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Klassenbeste (eBook)

Wie Herkunft unsere Gesellschaft spaltet

(Autor)

eBook Download: EPUB
2022
224 Seiten
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
978-3-446-27577-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Klassenbeste - Marlen Hobrack
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Von arbeitenden Frauen, Fallschirmmüttern und Mittelschichtsfeministinnen - Marlen Hobrack formuliert die Klassenfrage aus weiblicher Perspektive radikal neu.
Die Wäschekörbe waren immer voll - nicht mit Wäsche, sondern mit unbezahlten Rechnungen, die ihre Mutter trotz harter Arbeit nicht pünktlich bezahlen konnte. Wenn Marlen Hobrack an ihre Kindheit in Armut in einem bildungsfernen Haushalt denkt, stellt sie immer wieder fest, wie wenig ihr Aufwachsen mit den Herkunftserzählungen der Mittelschicht gemeinsam hat, zu der sie als erfolgreiche Journalistin zählt. Aber gehört sie als Grenzgängerin zwischen den Klassen wirklich dazu? Als alleinerziehende Ostdeutsche, die mit 19 Mutter wurde?
Prägnant und erhellend räumt 'Klassenbeste' mit Mittelklassemythen von Chancengleichheit und sozialem Aufstieg auf - und zeigt, dass jede identitätspolitische Debatte im Kern eine Klassenfrage ist.

Marlen Hobrack wurde 1986 in Bautzen geboren. Sie studierte Literatur-, Kultur- und Medienwissenschaften und arbeitete im Anschluss für eine Unternehmensberatung. Seit 2016 schreibt sie hauptberuflich für diverse Zeitungen und Magazine, u. a. FREITAG, TAZ, ZEIT, WELT und MONOPOL. Bei Hanser Berlin erschien von ihr zuletzt Klassenbeste (2022).

Einleitung


Ich stamme aus einem bildungsfernen Elternhaus. So nennt man das soziologisch steif. Mein Vater verließ die Schule nach der achten Klasse und blieb sein Leben lang ein ungelernter Arbeiter, der mal als Umzugshelfer, mal als LKW-Fahrer arbeitete. Meine Mutter verließ die Schule nach der neunten Klasse. Sie brachte es von der Fleischereifachverkäuferin zur Sachbearbeiterin, wurde schließlich verbeamtet und arbeitete insgesamt fünfundzwanzig Jahre lang in einer Justizvollzugsanstalt. Meine beiden Geschwister und ich machten Abitur, studierten und rückten mit unseren Berufen als Pflegeheimleiterin, Lehrer und Journalistin in die Mitte der Gesellschaft.

Unsere Geschichte klingt wie die Einlösung des meritokratischen Versprechens der bürgerlichen Gesellschaft: Arbeite hart, streng dich an, dann wirst du es zu etwas bringen. Doch dieser unerhörte Klassenwechsel ereignete sich in einer historischen Ausnahmesituation: den Nachwendejahren. Alte staatliche Hemmnisse, die den Zugang zur höheren Bildung erschwert hatten, etwa die Kopplung der Studienzulassung an Staatstreue und Armeeverpflichtung, waren durch die Wiedervereinigung beseitigt worden. Zugleich konkurrierten Mittelschichtseltern und Bildungsferne noch nicht um den Zugang zum Gymnasium, einem wichtigen Garanten für den Klassenerhalt oder -aufstieg der Kinder. Das System war für kurze Zeit offen. Bald würden sich auch im ehemaligen »Arbeiter-und-Bauern-Staat« und dem nunmehr neuen Teil der Bundesrepublik die Klassenverhältnisse verfestigen — und das bedeutet konkret, dass der Bildungserfolg der Kinder wesentlich vom Status und Bildungshintergrund der Eltern abhängt.

Das Erzählen über Klasse hat Hochkonjunktur. In den letzten Jahren erschien eine recht lange Liste mal biografisch, mal analytisch eingefärbter Bücher auf dem europäischen Buchmarkt. Christian Baron, Didier Eribon, Édouard Louis oder Darren McGarvey — um nur einige zu nennen — erzählen von Klasse, davon, wie es ist, von ganz unten zu kommen und sich heraufzuarbeiten. Sie zeichnen die feinen Unterschiede auf, wie sie Pierre Bourdieu in seiner gleichnamigen Untersuchung zum Habitus der unterschiedlichen Schichten herausarbeitete,1 die bisweilen schwer in Worte zu fassenden Differenzen. Dabei schaffen sie es, neue, identitätsstiftende Bilder für die Zugehörigkeit zur Arbeiterklasse zu finden.

