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Ware Mensch -  Dietmar Roller

Ware Mensch (eBook)

Die vielen Gesichter moderner Sklaverei. Wie wir sie durchschauen und stoppen können.
eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
232 Seiten
adeo (Verlag)
978-3-86334-862-5 (ISBN)
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40 Millionen Menschen in Sklaverei. Noch nie waren weltweit so viele Menschen betroffen wie heute! Jeder kann sich heute einen versklavten Menschen leisten, denn billiger als jedes Smartphone ist die 'Ware' Mensch. 80 Euro ist der aktuelle 'Durchschnittspreis' weltweit. Millionen Kinder und Erwachsene werden in Fabriken, Haushalten, Bordellen und Minen festgehalten, ausgebeutet und missbraucht. Dietmar Roller, Experte für Entwicklungszusammenarbeit, kennt all die Orte, an denen Sklavenhändler sich außerhalb des Rechtssystems wie selbstverständlich bewegen. Er erzählt von konkreten Schicksalen, aber auch von Erfolgsgeschichten - und von sich selbst und seiner Leidenschaft für ein gerechtes Leben für alle Menschen. Er nimmt uns mit auf seine Suche nach Antworten: Wie kann Sklaverei endlich beendet werden? Was können wir dazu beitragen? Denn eins ist sicher: Das Thema hat mehr mit unserer Realität zu tun, als wir denken. Das Buch ist ein Augenöffner, aber vor allem ist es eins: ein Hoffnungsmacher.

Dietmar Roller ist Entwicklungsexperte mit über 30 Jahren Projekterfahrung in Asien, Afrika & Lateinamerika und Vorstandsvorsitzender der Menschenrechtsorganisation International Justice Mission Deutschland e. V. (IJM), die weltweit Menschenhandel und Sklaverei bekämpft.

Dietmar Roller ist Entwicklungsexperte mit über 30 Jahren Projekterfahrung in Asien, Afrika & Lateinamerika und Vorstandsvorsitzender der Menschenrechtsorganisation International Justice Mission Deutschland e. V. (IJM), die weltweit Menschenhandel und Sklaverei bekämpft.

Der Einsturz:
Sklaverei ist noch immer Realität

„Wann werden wir lernen, dass Menschen einen unendlichen Wert haben, weil sie nach dem Bilde Gottes geschaffen sind, und dass es Gotteslästerung ist, sie so zu behandeln, als wären sie weniger als das, und dass solch ein Verhalten letztlich auf die zurückfällt, die dies tun?“
Desmond Tutu

„Weiter! Weiter!“, schnauzte der Mann. Seine muskulöse Gestalt und sein starrer Blick in dem zerfurchten Gesicht wirkten unheimlich. Der Junge vor ihm gab sich Mühe, schneller zu kurbeln und das Schaufelrad in ständiger Bewegung zu halten. Sein Arm war müde geworden. Nicht nur die Furcht vor dem Mann, dem er hörig war, trieb ihn an. Er wusste, dass es für seinen Freund viele Meter unter ihm im Stollen um alles ging,

An dem Schaufelrad, das in einem halbrunden Metallgehäuse befestigt war, hing ein Gartenschlauch, der in dem etwa fünfzig Meter tiefen Schacht neben dem Jungen verschwand. Am Ende des Schlauches war ein Trichter befestigt, über den der Freund unten mit Luft versorgt wurde. Die beiden Jungen, die nicht älter als acht oder neun Jahre alt waren, wechselten sich ab. Mal war der eine oben und kurbelte und der andere unten, mal war es andersherum. Sie wussten, dass ihr Leben von der wenigen Luft abhing, die unten ankam. Am Ende des Schachts waren sie allein in der Enge und Dunkelheit. Selbst ihre schmächtigen Körper konnten sich nur liegend weiterschieben. Stundenlang klopften sie mit ihrem Pickel im schwachen Licht der Taschenlampe, die mit einem Fahrradschlauch um ihren Kopf gebunden war, goldhaltiges Gestein ab.

Der Nordwesten Tansanias hat vermutlich das größte Goldvorkommen in ganz Ostafrika. Mehr als hundertausend Menschen graben hier in kaum gesicherten Stollen nach Gold – illegal neben den zugelassenen Minen ausländischer Firmen oder jenseits davon in bisher unerschlossenen Gebieten des Regenwaldes. Die Goldgräber kommen aus verschiedenen Regionen Tansanias und den Nachbarländern. Sie glauben den kursierenden Geschichten vom großen Reichtum und machen sich mit der Hoffnung auf den Weg, endlich die Armut hinter sich lassen zu können.

