspruch.

Beide Strategien schließen einander nicht aus, trotzdem ist als klassischer Ansatz in beinahe allen (Früh)fördersystemen der Welt zu beobachten, dass Teilhabeziele aus dem Defizit, z. B. der Diagnose (F80, umschriebene Entwicklungsstörung des Sprechens und der Sprache) oder der mütterlichen Sorge, dass Klaus endlich zu sprechen beginne, abgeleitet werden. Die Ressourcenorientierung wird häufig als personbezogener „Eisbrecher“ verwendet. Generell würde jedoch am „Defizit gearbeitet“ werden, was auch der Motivation der Mutter entspricht, Hilfe in Anspruch zu nehmen....

Erscheint lt. Verlag 11.7.2022
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Pädagogik Sonder-, Heil- und Förderpädagogik
Schlagworte Bundesteilhabegesetz • Eltern • Elternarbeit • Entwicklungsstörung • Fachkraft • Förderplanung • Förderung • ICF • Inklusion • Jugendliche • Kind • Kontextorientierung • Pädagogik • Sonderpädagogischer Förderbedarf • Teilhabe • Teilhabe und Gesundheitssorge • Teilhabeziele evaluieren • Therapie • Therapieplanung • WHO-Beurteilungsmerkmal • Zielformulierung • Zielüberprüfung
ISBN-10 3-497-61615-X / 349761615X
ISBN-13 978-3-497-61615-2 / 9783497616152
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