Die Figur des Arbeiters, zuletzt so gründlich allenfalls in der DDR-Literatur oder der neusachlichen Literatur des frühen 20. Jahrhunderts beleuchtet, ist plötzlich allgegenwärtig. Doch welche Texte man auch liest, diese Figur ist vor allem eins: männlich. Wenn von Frauen der Arbeiterklasse erzählt wird, dann sind es Frauen von Arbeitern. Diese Frauen haben Anteil am Schicksal der Arbeiterklasse — meist als Opfer ihrer versoffenen, gewalttätigen Arbeitermänner —, aber sie sind in aller Regel nicht Subjekt der Verhandlungen über Klasse.

Nicht nur die Literatur tut sich schwer mit der Erzählung von Arbeiterinnenleben; auch in feministischen Betrachtungen hat die Figur der Arbeiterin einen schweren Stand. Sie kommt zwar in Form der ausländischen Putz- oder Pflegekraft in den Debatten um Care-Arbeit vor; doch sie erscheint in diesen Debatten als mehrfach Marginalisierte. Sie verkörpert als Figur nicht so sehr innergesellschaftliche Konflikte als vielmehr die Verlagerung von Konflikten nach außen. Sie löst als Sozialfigur, als sozialer Typus und Klischeefigur, bei Feministinnen zwar Mitleid oder ein Gefühl von Klassenscham aus, doch sie bleibt in den Darstellungen und Studien ein Opfer der Verhältnisse.

Der Grund für das Fremdeln vieler Feministinnen mit der Figur der Arbeiterin liegt auf der Hand: Es fehlt ein Bild für das, was es bedeutet, eine Arbeiterin zu sein. Es mangelt an konkreten Erzählungen darüber, wie es sich anfühlt, wenn die Funktionen von Produktion und Reproduktion von einem Subjekt und seinem Körper erfüllt werden müssen. Wenn ein Körper Erwerbsarbeit nachgeht und Kinder gebiert. Wenn sich das Subjekt nicht entscheidet zwischen Erwerbstätigkeit und Mutterschaft, sondern sehr selbstverständlich beides lebt.

Weil ich überzeugt bin, dass es Bilder und Geschichten braucht, um über gesellschaftliche Probleme zu sprechen, möchte ich von meiner Mutter erzählen. Ihre Biografie steht stellvertretend für die Biografien all der anderen Frauen, die mich sozialisierten — meiner Tanten, meiner Schwester, der Mütter von Freundinnen und Partnern. Alle sind Frauen, die die ihr Leben lang arbeiteten, und sehr häufig in jenen Berufen, die mit körperlicher Arbeit einhergehen.

Meine Mutter ist heute siebenundsechzig, sie arbeitet, seit sie zwölf war. Das macht fünfundfünfzig Arbeitsjahre. Eine erstaunliche Lebensleistung. Mit viel Fleiß und beeindruckender Resilienz arbeitete sie sich in die Mittelschicht hoch, wurde sogar verbeamtet. Und kehrte schließlich dorthin zurück, wo sie herkam: in die Arbeiterklasse. Seit ihrer Pensionierung arbeitet sie als Putzfrau.

Ziemlich lange druckste ich herum, wenn mich Bekannte fragten, was meine Mutter denn gerade arbeite. Ich hatte Hemmungen, das Wort »Putzfrau« auszusprechen, weil ich fand, dass es ein falsches Bild von ihr vermittelte. Sie arbeitete freiwillig als Putzfrau, sie hätte sich ja auch eine andere Beschäftigung suchen können. Meine Hemmung kommt nicht von ungefähr: Innerhalb unserer sozialen Hierarchie steht die Putzfrau ganz unten. Zumeist nehmen wir sie gar nicht wahr, wollen sie auch nicht wahrnehmen. Mein Unbehagen zu bekennen, welche Tätigkeit meine Mutter ausübt, spiegelt die Mittelschichtsperspektive auf eine ehrenwerte und systemrelevante Tätigkeit wider. Sie ist Klassendünkel.