In Mguzu, etwa 15 Kilometer von der Kleinstadt Geita entfernt, verdienen tatsächlich nur wenige Goldgräber das große Geld und es sind die Skrupellosesten, die von der Knechtschaft der anderen profitieren. Mitten im Wald arbeiten Zehntausende Arbeiterinnen und Arbeiter ohne Hilfe von Maschinen und können meist nur so viel schürfen, dass es zum Überleben reicht. Unter ihnen sind viele Männer, aber auch Frauen und Kinder. Schacht an Schacht graben sie sich in den Berg, der von einem Wirrwarr von Gängen durchzogen ist. Wem welcher Stollen gehört und wer das Anrecht auf die Goldfunde darin hat, wird bestenfalls mit Geld, oft aber durch Überfälle und Kämpfe geregelt. Das Recht der Stärkeren ist die einzige Ordnung. Die Goldsuche macht viele Menschen gierig und brutal. Die Atmosphäre ist explosiv, es herrscht eine Mischung aus Gewalt, Ausbeutung und Elend.

Immer den Schlaglöchern nach

Als ich 1990 zum ersten Mal nach Mguzu kam, wusste ich nicht, was mich dort erwarten würde. Erst einige Monate zuvor im April des Jahres war ich mit meiner Familie von Deutschland nach Geita gezogen, um in der Region und später in ganz Ostafrika kirchliche Entwicklungsprojekte zu koordinieren. In Geita war ich für ein Jugendzentrum verantwortlich, das neben Projekten für Kinder und Jugendliche junge Erwachsene in Handwerksberufen ausbildete. Auch die Aufklärung über HIV/Aids war ein wichtiger Bestandteil meiner Arbeit. Zu dieser Zeit gab es in den afrikanischen Ländern südlich der Sahara weltweit die meisten Infektionen und Todesfälle. Nahezu ungehindert konnte sich das Virus verbreiten, denn die Menschen wussten zu wenig über die Krankheit und glaubten kuriosen Märchen, die sie irgendwo aufgeschnappt hatten. Niemand sprach offen über HIV/Aids und erst recht nicht über Sexualität.

Als Fremder mit den Menschen über ein solches Tabuthema zu sprechen, erforderte Kreativität und Vertrauen. Mein gerade abgeschlossenes Studium hatte mir gute Konzepte und Theorien an die Hand gegeben, die in der Praxis jedoch erst einmal unwichtig waren. Ich musste bei den Menschen ankommen, die ich unterstützen wollte, und verbrachte deshalb jede freie Minute bei ihnen. Wir aßen zusammen, lachten und ich verstand, was sie freute, ärgerte und sorgte. Straßenkisuaheli lernte ich schnell dank ihrer Hilfe.

Von Mguzu hörte ich viel, doch es klang verwirrend für mich. „Viel Zauber“ wäre an dem Ort und die Goldgräber wären „verrückt und unberechenbar“. Jeden Tag kamen sie in die Stadt, kauften auf dem Markt Lebensmittel, Werkzeuge und anderes Zubehör für ihre Arbeit und tauschten ihre Funde ein. Wir wohnten nahe der Bank, die das Gold ankaufte. Der tansanische Schilling war so wenig wert, dass die Menschen manchmal Millionen Schillingscheine, umgerechnet ein paar Hundert Euro, in Waschkörben aus der Bank trugen und auf dem Fahrrad nach Hause balancierten.

Meine Neugier ließ mich eines Tages mit meinem Motorrad den Goldgräbern von der Stadt nach Mguzu folgen. Es war einfach zu erkennen, wer zu ihnen gehörte. An ihrer Haut klebte rote schlammige Erde, die Kleidung hing abgewetzt an ihnen herunter. Die Straße durch den Wald war ungeteert und gespickt von Schlaglöchern. Es roch nach Holzkohlenfeuer, Rauchschwaden lagen über den Bäumen in der Ferne, wo vereinzelt einfach gebaute Lehmhütten standen. Wie viele Menschen hier lebten, wusste niemand genau. Manche schätzten Zehntausende. Sicherlich variierte die Zahl, je nachdem, ob gerade viel Gold in der Region gefunden wurde oder nicht. Dann zogen einige wieder weiter, um woanders ihr Glück zu suchen.

Ich erreichte eine Ansammlung von mehreren provisorisch gebauten Hütten. Es roch nach Kloake. Als Toiletten fungierten Löcher im Boden, die durch den Regen am Vortag übergelaufen waren. Fließendes Wasser gab es nicht und Strom war der Luxus von wenigen. Ich folgte der Straße weiter um eine Kurve und dann lag er mitten im Tropenwald direkt vor mir, der Berg, dessen nackter Hang von lauter Schächten zerlöchert war wie ein Schweizer Käse.

