Die Akademie meines Lebens (eBook)
320 Seiten
Piper Verlag
978-3-492-60216-7 (ISBN)
Matze Hielscher ist Mitbegründer des erfolgreichen digitalen Stadtmagazins Mit Vergnügen. Seit 2016 geht er außerdem im Hotel Matze und in weiteren Formaten seiner großen Podcast-Leidenschaft nach. Matze Hielscher wuchs in einem Dorf in Brandenburg auf und war früher Bassist der Indieband Virginia Jetzt! Heute lebt er mit seiner Frau, seinem Sohn und Hund Brinkmann in Berlin.
Matze Hielscher ist Mitbegründer des erfolgreichen digitalen Stadtmagazins Mit Vergnügen. Seit 2016 geht er außerdem im Hotel Matze und in weiteren Formaten seiner großen Podcast-Leidenschaft nach. Matze Hielscher wuchs in einem Dorf in Brandenburg auf und war früher Bassist der Indieband Virginia Jetzt! Heute lebt er mit seiner Frau, seinem Sohn und Hund Brinkmann in Berlin.
EINE EINLADUNG
Das neue Jahr hatte gerade erst angefangen, aber es knallte mir schon mit voller Wucht vor die Füße. Den geplanten Urlaub hatte uns das Auswärtige Amt ausgeredet, die Auszeit wurde von unvorhergesehenen Terminen geschluckt. Meiner Familie fiel im Lockdown die Decke so richtig auf den Kopf. Die Firma hatte das erste Coronajahr zwar wirtschaftlich überlebt, aber meine Kollegen und Kolleginnen waren emotional komplett runtergebrannt. Und dann war da noch die Außenwelt. Immer, wenn ich schaute, was jenseits meiner Welt passierte, brüllte mir ein Geschehnis-Tsunami aus verhärteten Meinungen, hirnrissigen Verschwörungstheorien und panischen Überschriften entgegen. Einerseits wusste ich, dass es mir im Vergleich zu den Menschen, die ihre Liebsten oder ihre Existenz verloren hatten, noch gut ging, andererseits musste auch ich die Tür nach außen schließen, gut verriegeln und versuchen, möglichst wenig davon an mich ranzulassen.
Seit Monaten hatte ich keine Sonne gesehen. Die einfachsten Fragen konnte ich nicht mehr beantworten. Zum Beispiel: Wie geht’s dir, Matze? Wann treffen wir uns mal? Und sonst so? Ich hatte mich viel zu lange nicht mehr bei Freundinnen und Freunden oder bei meiner Familie gemeldet. Ich war von allem überfordert. Wo war er, der ausgeglichene Matze? Der saß am Schreibtisch und starrte vor sich hin, während in ihm der Wunsch wuchs, dass das Leben doch bitte wieder etwas unkomplizierter werden sollte. Obwohl ich Veränderungen zumeist offen entgegentrete, hatte ich eine große Sehnsucht, dass es sich wieder leicht, sich bitte wieder einfach anfühlen sollte.
Im Frühjahr fuhr ich für ein paar Tage aufs Land. Ich musste raus, ich musste allein sein. Mein Smartphone, das längst Bildschirmzeiten jenseits aller Rechtfertigungsmöglichkeiten erreicht hatte, ließ ich zu Hause. Auch meinen Laptop und sämtliche anderen internetfähigen Geräte. In meinem Rucksack war ein Buch, in das ich schreiben, eins, das ich lesen konnte, und ein paar Klamotten. Schön einfach.
