Die unerzählte Geschichte (eBook)
352 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-01229-5 (ISBN)
Vera Weidenbach, 1990 geboren, studierte Philosophie, Biologie und Politik und besuchte die Deutsche Journalistenschule. Sie ist freie Journalistin und Kolumnistin. Als Reporterin berichtet sie für table.briefings über Bundespolitik und den Nahostkonflikt. Zuvor war sie im ARD-Hauptstadtstudio in Berlin tätig, hat Nachrichten gesprochen und macht Podcasts. Zusammen mit ihren Kollegen von der Produktionsfirma ikone media wurde sie 2020 für den Podcast «Affäre Deutschland» mit dem Reporterpreis ausgezeichnet. Ihr erstes Buch «Die unerzählte Geschichte» erschien 2022 im Rowohlt Verlag.
Vera Weidenbach, 1990 geboren, studierte Philosophie, Biologie und Politik und besuchte die Deutsche Journalistenschule. Sie ist freie Journalistin und Kolumnistin. Als Reporterin berichtet sie für table.briefings über Bundespolitik und den Nahostkonflikt. Zuvor war sie im ARD-Hauptstadtstudio in Berlin tätig, hat Nachrichten gesprochen und macht Podcasts. Zusammen mit ihren Kollegen von der Produktionsfirma ikone media wurde sie 2020 für den Podcast «Affäre Deutschland» mit dem Reporterpreis ausgezeichnet. Ihr erstes Buch «Die unerzählte Geschichte» erschien 2022 im Rowohlt Verlag.
Es ist Zeit für eine andere Geschichtsschreibung
Frauen haben schon immer die Welt verändert. Sie haben große Erfindungen gemacht. Sie haben gerechnet und geforscht. Sie haben Weltliteratur geschrieben und neue Epochen in der Kunst eingeläutet. Die Namen dieser Frauen kommen in den Geschichtsbüchern allerdings nicht vor. Frauen sind nicht nur in der Datenbasis unsichtbar, von der unsere Welt immer mehr abhängt, sondern ebenso in der Geschichte. In Wahrheit hat nicht Walt Disney den Zeichentrickfilm erfunden, sondern eine Frau. Es waren auch Frauen, die die DNA, das erste Computerprogramm und die Kernspaltung beschrieben haben. Eine Frau hat die Bildhauerei der Moderne geprägt, und ebenso war es eine Frau, die die Stimmen der kleinen Leute in die weltberühmten Theaterstücke von Bertolt Brecht gebracht hat.
Ich schreibe die Geschichte nicht um. Ich erfinde nichts dazu, sondern halte mich an die Fakten. Es ist also immer noch die gleiche Geschichte, und doch könnte sie uns wie eine andere vorkommen. Denn in dieser Geschichte treten die altbekannten Persönlichkeiten in den Hintergrund, von denen wir bislang angenommen haben, sie seien die entscheidenden, prägenden Gesichter unserer modernen Welt. Wir kennen sie von den Fluren der Universitäten und den Rathäusern: diese weißen Köpfe von Männern, die Wichtiges getan haben. Schnurrbart reiht sich an Schnurrbart. Ihre unerschütterlichen Nachnamen: Kant, Marx, Darwin. In diesem Geschichtsbuch sehen wir andere, die handeln, die uns die Welt erklären, die versuchen, sie zu interpretieren und zu beschreiben – es sind Frauen.
Unser kulturelles Gedächtnis ist ein Männergedächtnis. Im doppelten Sinn: zum einen, weil es überwiegend an Männer erinnert. Zum anderen, weil auch die Kategorien, nach denen darin Anerkennung zugesprochen wird, von Männern festgelegt wurden. Männer haben entschieden, wer ein großer Denker, ein großer Schriftsteller, ein großer Maler genannt wird. Wer groß genug ist, um neue Epochen einzuläuten und Zeiten zu wenden.