Ich fuhr langsamer, denn immer mehr Menschen liefen auf der Straße. Ich hielt am Guesthouse an, das das Zentrum des Ortes zu sein schien. An ein Hotel erinnerten die kreisförmig angeordneten Lehmhütten, die als einzelne Zimmer dienten, kaum. Vor den Türen wuschen einige Frauen Wäsche, ihre kleinen Kinder blickten mich schüchtern an. Als Fremder fiel ich sofort auf. Der Besitzer des Guesthouses kam auf mich zu und ich stellte mich auf Kisuaheli vor. Er lächelte, als er meine noch fremd klingenden Worte hörte und fasste fragend zusammen: „Du hast was mit der Kirche zu tun?“ Ich nickte. „Komm am Sonntag zum Predigen“, schlug er kurzerhand vor. „Wir machen hier immer Gottesdienst.“

Am nächsten Sonntag kam ich wieder. Der Gottesdienst bestand überwiegend aus Singen und Tanzen. Dann kam eine kurze Andacht, ein Bibelvers wurde vorgelesen und immer wieder berichtete jemand unter großem Applaus und Jubel der anderen, wie Gott sein Gebet erhört hatte. Nach dem Gottesdienst aßen die Menschen zusammen und erzählten, was sie gerade beschäftigte. Sie wirkten unbeschwert. Später verstand ich, dass der Sonntagmorgen für sie der einzige Moment in der Woche war, wo sie das Elend um sich herum vergessen konnten. Ich kam häufiger. Die Gastfreundschaft und Herzlichkeit beeindruckten mich. Die Menschen hatten wenig, doch sie teilten miteinander, sodass es für jeden irgendwie reichte.

Mit der Zeit lernte ich Einzelne besser kennen: Die Kinder, die überall herumsprangen und mich erst aus der Ferne interessiert beobachtetet hatten und dann mit Fragen löcherten. Ich hörte den Frauen zu, die zu dritt oder zu fünft in den kleinen Zimmern des Guesthouses mit ihren Kindern, meist noch Babys, wohnten. Und ich traf viele Goldgräber. Irgendwann sagte einer von ihnen zu mir: „Komm mit uns mit und guck, wo wir arbeiten!“

Auf der Suche nach der Goldader

Einige Tage später folgte ich den Goldgräbern den Zickzackweg am Hang des Berges hinauf. Jeder Schacht, zu Beginn etwa einen Quadratmeter groß, ging senkrecht von einer kleinen Holzterrasse ab. Oben war das Loch mit Holz umrandet und befestigt, darunter ging es ohne Sicherung 20, 50, manchmal sogar 70 Meter in die Tiefe. Links und rechts im Schachtinnern waren kleine Löcher als Hilfe zum Klettern ausgeschlagen. Ein falscher Tritt war lebensgefährlich. Auf der Suche nach der Goldader oder an ihr entlang ging unten im Schacht waagerecht ein Gang 70 bis 80 Meter in den Berg. Die goldhaltigen Gesteinsbrocken sammelten die Arbeiter in einem Eimer, der von oben über eine Seilwinde hochgezogen wurde.

Auf mich wirkten die vielen Terrassen am Hang chaotisch, doch untereinander war genau geregelt, wem welches Gebiet, ein sogenannter Claim, gehörte. Meistens gehörten sie Kaufleuten, die selten selbst auftauchten und ein Team angeheuert hatten, das vor Ort die Arbeit regelte. Wächter passten auf, dass kein Gold in den eigenen Taschen der Arbeiter verschwand.

Am Ende waren die Gänge in den Stollen so eng, dass nur noch Kinder kriechend weiterkamen. Liegend schlugen sie dort über Stunden Zentimeter für Zentimeter goldhaltiges Gestein heraus. Nach einer kurzen Pause oben an der Luft kletterten sie wieder hinunter. Tagein, tagaus. Manche Kinder wurden bis zu zehn Stunden unten gelassen. Sie kamen erst abends wieder hoch und sahen kein Tageslicht mehr.

Die Kinder und Jugendlichen waren schätzungsweise zwischen acht und 14 Jahre alt. In den Stollen arbeiteten nur Jungen, denn die Goldgräber...

Erscheint lt. Verlag 23.9.2022
Verlagsort Asslar
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Armutsbekämpfung • Aufklärung • Ausbeutung • Billigware • Ende der Sklaverei • Frauen • Gefangenschaft • Gewalt • Globalisierung • Goldgräber • International Justice Mission • Kinderarbeit • Klimawandel • Konsum • Menschenhandel • Menschenrechte • Missbrauch • Nachhaltigkeit • Sexarbeit
ISBN-10 3-86334-862-1 / 3863348621
ISBN-13 978-3-86334-862-5 / 9783863348625
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