Am dritten Morgen zog ich mir meine Laufschuhe an und lief los. Durch den knorrigen Wald, den ich schon kannte, vorbei am Fluss, über die Landstraße zum See, einmal Hallo sagen und wieder zurück. Ich war so in Gedanken versunken, dass ich die Abzweigung zu meiner Unterkunft verpasste. Egal. Ich lief weiter, schließlich konnte ich mich am Seeufer orientieren und würde einfach die nächste Möglichkeit zurück nehmen. Doch die kam und kam nicht, und so bog ich ungeduldig irgendwann ab, lief über eine Anhöhe und landete im Wald. Ich versuchte die Himmelsrichtung, aus der ich ursprünglich gekommen war, zu erahnen. Zwischen den Bäumen entdeckte ich endlich ein paar Autos. Super, das musste die Landstraße sein, die mich zurückführen würde. Ich lief minutenlang weiter, nichts kam mir bekannt vor. Endlich hielt ein Auto, abgehetzt fragte ich nach dem Gutshof. Die Fahrerin schaute mich mitleidig an und zeigte in die Richtung, aus der ich und sie gerade gekommen waren. Ich sollte immer geradeaus und an der zweiten Möglichkeit dann links laufen. »Aber es ist wirklich sehr weit.«
Und das war es. Ich hatte mich komplett verlaufen. Mein Kopf versuchte, meinen Fehler nachzuvollziehen, unmöglich in diesem Moment und vor allem sinnlos. Ich ärgerte mich über mich selbst, darüber, dass ich nicht aufgepasst hatte, dass ich kein Handy mitgenommen hatte, aber vor allem darüber, dass ich ohne Handy anscheinend gar nicht mehr in der Lage war, mich zu orientieren. In fucking Brandenburg!
Nach ein paar Hundert Metern, vielleicht war es auch ein Kilometer, flogen diese Gedanken nach und nach davon. Ich nahm die Situation stoisch an, lief nur noch vor mich hin, und es stellte sich etwas ein, was ich ganz lange nicht mehr gefühlt hatte: eine Befreiung, eine Akzeptanz der Situation und meiner selbst. Ab und zu überholte mich ein Auto, und irgendwann war ich so high vom Laufen, dass ich die Arme ausbreitete und ein paar Meter mit geschlossenen Augen rannte.
Ich musste an ein Gespräch mit Ferdinand von Schirach denken, das ich vor einem Jahr in meinem Podcast Hotel Matze geführt hatte. Der Autor sagte ganz am Ende, dass es die einfachen Antworten nicht gibt und dass es sie auch nie gegeben hat. Ich konnte mir noch so sehr wünschen, dass das Leben wieder weniger kompliziert würde – es würde nicht passieren. Der Philosoph Markus Gabriel bringt es auf den Punkt, indem er sagt: »Du musst dein Leben verkomplizieren.« Man braucht sich gar nicht anzustrengen, man kann die immer größer werdende Komplexität im Außen nicht verringern. Und dann fiel mir noch die Ökonomin Maja Göpel ein, mit der ich eine Woche vor meiner Auszeit geredet hatte. Sie spricht von der Ambiguitätstoleranz, vom Aushalten der inneren Widersprüche.
Und aushalten, das musste ich jetzt auch. Nach über zweieinhalb Stunden war ich wieder zurück am Gut Wendgräben. Ich war fix und fertig, aber so froh darüber, dass ich mich verlaufen hatte. Dieser zu einem Vormittag ausgedehnte Morgen zählt zu den schönsten Stunden des ganzen Jahres 2021. Ich hatte mich lange nicht mehr so leicht gefühlt.
In den folgenden Monaten strebte ich bewusst danach, gerade in meinem Podcast häufiger Zeit mit Menschen zu verbringen, die meine Perspektive erweiterten. Mein Anspruch war es schon immer, möglichst nah an meine Gäste heranzukommen. Das wollte ich noch vertiefen. Statt meinem Wunsch nach Vereinfachung nachzugeben, hielt ich fortan nach Perspektiven Ausschau, die meinen Vorhang zur Welt möglichst weit aufziehen sollten. Die Gespräche wurden länger, vielseitiger und tiefgründiger. Nach manchen Begegnungen fühlte es sich so an, als wäre ich mit dem jeweiligen Gast an jenem Morgen gemeinsam im Wald gewesen, denn auf ganz ähnliche Weise fühlte ich mich erschöpft und gleichzeitig energetisiert. Ich habe nie mein Abitur gemacht, Universitäten und Akademien habe ich immer nur am Tag der offenen Tür und bei Partys von innen gesehen. Aber ich stelle mir vor, dass gute Seminare und Vorträge genauso sind, wie ich es oft im Hotel Matze erlebe.