Eine Biografie lässt sich immer wieder anders erzählen, und so ließe sich auch die Biografie meiner Mutter auf jeweils andere Arten erzählen: als Aufstieg aus ärmsten Verhältnissen in die Mittelschicht, als Beleg dafür, dass sich harte Arbeit zuletzt auszahlt und dass jeder es zu etwas bringen kann. Ihre Geschichte ließe sich als Aufstieg einer Person erzählen, deren Kinder innerhalb der Mittelschicht weiter aufsteigen konnten, weil ihre Mutter ihnen das Ethos von Leistungsbereitschaft und Arbeitsdisziplin vorlebte. Ihre Geschichte ließe sich als Komödie, als Tragödie oder Farce erzählen. In jedem Fall handelt es sich um eine Geschichte, in der Armut, Arbeit, Gewalt und die Härte der Ereignisse sich immer wieder gegen das Subjekt dieser Geschichte, gegen meine Mutter also, zu verbünden scheinen.

Wir alle sind das Produkt unserer Herkunft, und diese Herkunft ist ein komplexes Gefüge aus Elternhaus, Milieu, Schichtzugehörigkeit, Klasse und der zufälligen zeitlichen Verankerung in einem historischen Abschnitt. Meine Mutter wurde in eine arme, kinderreiche, bildungsferne Familie geboren. Ihre Herkunft prägte ihre Lebensentscheidungen mit einer Selbstverständlichkeit, die nicht ohne Weiteres hinterfragt werden kann.

Herkunft ist etwas, das sich uns einschreibt. Sie markiert nicht einfach den Ausgangspunkt unserer eigenen Biografie und unseres Lebensweges, sie ist gleichsam auch ein Gepäck, das wir mit uns herumschleppen. Manche Menschen wollen nichts sehnlicher, als sich von ihrer Herkunft lösen. Für andere markiert Herkunft einen Halt, einen Platz in der Welt, eine sichere Bank. Viel wird die Nase gerümpft über identitätspolitische Verortungen, die auf Herkunft — gemeint ist damit selten die Klasse, vielmehr die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Kultur oder (gewählten) Community — abzielen, dabei bietet sie ein Sicherheitsnetz in Zeiten der Verunsicherung. Identitätspolitik ist nicht nur das, was People of Colour oder Queers betreiben. Je unübersichtlicher und komplexer die gesellschaftlichen Verhältnisse, desto größer ist das Bedürfnis, sich einer Gruppe, einem Stamm, einer Fraktion zuzuordnen: den jungen Ostdeutschen, queeren Migranten oder Schwarzen2 Akademikerinnen.

Seit Jahren nun tobt ein Richtungsstreit zwischen traditionell marxistischer Linker und der »neuen Linken«, wie Vertreter von Identitätspolitik bezeichnet werden. Letzteren wirft man vor, sie würden sich nicht mehr für soziale Gerechtigkeit interessieren, sondern nur noch Luxusanliegen der westlichen Mittelschichten verhandeln. Unter dem Label Identitätspolitik wird je nach politischer Couleur alles subsumiert, was Frauen, Homosexuelle, Queers,...

Erscheint lt. Verlag 22.8.2022
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Abstiegsangst • alleinerziehend • Annie • Arbeiter • Armut • Aufstieg • bildungsfern • Bürgerlichkeit • Chancengleichheit • Christian Baron • Deutschland • Dirk Oschmann • Ernaux • Familie • Feminismus • Geschlecht • Gesellschaft • Grenzgängerin • Habitus • Helikoptermutter • Herkunft • Identität • Identitätspolitik • Kapitalismus • Katja Hoyer • Kindheit • Klasse • Klassenbewusstsein • Klassenfrage • Klassengesellschaft • Kommunismus • Linke • Mentalität • Mittelschicht • Mutter • Mutterschaft • #ohnefolie • ohnefolie • Ostalgie • Pegida • Pöbel • Politik • prekär • Putzfrau • rechts • Schicht • Spaltung • Unterschicht • Unterschied • Wende • West • Zugehörigkeit
ISBN-10 3-446-27577-0 / 3446275770
ISBN-13 978-3-446-27577-5 / 9783446275775
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