Frauen, die es bisher in diesen Kanon geschafft haben, schafften das auch, weil Männer über sie sagten, sie würden schreiben oder denken «wie Männer» oder zumindest nicht wie Frauen. Normalerweise kennen wir die Namen von Frauen in der Geschichte, weil sie Liebhaberinnen, Mitarbeiterinnen oder Musen von Männern waren. Oder wir kennen sie als absolute Ausnahme von der Regel – wie Jeanne d’Arc oder Marie Curie. Solche Ausnahmefrauen haben zwei Funktionen: Auf der einen Seite sollen sie beschwichtigen – wie alle Quotenfrauen. Auf der anderen Seite sind sie so außerordentlich, dass sie nicht mehr normal sein können. Sie zeigen: Frauen, die es in die Weltgeschichte schaffen, sind etwas, das natürlicherweise nicht vorkommt. Was bloß nicht entstehen soll, ist der Eindruck, dass Frauen genauso klug und stark sind wie Männer und es schon immer waren, egal, wie wenig sie durften. Dass es in allen Disziplinen, der Wissenschaft, der Kunst, der Musik, der Literatur, schon immer Frauen gab, die genauso Standards gesetzt haben wie Männer. Nur hat es eben niemand so genannt.
Ich hätte über alle Epochen und Zeiten schreiben können. Denn egal, in welchem Jahrhundert – große Frauen finden sich überall, wenn man einmal anfängt, danach zu suchen. Ich hätte bei der Steinzeit anfangen können; der Mensch ist ein Jäger und Sammler, lernen wir in unseren Biologiebüchern. Schon hier kommen Frauen nur am Rande vor, in den Höhlen und am Feuer mit einem Baby an der Brust. Dabei sagt uns die Wissenschaft schon lange etwas anderes[1].
Es gibt Knochenfunde, die belegen, dass Frauen ebenso auf die Jagd gegangen sind wie Männer. Dass sie auch draußen unterwegs waren und gegen wilde Tiere kämpften. Aber das ist nicht die Geschichte, die wir in der Schule lernen und die wir immer und immer wieder abbilden. Wir denken, diese Bilder von der heteronormativen Steinzeitfamilie beruhen auf Fakten, auf objektiver wissenschaftlicher Erkenntnis. Aber in Wahrheit wissen Archäologen sehr wenig darüber, wie Menschen in der Steinzeit gelebt haben. Klar ist, dass es sehr viele verschiedene Gesellschaftsformen gegeben hat; die Theorie der Jäger und Sammler stammt von männlichen europäischen Wissenschaftlern aus dem neunzehnten Jahrhundert.
Unsere Vorstellungen davon, wie Männer und Frauen sich vermeintlich natürlich verhalten, sind mächtig. Jungen werden zu Abenteurern, die sich zwischendurch mal prügeln müssen, und Mädchen sollen nett sein und mit Puppen spielen. Das alles hängt miteinander zusammen und beeinflusst tief in uns, wie wir über uns selbst in der Welt sprechen und uns unsere Rolle und Aufgabe darin vorstellen.
Ich werde hier allerdings nicht viel mehr von der Steinzeit erzählen. Ich schreibe in diesem Buch über die Zeit, in der die Welt entsteht, wie wir sie heute kennen. Es ist die Zeit, in der alles anfängt, immer schneller zu werden. In der die Menschen beginnen zu glauben, dass Technik und Wissenschaft unser Leben besser machen und uns vorwärtsbringen. In der alles von dieser Vorwärtsbewegung erfasst wird, nur, um zweimal in riesigen Katastrophen zu enden – in Krieg und Zerstörung. Trotzdem geht es danach wieder weiter, es geht immer vorwärts.
Dieses Vorwärts wurde nicht nur von Männern vorangetrieben, wie man bei einem schnellen Blick in die Geschichtsbücher denken könnte, sondern es wurde maßgeblich von Frauen beeinflusst. Es war eben nicht so, dass die Männer draußen unterwegs waren, die Welt verändert, Kriege angezettelt, andere Staaten und Völker unterworfen haben, während das Leben der Frauen vor allem drinnen stattfand. Nicht nur Männer waren Jäger des Fortschritts, sondern auch Frauen. Und bemerkenswerte Frauen haben auch nicht vor allem für Emanzipation und Frauenrechte gekämpft, sondern die Kunst, Medienwelt, Politik und Wissenschaft für uns alle vorangetrieben, auch für die Männer.
Die Moderne ist die Zeit, in der alle Sicherheiten und Werte verloren gehen. Gott ist tot, und es ist noch nicht entschieden, was an seine Stelle tritt. Das Subjekt ist plötzlich auf sich alleine gestellt und mit der ganzen Situation ziemlich überfordert. Und doch muss es versuchen, die Welt neu zu deuten.