Ich bin Matze Hielscher, bei Buchabgabe 42 Jahre alt, und lebe mit meiner Familie in Berlin. Meine Schulzeit verlief alles andere als optimal. Der schönste Tag in meiner Jugend war der letzte Schultag, das sagen viele, aber ich bin dabei geblieben. Ich war dann elf Jahre Bassist bei der Band Virginia Jetzt!, habe nach der Trennung das Medienhäuschen Mit Vergnügen mitgegründet und 2016 meinen Interview-Podcast Hotel Matze gestartet. Während eines Sabbaticals stellte ich fest, dass die Gäste zu den besten Lehrerinnen und Lehrern meines Lebens gehören. Durch sie habe ich so viel über die Welt, die Menschen, die Kunst, das Leben und über mich selbst erfahren. Die Kinderrechtsaktivistin Marian Adleman sagte einmal: »You can’t be, what you can’t see.« Ich sehe am deutlichsten durch andere Menschen, was möglich scheint, ich sehe in ihnen Wegweiser, Warnschilder und Utopien. Vor zwei Jahren ist aus den Erkenntnissen und Notizen mein erstes Buch Die Schule meines Lebens entstanden.
Wie damals habe ich mich zum Beginn dieses Jahres zurückgezogen, die vielen Gespräche noch einmal angehört und mich gefreut, tiefer einzutauchen, zu reflektieren und neu zu erkunden, denn vieles fing an zu verblassen, und einiges hatte ich sogar schon vergessen. Beim Abhören der Gespräche habe ich einen Tick bei mir entdeckt. Immer dann, wenn ich ein tiefes »Mmmh« von meiner Seite gehört habe, konnte ich mir einen Marker setzen, ich wusste, da war ein Erkenntnisgewinn.
Genau diese Erkenntnisgewinne sind der Grund, warum die Gespräche im Hotel Matze so wertvoll für mich sind und warum mich der Podcast auch nach 200 Gesprächen überhaupt nicht langweilt. Im Gegenteil, ich habe sogar das Gefühl, dass es jetzt erst richtig interessant wird.
In diesem Buch sammle ich die Erkenntnisse der letzten zwei Jahre, die für mich die eindrücklichsten neuen Perspektiven eröffnet haben. Es sind Begegnungen, die mir den Menschen als verdammt kompliziertes Wesen nähergebracht haben. Es sind Begegnungen mit dem Tod, der Natur, mit dem Glauben, der Liebe, der Kunst, mit Pferden, einem Hund und meinen eigenen Verhaltensweisen und Mustern. Die Menschen, von denen sie kommen, sind ziemlich außergewöhnliche und komplexe Wesen. Sie stehen im Scheinwerferlicht, weil ihr Talent, ihre Ambitionen und eine gewisse Portion Glück sie dahin gebracht haben. Es...
Erscheint lt. Verlag | 29.9.2022 |
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Zusatzinfo | Mit 22 Schwarz-Weiß-Abbildungen |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | Achtsam leben • Alice Hasters • Andrea Petkovic • Ängste bewältigen • Anke Engelke • Benjamin von Stuckrad-Barre • buch zum podcast • Campino • Carolin Kebekus • Daniel Brühl • Entscheiden • Eva Schulz • Fahri Yardim • Farin Urlaub • Felix Lobrecht • Ferdinand von Schirach • Hartmud Rosa • Hotel Matze • Hotel Matze Podcast • Jan Frodeno • Joko Winterscheidt • Juli Zeh • Kreativ leben • Leon Windscheid • Mai Thi • Maja Göpel • Margarete Stokowski • Marie Bäumer • Markus Gabriel • Matthias Schweighöfer • Mediation • Mit Vergnügen • Mit Vergnügen Berlin • Mit Vergnügen Hamburg • Mit Vergnügen Köln • Mit Vergnügen München • Mit vergnügen Podcast • neuer Blickwinkel • Olaf Scholz • Podcast • riccardo simonetti • Robert Habeck • Sascha Lobo • SPIEGEL-Bestseller • Thilo Mischke • Toni Kroos • Tupoka Ogette • Vom Leben gelernt |
ISBN-10 | 3-492-60216-9 / 3492602169 |
ISBN-13 | 978-3-492-60216-7 / 9783492602167 |
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