Der Mensch ist das einzige Tier, das von Ideen, Überzeugungen oder Glauben angetrieben wird und handelt, das für solche Ideen bereit ist, zu sterben und zu töten. Die Geschichte der Moderne kann deshalb als ein ständiger Widerstreit von Ideen erzählt werden. Als Bewegung und Gegenbewegung. Als Widerstand und in neuen Strömungen.
Die Geschichte der westlichen Welt verehrt ihre Helden meistens wegen ihrer Macht und ihres Einflusses, wegen ihres Genies und ihrer Originalität. Um Erfolg zu haben, musste in dieser Geschichte erobert und dominiert werden. Groß ist darin nur, wer niemanden neben sich hat. Aber das bedeutet immer, dass Andere dafür kleingemacht werden oder ganz verschwinden müssen. Es ist kein Zufall, dass ich in diesem Buch viele Geschichten von genau diesen Anderen erzähle.
Dadurch wird die Geschichte der Moderne zur Reise eines Antihelden. Antihelden haben keine übernatürlichen Fähigkeiten. Sie sind normale Menschen mit Fehlern. Sie sind nicht stärker als wir und nicht schlauer oder schöner. Deshalb mögen wir sie auch meistens gern. Der Antiheld in diesem Buch ist die Frau. Über die Jahrhunderte ist sie immer wieder gescheitert – wie es sich für Antihelden gehört. Sie wurde vergessen und übergangen, sie wurde ausgelacht und kleingeredet. Und ihre Stärke liegt darin, dass sie trotzdem weitergemacht hat. Dieses Buch feiert seine Protagonistinnen, weil sie die Welt verändert haben, und nicht, weil ihnen am Ende jemand eine Medaille überreicht hätte. Es stellt damit die Maßstäbe infrage, nach denen wir in der Vergangenheit Ruhm verteilt haben. Denn wir werden sehen: Nicht diejenigen, die am Ende die Preise gewonnen haben, haben sie auch wirklich am meisten verdient.
Geschichte wird von denjenigen bestimmt, die sie erzählen und deuten. In der Vergangenheit waren das vor allem weiße Männer, die vor allem die Geschichten von Männern erzählt haben. Sie haben es immer mit einer bestimmten Absicht getan: um die Macht und den Einfluss der herrschenden Gruppe zu sichern. Und aus dem gleichen Grund haben sie andere Geschichten nicht erzählt, oder nicht komplett oder anders, als man sie hätte erzählen können.
Wenn wir heute versuchen, Frauen einen Platz in der Geschichte zu geben, passiert das meistens, indem wir gleich dazusagen, dass sie es als Frau geschafft haben. Was daherkommen soll wie eine besondere Würdigung, ist in Wirklichkeit die Verfestigung einer Zweiklassengeschichte. Als hätten Frauen ohnehin nie in der gleichen Liga gespielt wie Männer. Als hätten sie wegen ihres Geschlechts anders gerechnet oder gemalt und nicht, weil jeder große Künstler ohnehin anders malt und jeder Mensch ohnehin anders denkt als ein anderer, weil er eben ein anderer Mensch ist.
Es gibt keine getrennte Frauen- und Männergeschichte. Die ganze Geschichte ist unsere Geschichte, in der Frauen endlich einen angemessenen Platz erhalten müssen. Das schaffen wir nicht, indem wir versuchen, die Leistungen von Frauen an die Maßstäbe anzupassen, die Männer gesetzt haben, denn es ist Zeit, andere Kategorien für Helden zu erschaffen. Helden, für die andere Menschen nicht getötet, versklavt oder unterworfen werden mussten. Die Frage ist auch: Welche Vorbilder wollen wir haben?
Geschichte beeinflusst unseren Blick auf die Welt und wie wir uns darin sehen. Wir stricken unsere Geschichte aus handelnden...
Erscheint lt. Verlag | 13.9.2022 |
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Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | Bauhaus • Beklaute Frauen • Benachteiligung • Bertolt Brecht • Cecilia Payne-Gaposchkin • Clara Immerwahr • Emanzipation der Frau • Feminismus • Frauen • Gleichstellung • good night stories for rebel girls • Kulturgeschichte • Leonie Schöler • Lise Meitner • Lotte Reiniger • Lucia Moholy • Margarete Steffin • Naturwissenschaften • Nellie Bly • rebel girls • Rosetta Tharpe • Soziologie • Starke Frauen • Unsichtbare Frauen • Walt Disney |
ISBN-10 | 3-644-01229-6 / 3644012296 |
ISBN-13 | 978-3-644-01229-5 / 9783644012295 |
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